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Henkel sagt sorry zu NSU-Pannen

Opposition kritisiert Senator im Innenausschuss scharf, neue Fakten zum V-Mann

Von Martin Kröger *

Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) räumte gestern in der NSU-V- Mann-Affäre Fehler ein. »Ich bedaure zutiefst, die Mitglieder des Untersuchungsausschusses des Bundestages zur NSU nicht früher über die wichtigen Berliner Informationen in Kenntnis gesetzt zu haben«, sagte Henkel in einer Sondersitzung des Innenausschusses des Abgeordnetenhauses. Noch am Dienstagmorgen wurden die Akten zu den Vorgängen um den V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes und NSU-Unterstützer Thomas S. an den Bundestagsuntersuchungsausschuss weitergeleitet. Auch die Abgeordneten des Berliner Innenausschusses sollen die Akten einsehen dürfen.

Der wegen der Affäre um den ehemaligen V-Mann schwer unter Druck stehende Innensenator sagte gestern jedoch nicht nur quasi »sorry« zu den NSU-Pannen mit Berlinbezug, sondern er versuchte auch, wieder in die Offensive zu kommen. So will Henkel trotz massiver Kritik weiter einen eigenen Sonderermittler zu der Berliner Verbindung zum rechtsextremen »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) einsetzen. Dazu sei er in Gesprächen mit unabhängigen Persönlichkeiten. Heftig verwahrte sich Henkel gegen den Vorwurf der Oppositionsparteien, am vergangenen Donnerstag mit seiner Aussage, ebenfalls von den Vorgängen um Berliner NSU-Spuren überrascht worden zu sein, im Abgeordnetenhaus gelogen zu haben. Dass die Berliner Behörden ihre Informationen zum im NSU-Komplex Beschuldigten Thomas S. so lange zurückhielten, begründete Berlins Innensenator gestern mit der Bitte der Generalbundesanwaltschaft, Informationen nicht weiterzugeben, um laufende Ermittlungen zum NSU-Komplex nicht zu vereiteln.

Henkel blieb gestern ebenfalls bei seiner Aussage, zum ersten Mal am 9. März dieses Jahres vom V-Mann Thomas S. gehört zu haben. Laut Polizeivizepräsidentin Margarete Koppers hatte das LKA Thomas S. im November 2000 im Zuge eines Verfahrens zur rechtsextremen Musikband »Landser« angeworben, um mehr über die Rechtsrock-Szene zu erfahren. Insgesamt 38-mal traf sich S. mit seinem V-Mann-Führern bis ins Jahr 2009, als er aufhörte, Informationen zu liefern. Endgültig abgeschaltet wurde S. allerdings erst im Januar 2011. Während seiner Spitzelzeit lieferte S. unter anderem am 13. Februar 2002 Hinweise auf einen Jan W. in Thüringen, der zu drei wegen Waffen- und Sprengstoffbesitz Gesuchten Kontakt habe, wie S. berichtete. Damit war, wie man heute weiß, das abgetauchte NSU-Trio um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gemeint.

Dass die Polizeiführung Sachverhalte verschleiern wolle, wies Vizepolizeipräsidentin Margarete Koppers scharf zurück. Dennoch gab es Hinweise darauf, dass das Berliner Landeskriminalamt bereits seit Dezember 2011 von den heiklen Verbindungen seines Ex-V-Mannes zum NSU wusste.

Die Opposition aus LINKE, Grünen und Piraten überzeugten die Rechtfertigungen der Polizeiführung und des Innensenators indes wenig. »Es gibt viele offene Fragen«, sagte der Grünen-Abgeordnete Benedikt Lux. Man stehe noch ganze am Anfang der Aufklärung. Auch die LINKE nahm dem Innensenator seine Ankündigung für eine »lückenlose« Aufklärung nicht ab. »Nach einem halben Jahr maximalen Aufklärungswillen zu zeigen ist dünne«, sagte Udo Wolf. Der LINKE-Fraktionschef blieb dabei: Spätestens im März hätte Henkel seine Informationen sofort an den Untersuchungsausschuss und die innenpolitischen Sprecher im Abgeordnetenhaus weiterleiten müssen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. September 2012


Henkel sucht Notausgang

Berliner Innensenator rechtfertigte sich bei Sondersitzung des Innenausschusses. Landesregierung könnte seit Dezember 2011 vom Neonazi-V-Mann der Hauptstadtpolizei gewußt haben.

Von Sebastian Carlens **


Verschwieg der Berliner Innensenator Erkenntnisse gegenüber dem Bundestagsausschuß zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU)? Nach schweren Vorwürfen hat Frank Henkel (CDU) am Dienstag in einer Sondersitzung des Innenausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses Stellung nehmen müssen. Der Chemnitzer Neonazi Thomas Starke, der den späteren mutmaßlichen NSU-Terroristen konspirative Quartiere und über ein Kilogramm Sprengstoff beschafft haben soll, wurde bereits Ende 2000 vom Berliner Landeskriminalamt (LKA) als »Vertrauensperson« geworben. In seiner elfjährigen Zeit als Informant machte er mehrfach Angaben zum Aufenthaltsort der NSU-Mitglieder. Nach einem Hinweis Starkes aus dem Jahr 2002, nach dem der Produzent der neofaschistischen Band »Landser«, Jan Werner, Kontakt zum NSU-Trio halte, hätten die damals teilweise steckbrieflich gesuchten Neonazis möglicherweise dingfest gemacht werden können – mehrere Morde, die heute dem NSU zugerechnet werden, wären damit eventuell verhindert worden.

Spätestens seit März 2012 soll Henkel gewußt haben, daß mit Starke einer der mutmaßlichen NSU-Unterstützer im Sold der eigenen Polizei stand. Am 8. März will die Vizepolizeipräsidentin Berlins, Margarete Koppers, darüber informiert worden sein; einen Tag später habe sie den Innensenator selbst in Kenntnis gesetzt. Rund zwei Wochen später sei sie nach Karlsruhe zur Bundesanwaltschaft gereist, um die Erkenntnisse an den ermittelnden Bundesanwalt weiterzureichen, teilte Koppers dem Innenausschuß mit. Es sei Generalbundesanwalt Harald Range selbst gewesen, der darum gebeten habe, die Berliner Erkenntnisse nicht an den Bundestagsausschuß weiterzuleiten, rechtfertigte sich Henkel: Der Spitzel Starke hätte sich im Gespräch persönlich gefährdet gefühlt: »Dies entsprach und entspricht auch der polizeilichen Lageeinschätzung«, sekundierte Koppers.

Kurz vor der Ausschußsitzung war allerdings bekanntgeworden, daß die politisch Verantwortlichen Berlins bereits deutlich früher Kenntnis vom LKA-Spitzel besessen haben könnten: Laut der Nachrichtenagentur dpa hatte das Bundeskriminalamt bereits im Dezember 2011 beim Berliner LKA Informationen zu Starke angefordert. Auf diese Anfrage habe das LKA jedoch lediglich mitgeteilt, daß er im Jahr 2000 Beschuldigter im Verfahren um die inzwischen verbotene Neonaziband »Landser« gewesen sei; seine V-Mann-Tätigkeit wurde verschwiegen. Im Jahr 2000 jedoch packte Starke das erste Mal gegenüber den Ermittlern aus und wurde als V-Mann gedungen. Ein Protokoll seiner Vernehmung fand sich bizarrerweise im Schutt des niedergebrannten Zwickauer Verstecks des NSU wieder, berichtete das Neue Deutschland am Samstag – die Terrorzelle wußte also längst, daß ihr einstiger Abtauchhelfer mit der Polizei kooperierte.

Die Affäre Starke ist mit Henkels Rechtfertigung vor dem Innenausschuß noch nicht ausgestanden. Das politische Schicksal des Berliner Innensenators könnte sich an der Frage entscheiden, wann das LKA die Existenz seines V-Mannes gegenüber der Landesregierung zugab. Und aus dem Berliner Skandal könnte rasch ein bundesweiter werden: Nach Informationen, die jW vorliegen, könnte Starke neben seiner Tätigkeit für das Berliner LKA auch im Sold des sächsischen Verfassungsschutzes gestanden haben. Indirekt bestätigte Koppers die »Mehrfachverwendung« Starkes: Es habe »verschiedene weitere Vertraulichkeitszusagen anderer Behörden« gegeben, die hätten beachtet werden müssen, sagte die Vizepolizeichefin.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 19. September 2012


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