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Verbotene Gesinnung

Vorabdruck. In immer mehr europäischen Ländern wird die Leugnung "kommunistischer Verbrechen" unter Strafe gestellt

Von Hannes Hofbauer *

Ein EU-Rahmenbeschluß aus dem Jahr 2008 legt fest, daß Zweifel an der offiziellen Version der Geschehnisse in Srebrenica während des Bosnien-Kriegs strafbar sind; in der Schweiz kann man wegen der Leugnung des Völkermords an den Armeniern vor Gericht landen, während einem in der Türkei genau dessen Behauptung zum Verhängnis werden kann; und wer in Ungarn, Litauen oder Polen nicht gewillt ist, die Sowjetunion als völkermordendes Verbrecherregime anzusehen, ist ebenfalls ein Fall für den Staatsanwalt. Hinter dieser Verrechtlichung historischer und politischer Debatten und der Kriminalisierung unliebsamer Meinungen stehen Erinnerungsgesetze, denen der Wiener Verleger und Historiker Hannes Hofbauer nun ein umfangreiches Buch gewidmet hat. jW veröffentlicht einen Auszug aus der im Wiener Promedia Verlag unter dem Titel »Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung« erscheinenden Studie zur »Leugnung kommunistischer Verbrechen« um Fußnoten gekürzt vorab. [Und wir dokumentieren diesen Auszug im Folgenden.]

Angesichts des Heroismus, mit dem die Rote Armee und das russische Volk die Naziinvasion bekämpfen, erscheint unser Urteil über die Sowjetunion in mancher Hinsicht revisionsbedürftig. Gewisse Tendenzen und Aspekte der Kreml-Politik, an denen wir Anstoß zu nehmen pflegten, werden erst jetzt verständlich. Wie steht es etwa, im Licht der heutigen Ereignisse, um jene berüchtigten Prozesse von 1937? Die summarisch-rigorose Liquidierung der militärischen und »trotzkistischen« Opposition wurde damals in liberalen Kreisen als unerträglicher Skandal empfunden. Ohne die Prozesse von 1937 gäbe es heute, 1942, vielleicht keinen russischen Widerstand.«

Der dies am 14. Januar 1942 in sein Tagebuch schrieb, war niemand geringerer als Klaus Mann. Der älteste Sohn von Thomas Mann galt Zeit seines Lebens, das er sich 1949 viel zu früh genommen hat, als kritischer Geist. Einen Linken oder gar Kommunisten konnte man ihn jedoch nicht nennen. Seine Einschätzung aus dem Jahr 1942 war von überzeugtem Antifaschismus geprägt. Er befürchtete, daß Hitler ohne den Widerstand der Roten Armee die nationalsozialistischen Weltherrschaftspläne umsetzen hätte können. Heute ist die Sichtweise von Klaus Mann in so manchem Staat der Europäischen Union kriminalisiert. »Leugnung kommunistischer Verbrechen« steht nicht nur an der Weichsel und an der Donau unter Strafe.

Freilich, was ein »kommunistisches Verbrechen« ist und wer es als solches definiert, bleibt bis zum Richterspruch unklar. Mit den Leugnungsverboten kommunistischer (Un-)Taten hat EU-Europa einen weiteren Schritt in Richtung Gesinnungsjustiz getan.

War Stalin ein Völkermörder? Dienten die Schauprozesse der 1930er Jahre auch der inneren Konsolidierung einer von außen stark unter Druck stehenden Sowjetunion? Gäbe es keine Erinnerungsgesetze und keine Leugnungsverbote, gäbe es nicht die Kriminalisierungsdrohung einer zunehmend »politischen Rechtsprechung«, würde der Autor dieser Zeilen spontan die erste Frage verneinen und die zweite in dieser Form zurückweisen, weil sie entschuldigenden, rechtfertigenden Charakter für die Ausrottung sämtlicher politischer Opposition unter Stalin in sich birgt.

Offene Debatte

Doch darum geht es nicht. Denn seit in mittlerweile mindestens vier Ländern der Europäischen Union die Leugnung kommunistischer Verbrechen bestraft wird, muß für eine offene Debatte eingetreten werden und gegen die Unkultur der Diskussionsverbote. In Frage stellen – und dies schließt Leugnen ein – darf nicht vor dem Richterstuhl enden.

Der Hintergrund für die antikommunistischen Leugnungsverbote liegt auf der Hand. Es sind die gesellschaftlichen Erfahrungen der neuen politischen Eliten mit den undemokratischen KP-Regimes nach dem Zweiten Weltkrieg, die bislang ausschließlich osteuropäische Länder zur juristischen Keule haben greifen lassen, um der früheren kommunistischen Politik den Stempel des Verbrechens aufzudrücken. Diese Vorgangsweise mag auch als Rechtfertigung für die sozialen Verwerfungen und wirtschaftliche Mühsal der Transforma­tionszeit dienen.

»Wer vom kommunistischen System begangenen Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, in Zweifel zieht oder in ihrer Bedeutung herabmindert, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren belegt.« So steht es beispielsweise in Paragraph 269/C des ungarischen Strafgesetzbuches. Sinngemäß bis wortgleich lauten entsprechend formulierte Gesetze in Polen und Litauen. Tschechien bestraft die »Rechtfertigung des kommunistischen Genozids«, was auch immer unter diesem Begriffspaar verstanden werden soll.

Vorreiter einer rechtlich verordneten Wahrheitsfindung war das Ungarn des liberalkonservativen Viktor Orbán. Seine mit absoluter Mehrheit regierende Fidesz (Jungdemokraten) beschloß am 8. Juni 2010 im Parlament das oben zitierte restriktive Erinnerungsgesetz. Dies geschah in Reaktion bzw. »Ergänzung« eines im Februar desselben Jahres von der sozialliberalen Vorgängerregierung verabschiedeten Gesetzes zur Holocaustleugnung, das auf Druck Israels zustande gekommen war. Zur Kriminalisierung der Holocaustleugnung enthielten sich die 144 Abgeordneten von Fidesz – damals in Opposition – noch der Stimme, nutzten aber kurz darauf als Regierungspartei die rechtliche Vorlage für die Erweiterung der Strafbarkeit im Falle von Zweifeln an kommunistischen Verbrechen. Liberale Medien und einzelne Intellektuelle kritisierten bereits das erste Erinnerungsgesetz in Hinblick auf dessen Ausbaufähigkeit: »Man stelle sich vor«, ätzte beispielsweise der Pester Lloyd in seiner Ausgabe vom 23. Februar 2010, »was eine rechte oder noch rechtere Regierung auf Basis dieses Gesetzes als ›außerhalb der Meinungsfreiheit‹ definiert und unter Strafe stellt. Dabei kann sie sich dann einfach auf den ›Holocaustparagraphen‹ beziehen und per Komma einfügen, was ihr politisch gerade nicht in den Kram paßt, sei es die Leugnung Gottes, der ›Zigeunerkriminalität‹ oder der Herrlichkeit der magyarischen Urväter.« Tatsächlich mündete der Präzedenzfall der Strafwürdigkeit der Holocaustleugnung wenig später in die juristische Verfolgung jener, die im Kommunismus mehr als nur ein Verbrechen sehen bzw. den verbrecherischen Charakter kommunistischer Politik bezweifeln.

Fast folgerichtig traf es dann als ersten Gesinnungstäter in der neueren, postkommunistischen ungarischen Geschichte keinen bekennenden Nazi, der die Existenz von Gaskammern im »Deutschen Reich« abgestritten hätte, sondern einen Kommunisten. Unmittelbar nach Erweiterung des Meinungsparagraphen um die Leugnung kommunistischer Untaten (wer immer diese als solche beurteilen mag) fand sich der frühere Innenminister Béla Biszku vor dem Kadi wieder. Der mittlerweile 89jährige ehemalige Parteigänger der Magyar Szocialista Munkáspárt (MSZMP, Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) hatte am 4. August 2010 in einer Talkshow des ungarischen Fernsehens die Niederschlagung des Aufstandes von 1956 als rechtmäßig bezeichnet und behauptet, daß es sich bei den Aufständischen nicht um Revolutionäre gehandelt hätte.

Biszku war im März 1957 zum Innenminister ernannt worden und hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er die Niederschlagung des Aufstandes im Herbst 1956 für richtig und die anschließend unter seiner Führung ausgesprochenen Todesurteile gegen Führer der Revolte für notwendig betrachtet habe. Man mag – und soll – diese Position kritisieren, ja verachten, jedoch im politischen Diskurs, und sie nicht mit der Gefängniskeule im Gerichtssaal bedrohen. Der politische Mißbrauch rechtlicher Einrichtungen wird beim Fall Biszku überdeutlich, denn es war ausgerechnet ein Parlamentsangehöriger der rechtsradikalen Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn), György Szilágyi, der Strafanzeige gegen den alten Stalinisten gestellt hatte.

Anfang November 2010 wurde das Verfahren gegen Exminister Biszku eingestellt, und zwar nicht deshalb, weil seine Meinungsäußerungen zu den Ereignissen von 1956 keine Straftat nach dem neuen Gesetz gewesen wären, sondern weil zum Zeitpunkt dieser Äußerungen (am 4. August 2010) das im Juni 2010 im Parlament beschlossene Gesetz noch nicht in Kraft getreten war. Ausdrücklich gab der Richter zu Protokoll, daß Béla Biszku »ein Verbrechen des kommunistischen Regimes geleugnet« hätte und dies nach dem erweiterten Holocaustparagraphen 269/C strafbar wäre, die Wortmeldung des früheren Ministers allerdings für eine solche Bestrafung zu früh gekommen war. Eine künftig geäußerte ähnliche Meinung würde unweigerlich zu einer Geld- oder Gefängnisstrafe führen.

Tschechien, Polen, Litauen

Auch in Tschechien wurde mit der Gleichsetzung von nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur ein Meinungsdelikt geschaffen. Dort heißt es im entsprechenden Paragraphen 261a unter dem sperrigen Titel »Gesetz gegen die Unterstützung und Förderung von Bewegungen, die Menschenrechte und Menschenfreiheiten unterdrücken«: »Wer den Nazi- oder kommunistischen Genozid öffentlich verneint, in Zweifel zieht, billigt oder zu rechtfertigen versucht« oder andere Verbrechen der Nazis und Kommunisten, »ist mit einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren zu bestrafen.«

Der polnische Gesetzgeber wiederum operiert seit dem Jahr 1998 hochoffiziell mit dem Begriff des »kommunistischen Verbrechens« (zbrodnia komunistyczna). Darunter fällt alles, was irgend­ein Gericht als »unterdrückende Aktion eines Funktionärs eines kommunistischen Staates« ansieht, wenn eine solche zwischen dem 17. September 1939 – als die Rote Armee in Polen einrückte – und dem 31. Dezember 1989 – dem Datum des offiziellen Endes der Herrschaft der Kommune – vorgefallen ist. Der Interpretationsspielraum könnte größer nicht sein. Und obwohl es sich bei diesem Gesetz im engeren Sinn nicht um die Verfolgung von Meinung handelt, bietet die Formulierung ausufernde juristische Möglichkeiten gegenüber »Tätern«. Am 14. Juni 2010 wurde dann auch allgemein – kommunistische – Meinung zu einer strafrechtlich verfolgbaren »Tat«, indem das polnische Strafgesetzbuch auch die »Propaganda des Kommunismus« unter Strafe stellte. Darunter kann vielerlei zu verstehen sein. Wer z.B. die Ideologie des Kommunismus lobpreist, wird mit Freiheitsstrafe bedroht.

Auch die öffentliche Zurschaustellung kommunistischer Symbole ist in Polen – wie auch in Ungarn, Lettland, Litauen, Georgien und anderen osteuropäischen Ländern – strafbar. Unmittelbar von gerichtlicher Verfolgung betroffen sind vor allem Hunderte, wenn nicht Tausende von Gemeinden, in denen auch 21 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Ära noch rote Sterne, kommunistische Ährenkränze oder Hammer und Sichel auf Hausfassaden oder Denkmälern zu sehen sind. Diese Tatsache vor Augen, protestierte auch die oppositionelle sozialdemokratische Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD, Bund der Demokratischen Linken) gegen die Verschärfung antikommunistischer Gesetze. Von einer offiziellen österreichischen Protestnote war hingegen nichts zu hören, obwohl die Alpen- und Donaurepublik auch vom Verbot der linken Symbole betroffen sein müßte, ziert doch das österreichische Staatswappen das Arbeiter- und Bauernemblem: Hammer und Sichel neben einer gesprengten Kette.

Besonders drastische Meinungsparagraphen hat die kleine baltische Republik Litauen eingeführt. Zwischen Vilnius und Klaipda wird seit 15. Juni 2010 unter Artikel 170/2 jedes »Unterstützen, Gutheißen oder Verharmlosen von Verbrechen der Sowjetzeit oder Nazideutschlands gegen die Republik Litauen mit bis zu zwei Jahren Gefängnis geahndet«.

Dazu kommt noch die Leugnung, Verharmlosung oder Unterstützung der »sowjetischen Aggression der Jahre 1990/91«, als Litauen sich selbst nach der Sezession bereits als unabhängigen Staat ansah, völkerrechtlich jedoch noch Teil der UdSSR war. Die damaligen militärischen Auseinandersetzungen dürfen heute bei Strafandrohung nur litauisch-national gedeutet werden. Kurzfristig meldeten sich einige litauische Historiker zu Wort, die in dieser Art von Erinnerungsgesetzen eine Bedrohung ihrer Disziplin sahen, bis von oberer wissenschaftlicher Stelle beruhigende Worte kamen, die die Einführung von Meinungsdelikten rechtfertigten. So meinte etwa die stellvertretende Direktorin des Lietuvos istorijos institutas (Litauischen Historischen Institutes), Zita Medišauskien, in einer Aussendung am 17. Juni 2010, daß »die Formulierungen des Gesetzes (für Historiker, Anm. d.A.) nicht bedrohlich« seien. Dies vor allem deshalb, weil »es schwer vorstellbar ist, daß ein seriöser wissenschaftlicher Text Informationen in mißbräuchlicher Form veröffentlicht. Das Gesetz fordert Verantwortung für die Gültigkeit und Wahrhaftigkeit jeder wissenschaftlichen Forschung und ein Verstehen des öffentlichen Kontextes«, schwadronierte die litauische Geschichtswissenschaftlerin. In anderen Worten: Wer zu anderen Forschungsergebnissen als den offiziellen kommt, wer die Sowjetunion nicht als Hort des Bösen, als Verbrechen an der baltisch-litauischen Sache analysiert, dessen Ergebnisse sind »unseriös« und führen den Autor in der Folge hinter Gitter. Selbst schuld, denn der Autor oder die Autorin hätte ja auch »seriöse« Ergebnisse liefern können. (…)

Antisowjetischer Revisionismus

Einzig in der polnischen Gesetzgebung wird versucht, den Terminus »kommunistisches Verbrechen« als Straftatbestand zu definieren. Artikel 2.1 des polnischen Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) vom 18. Dezember 1998 sieht ein Verbrechen als ein kommunistisches an, wenn es zwischen dem 17. September 1939 und dem 31. Dezember 1989 als »politische Repression« oder »direkte Menschenrechtsverletzung« stattgefunden hat. Diese äußerst vage und nach Interpretationen gierende Definition haben sich andere osteuropäische Länder erspart. Tschechische, ungarische und litauische Gesetzeswerke sprechen ohne weitere Spezifizierung von »kommunistischem Völkermord« oder »kommunistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Dabei ist direkt greifbar, daß die Vorlagen für derlei Gesetzeswerke aus den juristischen Amtsstuben der Europäischen Union stammen, insbesondere aus deutscher Feder.

Kennzeichnend für die neuen antikommunistischen Erinnerungsgesetze ist die vollständige Gleichsetzung der nationalsozialistischen mit der stalinistischen Diktatur. Diese wurde auf hoher politischer Ebene seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe im Jahr 1991 systematisch betrieben. Mit der Gleichsetzung von Hitler und Stalin, von »Tausendjährigem Reich« und Sowjetunion ging ein Umschreiben der Geschichte einher, insbesondere der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. War bis dahin die Aggression Nazideutschlands mit seinen Überfällen auf Polen (1. September 1939), auf die Benelux-Staaten und Frankreich (10. Mai bis 25. Juni 1940) sowie auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) der unstrittige Auslöser für das größte menschheitsgeschichtliche Völkerschlachten – außer in rechtsradikalen Kreisen –, so rückte mit der antikommunistischen Stoßrichtung der osteuropäischen politischen Akteure der Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 als eigentliches Menetekel der Epoche ins Zentrum der Argumentation; einer Argumentation, die letztlich auch dazu diente, die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu relativieren. Einzig die Bezugnahme auf den – sicherlich kritikwürdigen – deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt erlaubte es den Geschichtsrevisionisten aus den osteuropäischen Ländern, die antikommunistische Karte zu spielen und damit die Gleichsetzung des sowjetischen mit dem deutschen Regime ins Bewußtsein zu rücken.

Würde man sich z.B. auf ein geopolitisch nicht unähnliches Abkommen, das nicht Polen, sondern die Tschechoslowakei betraf, das Münchner Abkommen von 30. September 1938, beziehen, dann wären die Feindbilder gänzlich andere: Dazumal waren es Frankreich, Großbritannien und Italien, die dem Druck Hitlers gewichen sind und die Tschechoslowakei seinem Expansionsdrang opferten. Ein Jahr später, am 24. August 1939, unterzeichneten die Außenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw M. Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, den Molotow auch dazu nutzen wollte, um sowjetischen Interessen im Baltikum, Bessarabien und Polen zum Durchbruch zu verhelfen, was schließlich mit der (Teil-)Besetzung dieser Länder auch geschah. Doch es sollte anders kommen: Der Pakt hielt dem Berliner Expansionsdrang nicht stand. Es war Hitler, der die Sowjetunion angriff. Mit dem Theorem der Gleichsetzung beider Regime wird diese unzweideutige historische Abfolge und Schuld mehrdeutig.

Den bisherigen politischen Höhepunkt dieses antisowjetischen Revisionismus stellte die sogenannte Prager Deklaration dar. Sie wurde am 3. Juni 2008 auf Betreiben des vormaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel angestoßen und forderte die Weltöffentlichkeit auf, kommunistische Verbrechen genau wie jene der Nationalsozialisten zu begreifen, zu ächten und zu ahnden. In Punkt eins heißt es anfangs noch ein wenig vorsichtig:

»Wir brauchen ein übergreifendes europäisches Verständnis der totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus, die jedes für sich wegen ihrer eigenen fürchterlichen zerstörerischen Taten, ihrer systematischen Form des Terrors, der Unterdrückung aller zivilen und menschlichen Freiheiten, dem Anzetteln von Aggressionskriegen (…) verurteilt gehören. (…) Sie müssen als Hauptkatastrophen des 20. Jahrhunderts angesehen werden.«

Im Punkt zwei wird es dann schon etwas konkreter: »Wir fordern, daß viele Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, als Verbrechen gegen die Menschheit anerkannt werden, (…) in derselben Weise, wie Naziverbrechen auf dem Nürnberger Tribunal behandelt wurden.«

Abschließend wird dann noch eine konkrete, europaweit gültige Gesetzgebung eingefordert, die kommunistische Verbrechen bestrafen und die Opfer des Kommunismus entschädigen soll.

Zu den Unterstützern dieser Prager Deklaration, die, wohlgemerkt, kommunistische Verbrechen wie solche der Nationalsozialisten verfolgt sehen will und nicht die Forderung nach einem Leugnungsverbot erhebt, gehören eine Reihe einflußreicher Politiker und Personen des rechtskonservativen und rechtsliberalen Lagers. Als Erstunterzeichner fungierten neben Václav Havel der deutsche Theologe und Publizist Joachim Gauck, der »Vater der litauischen Unabhängigkeit« Vytautas Landsbergis, der schwedische Konservative Göran Lindblad, der estnische Historiker und Politiker Tunne Kelam, der tschechische Hardliner Martin Mejstík und eine Reihe anderer, großteils in ihren osteuropäischen Heimatländern bekannte Persönlichkeiten. Aufmunternde Briefe an die Konferenz, die zur Prager Deklaration führte, kamen vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, der eisernen Margaret Thatcher und dem US-amerikanischen antikommunistischen Urgestein mit polnischen Wurzeln, Zbigniew Brzeziski. (…)

Die relative Beliebigkeit, etwas als »kommunistisches Verbrechen« brandmarken zu können, folgt dabei aktuellen, fast tagespolitischen Agenden. Bestrafte – kommunistische – Gesinnung wird als politisches Instrument vor allem von rechtskonservativen Regierungen eingesetzt. Daß dieses Instrument, in umgekehrter politischer Richtung, gerade in den osteuropäischen Ländern eine sechzigjährige Tradition kennt, fällt einem Beobachter von außen als Ironie auf; in den jeweiligen Gesellschaften wird die Debatte darüber weitgehend verdrängt und tabuisiert.

Ein erster, zaghaft agierender Ausläufer antikommunistischer Meinungsjustiz hat das deutsche Bundesland Thüringen erreicht. Dort meldete sich die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Hildigund Neubert, Anfang 2009 zu Wort und forderte die Unterstrafestellung der Leugnung kommunistischer Verbrechen. Aufhänger dafür war eine Schmieraktion am sogenannten Arnstädter Denkmal (in der Nähe von Erfurt) für die »Opfer kommunistischer Gewalt 1945–1989«, das mit den Parolen »Das war nicht der Kommunismus« und »Gegen Geschichtsrevisionismus« besprüht worden war. Die rechte Junge Freiheit machte dafür indirekt die Linksfraktion im Stadtrat verantwortlich, die vor allem den Standort des Denkmals vor der ehemaligen Kommandantur der Roten Armee kritisiert hatte. Den Vorstoß aus den Reihen der thüringischen CDU, der Neubert angehört, griffen die anderen Fraktionen nicht auf. (…)

Initiative der Sechs

Der bislang weitestgehende Vorstoß eines antikommunistischen Erinnerungsgesetzes wurde von gleich sechs osteuropäischen Außenministern geführt. Am 14. Dezember 2010 richteten sie einen gemeinsam verfaßten Brief an EU-Justizkommissarin Viviane Reding. Er enthielt die Aufforderung, »öffentliche Billigung, Leugnung und Verharmlosung von totalitären Verbrechen« in der gesamten Europäischen Union unter Strafe zu stellen. Ausgangspunkt war auch hier die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Weil die Holocaustleugnung jedoch in den meisten Ländern ohnedies strafbar ist, zielt die »Initiative der Sechs« auf den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit. Wie in einzelnen osteuropäischen Staaten bereits üblich, sollte die Leugnung von »kommunistischen Verbrechen«, wer solche auch immer definieren mag, vor der Richterbank enden. Unterzeichnet war der Brief an EU-Kommissarin Reding von den Außenministern Litauens, Lettlands, Tschechiens, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens.

Der Initiator dieses Schreibens, der litauische Außenminister Audronius Ažubalis, fügte dem Ansinnen noch hinzu: »Jeder kennt die Verbrechen des Nationalsozialismus, aber nur ein Teil Europas ist sich der Verbrechen des Kommunismus bewußt.« Auch der rumänische Historiker und ehemalige Präsident des staatlichen Instituts zur Untersuchung kommunistischer Verbrechen, Marius Oprea, schlug in dieselbe Kerbe, als er meinte: »Wir fordern, daß die kommunistischen Verbrechen wie der Holocaust behandelt werden (…) Was unterscheidet sie von den Nazis? Nichts!« Und der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg offenbarte sein Verständnis von Totalitarismus in Brüssel anläßlich einer Pressekonferenz: »Es geht um die grundsätzliche Angelegenheit, daß wir totalitäre Systeme mit demselben Maß zu messen haben.« Auf den Vergleich Hitler–Stalin angesprochen, antwortete der altösterreichische Blaublütler: »Beide waren Massenmörder.« Gegenüber der Nachrichtenagentur TK exemplifizierte Schwarzenberg seine Wahrnehmung der beiden historischen Figuren dann nochmals: »Um die Wahrheit zu sagen: Stalin war in der Lage, noch mehr Menschen umzubringen.«

Die Absicht hinter dieser Art von Argumentation gleicht jener in den einzelnen Nationalstaaten, wie sie oben beschrieben wurde. Zuerst wird die aggressive, rassistische Politik Hitler-Deutschlands, welche die Welt mit dem verheerendsten Krieg überzog, mit dem repressiven Sowjetsystem unter Stalin gleichgesetzt. In einem zweiten Schritt geht es dann nicht mehr um die Verbrechen der beiden Systeme, sondern um die Leugnung von Taten bzw. Untaten, und damit wird Meinung, vom Gericht als falsch definierte Meinung, zur Straftat.

Nach vierwöchiger Prüfung des Ansinnens der sechs osteuropäischen Außenminister kam die EU-Kommission zum Schluß, die Leugnung kommunistischer Verbrechen nicht EU-weit kriminalisieren zu wollen. Zumindest vorläufig wurde damit ein Versuch zurückgewiesen, der Erinnerung an die kommunistische Epoche eine verordnete Wahrheit vorzusetzen, deren Nichtrespektierung eine Strafe nach sich zöge. Diesmal hatten sich in fast allen EU-Ländern linke, meist kommunistische, Parteien gegen die Kriminalisierung eines Geschichtsbildes aufgelehnt und in einem offenen Brief die EU- Kommission aufgefordert, die »antikommunistischen Angriffe« zu stoppen. Die Berliner Tageszeitung junge Welt befürchtete zudem nicht zu unrecht, daß ein Verbot der Leugnung von irgendwo als kommunistische Verbrechen deklarierten Taten dazu führen würde, »mit der Kriminalisierung der kommunistischen Vergangenheit künftig Systemalternativen zum Kapitalismus gesinnungspolizeilich zu untersagen«. Die EU-Seite argumentierte ihre Zurückweisung der »Initiative der Sechs« lediglich mit den Worten, die rechtlichen Praxen in den EU-Staaten (seien) unterschiedlich und bislang (habe) kein europäisches Gericht Strafen wegen Leugnung der Verbrechen, die von totalitären Regimes in Osteuropa während des Kalten Krieges begangen worden waren, verhängt.

Mit dem Fortschreiten der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses, der auch die Leugnung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in sämtliche nationale Gesetzeswerke zwingt, ist die Frage der antikommunistischen Gesinnungsjustiz freilich nicht vom Tisch, sie scheint nur aufgeschoben. In den einzelnen Erinnerungs- und Meinungsgesetzen steckt – wie das in Ungarn vorgeführt wurde – das juristische Potential, selbige auf alle möglichen »historischen Wahrheiten« zu erweitern, deren Bezweifeln oder Verleugnen strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

* Hannes Hofbauer ist Historiker, Publizist und Verleger; er lebt in Wien.

Aus: junge Welt, 5. Oktober 2011



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