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Wieder ein "Versehen"

Akte "Blood&Honour" beim Berliner Verfassungsschutz rechtswidrig vernichtet. Behördenchefin sieht keine Anhaltspunkte für Bezug zu neofaschistischer Terrorgruppe NSU

Von Claudia Wangerin *

Eine weitere rechtswidrige Aktenvernichtung beim Berliner Verfassungsschutz ist am Dienstag bekannt geworden. Den Vorgang »Blood&Honour« im Bereich Rechtsextremismus zu schreddern, sei bereits im Juli 2010 angeordnet worden, sagte Behördenchefin Claudia Schmid am Dienstag in Berlin. Die Akten seien von einer oder zwei Mitarbeiterinnen vernichtet worden, ohne vorher dem Landesarchiv vorgelegt zu werden. Wann genau sie geschreddert wurden, sei unklar. Sie selbst habe bereits im August 2012 von diesem »bedauerlichen Versehen« erfahren, sagte Schmid. Innensenator Frank Henkel (CDU) sei von ihr erst am Montag dieser Woche informiert worden. Zuvor habe sie die Brisanz nicht erkannt, weil der Vorgang weit vor der Aufdeckung der rechtsextremen Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) lag, begründete die Verfassungsschutzchefin ihr langes Schweigen. Anhaltspunkte für einen NSU-Bezug in den vernichteten Akten gibt es nach ihren Worten zur Zeit nicht – obwohl personelle Verstrickungen zwischen »Blood&Honour« und der NSU-Helferszene bereits bekannt sind. Daß der V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes, Thomas Starke, der das mutmaßliche Kerntrio des NSU kannte, ein ehemaliger »Blood&Honour«-Funktionär war, ist nach Schmids Logik kein Anhaltspunkt. Auch nicht, daß der bewaffnete Arm des 2000 in Deutschland verbotenen »Blood&Honour«-Netzwerks, Combat 18, schon vor Jahren ein »Feldhandbuch« verbreitete und für bewaffnete Aktionen kleiner Zellen warb – Anleitungen, die wie eine Blaupause für den NSU wirken.

Schmid kündigte am Dienstag an, der von Henkel eingesetzte Sonderermittler Dirk Feuerberg werde jetzt klären, wer wann was getan habe und warum die Akten nicht dem Archiv vorgelegt wurden. Außerdem werde versucht, sie zu rekonstruieren.

Laut Landesarchivgesetz sind alle Berliner Behörden verpflichtet, sämtliche Unterlagen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr benötigt werden, in der Regel spätestens 30 Jahre nach ihrer Entstehung auszusondern und unverändert dem Archiv anzubieten, soweit nicht Rechtsvorschriften andere Fristen bestimmen. Erst Anfang November war bekannt geworden, daß in der Behörde im Juni Akten im Bereich Rechtsextremismus geschreddert wurden, die zur Aufbewahrung im Landesarchiv vorgesehen waren – auch dies angeblich aus Versehen. Zu möglichen personellen Konsequenzen wollte sich Schmid am Dienstag nicht äußern.

Der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, hält vergleichbare Taten wie die Mordserie des NSU auch in Zukunft für möglich. »Ausschließen dürfen wir nach den Erfahrungen mit dem NSU nichts mehr«, sagte Ziercke am Dienstag in Wiesbaden. Nach Darstellung von Ziercke sind »erhebliche handwerkliche Fehler« der Grund, warum die Terrorgruppe knapp 14 Jahre unbehelligt agieren konnte. Die Polizei sei nicht auf dem rechten Auge blind, betonte Ziercke. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) ist dagegen sicher: Einige, womöglich alle Morde des NSU hätten verhindert werden können – »mit der nötigen Sensibilität und Professionalität bei Polizei und Justiz«, sagte Stahlknecht der Mitteldeutschen Zeitung (Dienstagausgabe). Er bezog sich dabei auf Berichte über das untergetauchte Trio in der vertraulichen Zeitschrift des Bundesamtes für Verfassungsschutz, BfV aktuell, von 1998 und 2000.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 14. November 2012


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