Sensationelles Urteil im Fall Gössner: Demokratie siegt gegen "Verfassungsschutz" - aber erst nach 40 Jahren
Geheimdienstliche Beobachtung des Bürgerrechtlers Rolf Gössner war rechtswidrig / Neue Richtervereinigung begrüßt das Urteil
Der Rechtsstreit Dr. Gössner ./. Bundesrepublik Deutschland ist am 3. Februar 2011 mit einem Aufsehen erregenden Urteil zu Ende gegangen. Wir dokumentieren hierzu die Pressemitteilung der "Liga für Menschenrechte" sowie einen Hintergrund-Report.
Urteil des Verwaltungsgerichts Köln im Beobachtungsfall Gössner
Bundesamt für Verfassungsschutz wegen vier Jahrzehnte langen Rechtsbruchs verurteilt
Liga: „Mit diesem sensationellen Urteil bescheinigt das Gericht dem Verfassungsschutz einen
beispiellosen Dauerrechtsbruch, der nur noch als rechtsstaatswidrig und skandalös zu bezeichnen
ist. Dieser Verfassungsschutz schützt nicht die Verfassung, sondern ist offenbar selbst eine
Gefahr für den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat.“
Heute (3. Feb.) hat das Verwaltungsgericht Köln sein Urteil in dem Verfahren Dr. Gössner ./. Bundesrepublik
Deutschland verkündet, in dem es um die fast 40jährige geheimdienstliche Beobachtung des
Bürgerrechtlers Rolf Gössner geht. Das Urteil lautet:
„Es wird festgestellt, dass die Beobachtung des Klägers bis zum 13.11.2008 einschließlich der
während dieses Zeitraumes erfolgten Erhebung und –Speicherung von Daten zu seiner Person
rechtswidrig gewesen ist. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.“
Kläger Rolf Gössner:
„Dieses Urteil ist eine herbe Niederlage für den Inlandsgeheimdienst, dessen
geheime Dauerüberwachungstätigkeit in vollem Umfang für unverhältnismäßig und rechtswidrig
erklärt wird.“ Liga:
„Diese skandalöse und rechtswidrige Langzeitüberwachung darf nicht ohne
drastische politische Konsequenzen bleiben – zumal wenn man bedenkt, dass es sich hier um keinen
Einzelfall handeln dürfte. Diese aufwändige Überwachungsgeschichte ist auch ein ganz dringlicher
Fall für den Bundesrechnungshof - wegen Verschwendung öffentlicher Gelder.“
Gössners Anwalt Dr. Udo Kauß:
„Diese Entscheidung ist wirklich ein Meilenstein. Dem Schutz der
BürgerInnen vor staatlicher Überwachung wurde nach 5jährigem Rechtstreit zumindest rückwirkend
Geltung verschafft. Die im Prozess vom Bundesamt für Verfassungsschutz für sich in Anspruch
genommene Deutungshoheit über das, was in diesem Staat zulässiger Weise gesagt und geschrieben
werden darf, ist diesem Geheimdienst entzogen worden. Eine schallende Ohrfeige mit
hoffentlich nachhaltiger Wirkung für die Erfassungspraxis nicht nur des Bundesamtes für Verfassungsschutz,
sondern aller bundesdeutschen Geheimdienste. Das Amt wird seine Beobachtungsund
Erfassungspraxis gründlich ändern müssen.“
Rolf Gössner stand seit 1970 ununterbrochen unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz
(BfV) – schon als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein Arbeitsleben
lang in allen seinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechtsanwalt und parlamentarischer
Berater, später auch als Präsident/Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte
und als Mitherausgeber des alljährlich erscheinenden Grundrechte-Reports, seit 2007
als gewähltes (parteiloses) Mitglied der Innendeputation der Bremer Bürgerschaft und selbst noch
als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Erst am
13.11.2008, unmittelbar vor der 1. mündlichen Verhandlung, wurde die Beobachtung überraschend
und mit erstaunlicher Begründung eingestellt. Es dürfte die längste Dauerbeobachtung einer unabhängigen
Einzelperson durch den Geheimdienst sein, die bislang dokumentiert werden konnte – ohne
dass diese jemals selbst als „Extremist“ oder „Verfassungsfeind“ eingestuft wurde.
Ohne die Klage gegen den Verfassungsschutz, so ist sich die Liga sicher, wäre ein Ausstieg aus dieser
Überwachungsgeschichte wohl kaum erfolgt, so dass Rolf Gössner womöglich weiterhin, bis ins
hohe Rentenalter, unter Beobachtung stünde.
Das Gericht war in diesem Verfahren vor die schwierige Aufgabe gestellt, trotz der vom BfV aus
Geheimhaltungsgründen - Quellenschutz, Ausforschungsgefahr, Staatswohl - nur unvollständig vorgelegten
2.000seitigen Personenakte eine Entscheidung treffen zu müssen. Außerdem prallten in
dem Verfahren "zwei Denkwelten“ aufeinander, wie der Vorsitzende Richter feststellte. Das Gericht
problematisierte dabei auch, dass durch die einseitige Auswahl des erfassten Materials durch
die Beklagte "zwangsläufig ein falsches Bild" vom Kläger und von dessen beruflichen und rechtspolitischen
Aktivitäten entstehen müsse. Schon deshalb habe Rolf Gössner ein berechtigtes "Rehabilitierungsinteresse",
dem das heutige Urteil in vollem Umfang entspricht.
Rolf Gössner drückte bereits vor Gericht „sein Bedauern darüber aus, dass durch diese unsinnige,
geradezu absurde Überwachungsgeschichte so viel Lebenszeit und -kraft vergeudet wurde und dass
zwei Gerichte – das Verwaltungsgericht Köln und das Bundesverwaltungsgericht - mit aufwändigen
Verfahren belästigt werden“ mussten.
„Aber dieser mühsame Kampf war nun mal notwendig, um
wenigstens zu versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel geheimdienstlicher Machenschaften zu bringen
und solch ausufernde Geheimdiensttätigkeit künftig zu bändigen.“
„Mir war immer klar, dass mit mir gewissermaßen eine ganze Generation von engagierten Menschen
mitklagte, die sich seit den späten 60er Jahren in unterschiedlichen Aktivitäten und Berufen
linkspolitisch betätigten oder weiterbetätigen, und dabei möglicherweise ebenfalls mehr oder weniger
lang ins Visier des Verfassungsschutzes geraten sind. Vielleicht habe ich deshalb so viel Zuspruch
und Solidarität empfangen, für die ich mich herzlich bedanken möchte, weil ich mich in gewisser
Weise auch stellvertretend zur Wehr gesetzt und geklagt habe.“
Diese Überwachungsgeschichte und das Gerichtsverfahren zeigen in aller Deutlichkeit, so die Liga,
„welche Gefahren für Persönlichkeitsrechte, für Informationelle Selbstbestimmung, Meinungs- und
Pressefreiheit, Mandatsgeheimnis und Informantenschutz mit Geheimdiensten und ihren klandestinen
Aktivitäten verbunden sind.“
Rolf Gössner:
„Dass ein Geheimdienst wie der Verfassungsschutz über vier Jahrzehnte unkontrolliert
und rechtswidrig eine unabhängige Einzelperson beobachten, personenbezogene Daten erfassen,
sammeln, auswerten und übermitteln kann und dass er dann auch noch den größten Teil der
Personenakte geheim halten darf, beweist die These, dass es sich letztlich um eine demokratieunverträgliche
Institution handelt, für die das Prinzip demokratischer Transparenz und Kontrollierbarkeit
praktisch nicht gilt.“
Dieses Urteil hat nach Auffassung der Liga über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung,
denn es geht um ein brisantes Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler
betrifft: Welche Grenzen sind den kaum kontrollierbaren Nachrichtendiensten und ihren
geheimen Aktivitäten gezogen – gerade im Umgang mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen
unabhängiger Menschenrechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen?
Die Begründung des Urteils wird erst später vorliegen.
Hintergrund-Informationen zur Überwachungsgeschichte und zum Verfahrensverlauf
I. Zur Last gelegt wurden dem Kläger Rolf Gössner berufliche und ehrenamtliche
Kontakte zu angeblich „linksextremistischen“ und „linksextremistisch beeinflussten“
Gruppen und Veranstaltern – wie etwa DKP, Rote Hilfe oder die Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes (VVN), aber auch zu Presseorganen wie Demokratie
und Recht, Blätter für deutsche und internationale Politik, Geheim oder Neues
Deutschland, in denen er - neben vielen anderen Medien – veröffentlichte, denen er
Interviews gab oder in denen über seine Aktivitäten berichtet wurde. Mit seinen
Kontakten, publizistischen Beiträgen, Vorträgen und Diskussionen habe er diese
Gruppen und Organe „nachhaltig unterstützt“, so der Vorwurf des BfV an den parteilosen
Bürgerrechtler.
„Hier wurde aus vollkommen legalen und legitimen Berufskontakten eine verfassungswidrige
‚Kontaktschuld’ Gössners konstruiert“, so die Internationale Liga für
Menschenrechte, „die schließlich als waghalsige Begründung für seine jahrzehntelange
geheimdienstliche Beobachtung herhalten muss. Dies ist ein ungeheuerlicher
Vorgang.“
Das BfV begnügte sich nicht allein mit den Kontakten Gössners, sondern machte
sich inzwischen auch an die Interpretation seiner öffentlichen Äußerungen, maßt
sich damit eine Deutungshoheit über seine Texte an und übt sie in geradezu inquisitorischer
Weise aus. Diese ideologisch gesättigten Textinterpretationen „führen uns
in die tiefsten 1960er und 70er Jahre des Kalten Krieges“ (so Anwalt Udo Kauß): Da
wird schon zum „Verfassungsfeind“, wer das KPD-Verbotsurteil kritisiert oder den
Begriff „Berufsverbote“ verwendet, die es in der Bundesrepublik angeblich nie gegeben
habe. Da diffamiert die Bundesrepublik und ihre Staatsorgane, wer - wie der
Geheimdienstkritiker Gössner - den Verfassungsschutz in Frage stellt und wird mit
Verfassungsschutzbeobachtung nicht unter vier Jahrzehnten bestraft.
II. Nachdem Rolf Gössner bereits im Frühjahr 2006 gegen die Bundesrepublik
Deutschland Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln wegen dieser ununterbrochenen
und rekordverdächtigen Geheimdienst-Beobachtung eingereicht hatte, kam es
Ende 2008 zur ersten mündlichen Verhandlung. Wenige Tage davor teilte das BfV
dem Gericht überraschend mit, dass die Beobachtung nach 39 Jahren eingestellt
worden sei und alle erfassten Daten löschungsreif seien.
Die Liga hält die Einstellung der Beobachtung Ende 2008 für einen ersten großen
Erfolg in diesem Verfahren, der ohne Klage wohl nie zustande gekommen wäre. Der
Kläger, der ansonsten wohl immer noch und bis ins hohe Rentenalter unter Bewachung
stünde, wird in diesem Verfahren von ver.di - Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union und vom Verband Deutscher Schriftsteller unterstützt. Zuvor
hatten zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Juristenvereinigungen
und Schriftsteller - unter ihnen Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Horst-Eberhard
Richter - gegen seine Überwachung protestiert. 2008 ist Rolf Gössner als einer
der Mit herausgeber des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Report - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" die Theodor-Heuss-Medaille der Theodor-Heuss-Stiftung verliehen worden - für "vorbildliches demokratisches Verhalten,
bemerkenswerte Zivilcourage und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl".
Rolf Gössners Klage war auf vollständige Auskunft des BfV über alle zu seiner Person
gespeicherten Daten gerichtet. Außerdem sollte die Rechtmäßigkeit der Gesinnungsschnüffelei
und Datenerfassung gerichtlich überprüft werden. Inzwischen ver2
pflichtete das Gericht das BfV dazu, Gössners gesamte Personenakte vorzulegen.
Dies ist auch geschehen – allerdings zum größten Teil mit entnommenen Seiten
und geschwärzten Textstellen: Von allen über 2.000 vorgelegten Aktenseiten sind
etwa 85 Prozent ganz oder teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht
vorgelegt worden; nur rund 15 Prozent sind offen und vollständig lesbar.
Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des
Bundesinnenministeriums (BMI) als oberster Aufsichtsbehörde des BfV zurück. Begründung:
Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem „Wohl des Bundes oder eines
Landes Nachteile bereiten“; die Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes (VS)
würde beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt
werden („Ausforschungsgefahr“). Die Geheimhaltung diene aber in erster Linie
dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe
(„Quellenschutz“), weil ansonsten eine „Gefährdung von Leben, Gesundheit oder
Freiheit“ von V-Leuten, Hinweisgebern und VS-Bediensteten zu befürchten sei.
III. Gegen diese Aktenverweigerung klagte Rolf Gössner parallel vor dem hierfür
zuständigen Bundesverwaltungsgericht, um Sperrerklärungen und Geheimhaltung
in einem so genannten In-camera-Verfahren überprüfen zu lassen. Dabei handelt
es sich um ein rechtsstaatlich hoch problematisches Geheimverfahren ohne Mitwirkungsmöglichkeit
des Klägers. Nach ihrer Auswertung der gesperrten Aktenteile in
geheimer Sitzung kamen die höchsten Verwaltungsrichter zu dem von BMI und BfV
geforderten Ergebnis, dass die entsprechenden Aktenteile weiterhin aus Gründen
des Quellenschutzes, der Ausforschungsgefahr und des Staatswohls geheim gehalten
werden müssten. Damit konnte das Verwaltungsgericht Köln nur auf solch eingeschränkter
Informationsbasis seine Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder
Rechtswidrigkeit dieser Dauerbeobachtung treffen.
Trotz dieser höchstrichterlich gebilligten Beweismittelverweigerung im staatlichen
Geheimhaltungsinteresse ist die verbleibende Dokumentensammlung (Personenakte
) dennoch recht aufschlussreich: So erstaunt etwa, wie viele Behörden, andere
Stellen und Personen sich in diesem Fall als denunziatorische Zuträger für den Verfassungsschutz
betätigt haben und wie viele Spitzelberichte über Gössners Vorträge
und sonstige Aktivitäten angefertigt worden sein müssen.
IV. Dieses Verfahren hat nach Auffassung der Liga über den Einzelfall hinaus
grundsätzliche Bedeutung, denn es geht um ein brisantes Problem, das auch andere
Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler betrifft: Welche Grenzen sind
den kaum kontrollierbaren Nachrichtendiensten und ihren geheimen Aktivitäten gezogen
– gerade im Umgang mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger
Menschenrechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen?
Dazu RA Kauß: „Die geheimdienstliche Langzeitüberwachung eines Anwalts, Publizisten
und Menschenrechtlers verletzt Persönlichkeitsrechte, Informantenschutz,
Mandatsgeheimnis und die ausforschungsfreie Sphäre, die für regierungsunabhängige
Menschenrechtsgruppen unabdingbar ist“. Dazu zählten eben auch berufliche
Kontakte zu „inkriminierten“ Gruppen und Personen, die der Verfassungsschutz für
beobachtenswert hält. „Kritischer Dialog und offene politische Auseinandersetzung
dürfen nicht unter geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt werden“, ergänzt
Liga-Vizepräsident Rolf Gössner: „Das würde keine freiheitliche Demokratie auf Dauer aushalten.“
"Letztlich geht es um die Meinungsfreiheit"
Die Neue Richtervereinigung begrüßt das Urteil gegen Überwachung von Rechtsanwalt Gössner. Ein Gespräch mit Christine Nordmann *
Christine Nordmann ist Sprecherin des Vorstandes der Neuen Richtervereinigung und Richterin am Verwaltungsgericht in Schleswig.
Seit 1970 hat der Verfassungsschutz Rechtsanwalt Rolf Gössner wegen angeblicher Kontakte zu »linksextremistischen« Gruppen überwacht. Das Verwaltungsgericht Köln hat das jetzt als rechtswidrig eingestuft. Wie bewertet die Neue Richtervereinigung das Urteil?
Wir begrüßen diese Entscheidung auf jeden Fall, obgleich die Urteilsbegründung noch nicht vorliegt. Herr Gössner selber ist nie als Extremist oder Verfassungsfeind eingestuft worden. Es ging nur immer darum, ihn im Zusammenhang mit seinen Kontakten zu überwachen, die er in seiner beruflichen Tätigkeit hatte. Er wurde beobachtet, weil er Kontakte zu Organisationen wie DKP, Rote Hilfe, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hatte, aber auch zu Presseorganen aus dem linken Spektrum. Das fast 40 Jahre lang zum Gegenstand der Überwachung zu machen, heißt nichts anderes, als daß der Verfassungsschutz in Rechte eingegriffen hat, die wir in einer demokratischen Rechtsordnung doch bewahren müssen.
Welche Bedeutung hat die Überwachung für das Leben von Rolf Gössner gehabt?
Soweit ich weiß, ist ihm erst 1996 bekannt geworden, daß er bespitzelt wurde – die ersten 26 Jahre hat er es zumindest nicht gewußt. Für die übrige Zeit muß man sich vorstellen, wie problematisch es ist, wenn man sich in allen beruflichen Belangen überwacht fühlt. Als Anwalt hat er ein Mandantengeheimnis zu wahren, als Publizist den Informantenschutz zu gewährleisten. In diesen Tätigkeiten ist er Berufsgeheimnisträger und zur Vertrauenswürdigkeit verpflichtet. Ich stelle es mir mehr als belastend vor, wenn er das nicht garantieren kann. Und als Menschenrechtler, Präsident – und später Vizepräsident – der Internationalen Liga für Menschenrechte muß er sich in ausforschungsfreier Sphäre bewegen können, um wirklich unabhängig agieren zu können.
Der Überwachungseifer, den das Gericht in Gössners Fall für rechtswidrig erklärt hat, betrifft auch andere Personen, die sich politisch links orientieren, unter anderem Rechtsanwälte, Journalisten, Politiker und Menschenrechtler. Ist zu erwarten, daß der Verfassungsschutz nach dem Urteil vorsichtiger agieren wird?
Die Entscheidung betrifft nur den Fall Gössner – allerdings ist zu hoffen, daß sich aus der Urteilsbegründung Grundsätze ergeben, die über den Einzelfall hinausgehen. Es sollte klar werden, daß die Überwachung eines engagierten, regierungsunabhängigen und kritischen Bürgers, der damit den demokratischen Rechtsstaat fördert, unverhältnismäßig ist. Herr Gössner fürchtet, daß viele seiner Kollegen, sowie Menschen aus ähnlichen Berufsbereichen betroffen sind. Insofern ist zu hoffen, daß aus der Urteilsbegründung hervorgeht, daß der Verfassungsschutz sich zurücknehmen muß.
In welcher Weise ist die Demokratie gefährdet, wenn Personen, die nicht regierungstreu oder kritisch zum Kapitalismus eingestellt sind, überwacht werden?
Letztlich geht es um nichts Geringeres als die Wahrung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wenn ich nicht mehr die Möglichkeit habe, mir im geschützten Raum eine eigene Meinung zu bilden und diese kundzutun, ist ein demokratischer Diskussionsprozeß nicht mehr gewährleistet – das sind jedoch Werte, die unsere Verfassung und das Bundesverfassungsgericht hochhalten.
Politiker der Partei Die Linke verwehren sich gegen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz; die Organisation »Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten« protestiert dagegen, daß ihre Einladung an Flüchtlinge zu einer Konferenz in Berlin an die Abteilung Staatsschutz weitergeleitet wurde – hat das Urteil für solche Fälle Bedeutung?
Wenn man jemanden wie Gössner so lange überwacht, sind potentiell all diejenigen betroffen, die kritisch über diesen Staat nachdenken, publizistisch tätig sind oder Kontakte zu kritischen Organisationen haben. Ihm wurde ja vor allem letzteres vorgeworfen.
Ist nicht auch im Fall dieser »Kontakte« zu fragen, warum sie eigentlich im Visier des Geheimdienstes sind?
Diese Frage stelle ich mir auch. Wieso gehört die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes dazu – weil einige Kommunisten dort organisiert sind? Was unterstellt man ihr? Diese Organisation bewegt sich doch völlig im legalen Bereich.
Interview: Gitta Düperthal
* Aus: junge Welt, 5. Februar 2011
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