Verband stellt Verfassungsschutz in Frage
Erklärung gegen Rassismus
Dass die von Neonazis verübten Morde »keine singulären Ereignisse« seien, darauf machte Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, aufmerksam. Die Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland gaben gestern eine
gemeinsame Erklärung ab, die den Titel trägt: »Morde aufklären, Opfer unterstützen, Rassismus bekämpfen«. Kolat betonte, dass der Kampf gegen Rassismus nicht der Polizei, den Geheimdiensten und der Justiz überlassen werden dürfe. Vielmehr müsse es darum gehen, etwas gegen die »latent rassistischen Strukturen in den Ermittlungsbehörden« zu unternehmen. Es dürften »keine demokratiefreie Zonen entstehen«.
Kritik übte er an dem von Familienministerin Kristina Schröder (CDU) vorgesehenen »Kompetenzzentrum« und am Verfassungsschutz. Statt eines »Kompetenzzentrums« benötige man eine »unabhängige Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Rechtsextremismus in diesem Land«, sagte Kolat. Zum »Spitzentreffen«, bei dem es um »Strategien gegen Rechtsextremismus« gehen sollte, sei die türkische Gemeinde »gar nicht eingeladen« gewesen, worüber er auch seinen »Unmut zum Ausdruck gebracht« habe. Auch der zur Aufklärung der Neonazi-Morde eingerichtete Untersuchungsausschuss sei nicht ausreichend. »Man muss sich beim Verfassungsschutz als Ganzes fragen, ob man diesen benötigt.« Mit Blick auf dessen schwere Versäumnisse bei der Beobachtung von Neonazis meinte Kolat: »Wenn er gar nichts über diese Vorgänge weiß, wofür gibt es dann den Verfassungsschutz?« Es sei dringend geboten, »die Strukturen innerhalb der Sicherheitsorgane zu überprüfen«.
Brigitte Döcker vom Bundesvorstand der Arbeiterwohlfahrt gab zu bedenken, dass die Behörden sich offenbar schwertun, Rechtsradikalismus zu erkennen. »Verbrechen sollten schneller auf einen rechtsradikalen Hintergrund überprüft werden, nicht nur, wenn irgendwo ein Hakenkreuz gesehen wird.«
* Aus: neues deutschland, 31. Januar 2012
Morde aufklären, Opfer unterstützen, Rassismus bekämpfen
Erklärung zivilgesellschaftlicher Organisationen
Die Mordserie und die Anschläge der rechtsextremen Terrorgruppe haben uns erschüttert. Unfassbar ist, dass die untergetauchte Gruppe mit Unterstützung eines breiten Netzwerks mehr als ein Jahrzehnt unbehelligt Gewalttaten begehen konnte. Und dies trotz Beobachtung der Neonazi-Szene durch Verfassungsschutz und andere staatliche Organe.
Die Mordserie und die Anschläge der rechtsextremen Terrorgruppe haben uns erschüttert. Unfassbar ist, dass die untergetauchte Gruppe mit Unterstützung eines breiten Netzwerks mehr als ein Jahrzehnt unbehelligt Gewalttaten begehen konnte. Und dies trotz Beobachtung der Neonazi-Szene durch Verfassungsschutz und andere staatliche Organe.
Die Morde der „Zwickauer Terrorgruppe“ sind keine singulären Ereignisse. Nach Recherchen des Tagesspiegels wurden seit 1990 in Deutschland mindestens 148 Menschen Opfer rechter Gewalt. Viele der Taten tauchen in den offiziellen Statistiken nicht auf.
Eine umfassende strafrechtliche Aufklärung aller rassistischen Morde und Anschläge ist erforderlich. Es müssen auch die Personen in den Blick genommen werden, die eine Aufdeckung behindert haben. Aufgeklärt werden müssen die mittel- und unmittelbaren Verbindungen zu staatlichen Organen sowie die Verantwortung für die Ermittlungspannen. Daneben ist eine politische Aufarbeitung der Vorgänge und Strukturen notwendig, die zum Versagen staatlicher Organe beim Schutz vor rechtsextremen Gewalttaten geführt haben.
Wir trauern um die Opfer rechtsextremer und rassistischer Mord- und Gewalttaten. Wir fühlen mit den Angehörigen und Freunden. Jahrelang haben die Ermittlungsbehörden rassistische Mordmotive ausgeschlossen. Die einseitigen Ermittlungen in Richtung „Ausländerkriminalität“ haben gedanklich die Opfer zu Mittätern gemacht und die Familien der Opfer auf unerträgliche Weise zusätzlich belastet. Unübersehbar liegt dieser nun eingestandene (Ermittlungs-)Fehler in latent rassistischen Strukturen der Ermittlungsbehörden.
Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt und ihre Angehörigen bleiben häufig mit den psychischen und finanziellen Folgen allein. Teilweise sind sie gezwungen ihre Beschäftigung, ihren Lebensmittelpunkt und ihre Freunde aufzugeben. Solidarität mit den Opfern und Angehörigen erfordert daher individuelle Unterstützung sowie den Auf- bzw. Ausbau von Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer Gewalt und eine Ausweitung der Programme zur Opferentschädigung.
Die Auseinandersetzung mit den Morden und Anschlägen und deren Aufklärung darf nicht reduziert werden auf die Bekämpfung von Gewalttaten und Naziterror durch repressive Maßnahmen oder eine stärkere Beobachtung der Neonazi-Szene. Auch die dahinter stehenden neonazistischen und rechtsextremen Grundüberzeugungen müssen bekämpft werden. Seit Jahren verbreitet die NPD ihre rassistische und teils auch nationalsozialistische Ideologie. Nicht zu akzeptieren ist, dass rassistische Propaganda auch noch von denjenigen bezahlt werden muss, die Ziel der Angriffe sind. Rechtsextreme Gruppierungen dürfen nicht länger unter dem Deckmantel einer zugelassenen Partei Aufmärsche, Demonstrationen und Veranstaltungen durchführen können. Wegen der menschenverachtenden, demokratiefeindlichen, antidemokratischen und antisemitischen Ideologie ist ein Verbot der NPD zu prüfen. Ein neues Verbotsverfahren muss aber gründlich und auf Basis der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vorbereitet werden.
Erforderlich ist eine gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit rassistischen und rechtsextremen Einstellungen in der Bevölkerung. Die Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für Partizipation sind vielfältig: Sie reichen von individueller und struktureller Diskriminierung in Bildung, Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche bis hin zu Verdächtigungen und Vorverurteilungen.
Rechtsextreme Gruppierungen greifen in ihrer Propaganda und ihren Aktivitäten gesellschaftliche Missstände auf und deuten diese im Sinne ihrer Ideologie um. Demokratische Organisationen und Parteien müssen sich aktiv gegen Versuche der Rechtsextremen wehren, Einfluss auf lokale Politik und soziale Arbeit zu nehmen. Rechtsextreme lassen sich in Heim- und Kindergartenbeiräte wählen. Sie bieten Liederabende in Pflegeeinrichtungen an. Hier müssen die demokratischen Verbände Widerstand leisten. Demokratiefreie Zonen darf es nicht geben.
Wer Rassismus und Rechtsextremismus nachhaltig bekämpfen will, darf in seinen Aktivitäten und Maßnahmen nicht an den sichtbaren Ereignissen stehen bleiben. In den Blick gerückt werden müssen rassistische und rechtsextreme Ideologien. Eine nachhaltige Überwindung von Rassismus und Rechtsextremismus erfordert eine Mainstreaming-Strategie, die in allen gesellschaftlichen und politischen Handlungsfeldern verankert werden muss. Einbezogen werden müssen dabei auch die Empfehlungen internationaler Organe zum Menschenrechtsschutz.
Wir fordern, dass die politischen Parteien und staatlichen Einrichtungen, einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus und rassistischen Diskriminierungen gemeinsam mit demokratischen Organisationen entwickeln.
Dabei einbezogen werden muss auch die Politik gegenüber Zugewanderten, die diese immer noch von grundlegenden Partizipationsrechten ausschließt. Gefordert sind
- eine stärkere Förderung des Opferschutzes und der Opferberatung,
- eine Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, die sich die Analyse rechtsextremer Organisationen und Gruppen zum Ziel gesetzt haben,
- die Einrichtung und Förderung einer unabhängigen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Rechtsextremismus,
- eine Weiterentwicklung und Ausweitung der Menschenrechtsbildung, als Baustein antirassistischer Bildungsarbeit, und
- die Entwicklung von Instrumenten zur Förderung demokratischer Strukturen der Zivilgesellschaft.
Wir wollen eine Gesellschaft, in der Rassismus und Rechtsextremismus geächtet werden. Deshalb rufen wir alle Organisationen, Parteien und Gruppen, aber auch jede/n Einzelne/n auf, sich gegen Rassismus und Ausgrenzung zu wenden und sich für eine vielfältige und demokratische Gesellschaft einzusetzen.
Berlin, den 30.01.2012
- Bekir Alboğa, Sprecher des Koordinationsrates der Muslime (KRM)
- Berrin Alpbek, Bundesvorsitzende der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland
- Antonio Beltrán, Vorsitzender des Bundes der Spanischen Elternvereine in der B.R.D. e.V.
- Milan Cobanov, Stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Serben in Deutschland
- Ali Dere, Vorsitzender des Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB)
- Brigitte Döcker, Mitglied des Vorstands, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband
- Nashaat Elfar, Bundesverband Deutsch-Arabischer Vereine in Deutschland
- Prof. Dr. Max Fuchs, Präsident des Deutschen Kulturrates
- Ahmet Güler, Vorsitzender des Bundes Türkisch-Europäischer Unternehmer
- Dr. Eberhard Jüttner, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtverbandes
- Prof. Dr. Recep Keskin, Vorsitzender des ATIAD, Verband Europäischer Türkischer Unternehmer und Industrieller
- Sanem Kleff, Vorstandsvorsitzende von Aktion Courage e.V.
- Peter Knuff, Vorstandsvorsitzender – bundesverband deutscher vereine & verbände e.V. bdvv
- Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland
- Prof. Martin Maria Krüger, Präsident des Deutschen Musikrates
- Dr. Cebel Küçükkaraca, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein
- Franco Marincola, Vorsitzender CGIL-Bildungswerk e.V.
- Dr. Jürgen Micksch, Vorsitzender Interkultureller Rat in Deutschland
- Bettina Müller-Sidibé, Bundesvorsitzende des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.
- Giovanni Pollice, Vorsitzender des Vereins “Mach meinen Kumpel nicht an!”
- Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin, Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte
- Wilhelm Schmidt, Vorsitzender des Präsidiums der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband
- Gökay Sofuoğlu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg
- Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
- Erhan Songün, Vorsitzender des Türkischen Gemeinde in Hessen
- Wolfgang Stadler, Vorsitzender des Vorstands Arbeiterwohlfahrt Bundesverband
- Mehmet Tanrıverdi, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland (BAGIV e.V.)
- Osman Timur, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Niedersachsen
- Yücel Tuna, Bundesvorsitzender der Föderation der Lehrervereine in Deutschland
- Hilmi Kaya Turan, Sprecher des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg
- Dr. Vural Ünlü, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Bayern
- Rebecca Weis, Geschäftsführung Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e.V.
- Hüseyin Yılmaz, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Hamburg und Umgebung
** Zuerst veröffentlicht von der Türkischen Gemeinde in Deutschland: www.tgd.de
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