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Streitfrage: Verfassungsschutz - reformieren oder abschaffen?

Es debattieren: Jan Korte und Wolfgang Neskovic (beide MdB Die Linke)


Jahrelang zog der »Nationalsozialistische Untergrund« mordend durch die Bundesrepublik. Zehn Menschen fielen dem Killertrio zum Opfer, darunter neun mit Migrationshintergrund. Trotz Hinweisen, die auf einen extrem rechten Hintergrund der Mordserie hindeuteten, verfolgte weder das Bundesamt für Verfassungsschutz (VS) noch eines der Landesämter des Inlandsgeheimdienstes diese Spur. Hinzu kommt, dass der VS V-Männer und -Frauen in die rechte Szene eingeschleust hat. Ein Umstand, der zum Beispiel einem Verbot der neonazistischen NPD im Weg stand.

Im Zuge der Versäumnisse des VS wird unter Linken die Frage nach Sinn und Zweck dieser Behörde gestellt. Muss sie reformiert werden oder gehört sie abgeschafft?


Es gibt kein demokratisches Spitzeln

Von Jan Korte *

Der Inlandsgeheimdienst, verharmlosend »Verfassungsschutz« (VS) genannt, ist nicht reformierbar. Er gehört abgeschafft. Warum vertritt die Partei DIE LINKE konsequent diese Position? Warum wurde dies sogar 2011 in das Erfurter Grundsatzprogramm aufgenommen? Hierfür gibt es viele Gründe:

Zunächst sind Geheimdienste an sich Fremdkörper in einer Demokratie. Sie entziehen sich im Wesentlichen den demokratischen Geboten von Transparenz, parlamentarischer und öffentlicher Kontrolle. Es gibt kein demokratisches Spitzeln und keinen kontrollierbaren V-Leute-Komplex. Ein Geheimdienst tendiert kraft seiner Existenz und dem ihm immanenten Geheimnis- und Bedrohungswahn zur Desinformation, zur Verdunkelung und zum potenziellen Rechtsbruch. All dies sind Gründe genug, den VS aufzulösen.

Und der VS hat eine lange, sehr deutsche Geschichte, die den Feind der Demokratie nur in Linken sieht. Auf dem rechten Auge ist er blind. Auch das hat Gründe: Das Bundesamt und die Verfassungsschutzämter der Länder wurden 1950 gegründet, in der »restaurativen Epoche« (Walter Dirks). Die alten Nazis waren wieder am Werk. Die antikommunistischen Experten der SS waren gefragt. Diese wiederum bedienten ihre Kameraden oft, indem sie sie zu V-Leuten machten. Mit dem anstehenden KPD-Verbotsverfahren kam die Behörde dann richtig in Fahrt. Kommunistinnen und Kommunisten, andere Linke und FriedensaktivistInnen waren im Visier. Ehemalige Nazis konnten da weitermachen, wo sie 1945 gezwungenermaßen aufhören mussten: Bei der Verfolgung von Linken - wenn auch rechtsstaatlich in ihrem Treiben beschränkt. Nach dem KPD-Verbot 1956 war der antikommunistische Kreuzzug aber längst noch nicht vorbei: Studenten mussten überwacht, bespitzelt und die Bedrohung als dramatisch herbeiphantasiert werden. In den siebziger Jahren lieferte der Verfassungsschutz die Dossiers zum Radikalenerlasses. Tausende von Berufsverbotsverfahren waren ab 1972 die Folge, denen fast ausschließlich Linke zum Opfer fielen. Man kann diese Liste beliebig fortsetzen: Anti-Atom-Proteste, die Anti-Volkszählungsbewegung, Widerstand gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm... Das Muster ist immer gleich und hat stets jene im Blick, die mittels Protest, Nachdenken, Lesen, Publizieren und Demonstrieren Kritik an den herrschenden Zuständen äußern. Der Verfassungsschutz stand immer auf der falschen Seite. Soweit zur Geschichte.

Was wir aber aktuell erleben müssen, ist selbst für die konsequentesten Kritiker des VS kaum denkbar gewesen. Über zehn Jahre zieht eine Nazibande durch Deutschland und ermordet zehn Menschen. Der Geheimdienst unterhält ein V-Leute-System, welches selber Teil des Naziproblems geworden ist und bekommt angeblich nichts mit. Während selbst bürgerliche Journalisten feststellen, dass die Unkenntnis schon schlimm genug ist, es aber noch schlimmer wäre, »wenn er etwas erfahren, aber nichts dagegen getan hätte. Das wäre fast eine Art Beihilfe, und man weigert sich, so etwas zu denken« (Heribert Prantl), muss man diese Weigerung in Frage stellen. Der VS ist eben keine auf Abwege geratene Feuerwehr, sondern eine staatliche Organisation von Brandstiftern. Oder wie ist sonst zu erklären, dass der VS Akten zur NSU-Terrorzelle schreddert? Natürlich ist dies kein Zufall, sondern gezielte Verschleierung. Und das Schreddern eventuell belastender Akten ist im System eines Geheimdienstes angelegt. Ebenso, dass die verantwortlichen Politiker und Innenminister am Nasenring durch die Manege gezogen werden.

Dass diese Politiker, die Verantwortung übernehmen müssten, parallel weiter ihre antikommunistische Kampfbehörde namens »Verfassungsschutz« gegen Mitglieder und Abgeordnete der Linkspartei in Stellung bringen, machte den Irrsinn komplett. Was wollen sich Öffentlichkeit und Politik eigentlich noch alles gefallen lassen? Die Empörung ist zu gering und den Vorgängen nicht angemessen.

Die BürgerInnen haben das Recht, scharfe, sarkastische und zugespitzte Kritik an Gesellschaft und Staat zu üben, was die Kritik der Sicherheitsarchitektur einschließen muss. Diese Kritik ist Triebkraft einer lebendigen Demokratie. Sie mit Geheimdienstmethoden einzuschüchtern, ist antidemokratisch.

Was tun? Nach so viel unaufgearbeiteter Geschichte, Skandalen, Vertuschungen, Falschinformationen und Verselbstständigung kann es kein »weiter so« geben. Die vom VS zusätzlich gewonnenen Befugnisse im Anti-Terror-Kampf müssen sofort zurückgenommen werden. Die Politik muss konkrete Schritte zur Auflösung dieser Behörde ergreifen. Die Alternative sind offen und transparent arbeitende Forschungs- und Dokumentationsstellen. Ein Großteil der eingesparten Gelder sollte zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Verfügung gestellt werden. Denn diese sind die wirklichen Verfassungsschützer.

* Jan Korte, 1977 geboren, ist Innenpolitiker der LINKEN und seit 2005 Mitglied des Bundestages.


Dem Dienst die Unheimlichkeit nehmen

Von Wolfgang Neskovic **

Der Verfassungsschutz war den Linken immer schon unheimlich. Das ist verständlich. Der Dienst scheint von jeher ein Eigenleben im Staat zu führen. Es ist die unheimliche Heimlichkeit der Geheimdienste und ihr unkontrolliertes Agieren im Schatten, welche die Forderungen nach ihrer Abschaffung beflügeln.

Doch das Gegenteil fehlender Kontrolle ist nicht Abschaffung, sondern eine wirksame rechtliche und tatsächliche Kontrolle. Die Feuerwehr, die einen Brand nicht löscht, wird nicht abgeschafft, sondern überprüft und verbessert. Wenn die Polizei Demonstranten verprügelt, dann fordert die Linke nicht deren Abschaffung, sondern ihre Kennzeichnung zur besseren Aufklärung von Straftaten im Amt. Schließlich fordert auch niemand die Abschaffung von Staatsanwaltschaft und Polizei, obwohl das Versagen der Sicherheitsbehörden bei den Mordtaten der NSU vorrangig ein Versagen dieser beiden war. Denn sie sind für die Verfolgung von konkreten Straftaten und die Festnahme von Tatverdächtigen zuständig und nicht der Verfassungsschutz. Dies wird in der öffentlichen Diskussion von Unkundigen übersehen und von Kundigen ignoriert, weil es den Mangel der eigenen Argumentationslogik, die auf Abschaffung des Dienstes abzielt, offenbart.

Deswegen gibt es nur eine Schlussfolgerung. Es muss mit effizienten Kontrollstrukturen dafür gesorgt werden, dass der Verfassungsschutz ausschließlich die Aufgabe erfüllt, die ihm zugewiesen ist: Schutz der Verfassung vor ihren wirklichen Feinden. Nur so wird dem Verfassungsschutz die Unheimlichkeit genommen.

Zunächst müssen die gesetzlichen Grundlagen für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes einer umfassenden Revision unterzogen werden. Das entsprechende Regelwerk eröffnet einen quasi-rechtsfreien Raum. Denn es enthält eine maximale Anhäufung von schwammigen und unpräzisen Rechtsbegriffen. Dieses »entgrenzte Recht« verschafft dem Dienst rechtliche Narrenfreiheit. Doch die im Rechtsstaat notwendigen Grenzziehungen müssen auch und gerade für die Geheimdienste gelten. Für sie muss zweifelsfrei und unmissverständlich feststehen, was erlaubt und was verboten ist. Weiterhin muss die administrative Kontrolle durch die verantwortlichen Ministerien deutlich erhöht und durch konkrete Dienstvorschriften verbessert werden. Verantwortlichkeiten müssen klar definiert werden. Bei wichtigen Entscheidungen muss das Vier-Augen-Prinzip gelten: Keine wichtige Entscheidung darf allein von einer Person getroffen werden. Außerdem müssen verstärkt Begründungs- und Dokumentationspflichten eingeführt werden. So können Verantwortlichkeiten besser ermittelt und Sanktionen erfolgreicher ungesetzt werden.

Schließlich muss eine parlamentarische Kontrolle gewährleistet werden, die diesen Namen verdient. Das setzt zunächst eine deutlich bessere Personal- und Sachausstattung für die kontrollierenden Abgeordneten und ihr Gremium voraus. Vor allen Dingen muss jeder einzelne Abgeordnete im Gremium über sämtliche Kontrollrechte des Gremiums verfügen. Bislang unterliegen diese Rechte der Mehrheitsentscheidung im Gremium. Parlamentarische Kontrolle wird ad absurdum geführt, wenn die Regierungsfraktionen es mit ihrer Mehrheit in der Hand haben, ob und in welchem Umfang ihre Regierung und deren Dienst überhaupt kontrolliert werden. Das wäre so, als wenn der Angeklagte in einem Strafprozess über den Umfang der Beweisaufnahme verfügen könnte. Sein Freispruch wäre reine Formsache.

Überlegungen zur Einführung wirkungsmächtiger Kontrollstrukturen beim Verfassungsschutz lassen sich nicht mit der Behauptung vom Tisch wischen, er sei ohnehin nicht kontrollierbar. Dies wird man seriös erst beurteilen können, wenn der Versuch einer effizienten Kontrolle gescheitert ist. Ein solcher empirischer Nachweis lässt sich nicht mit der ideologisch motivierten Behauptung der Unkontrollierbarkeit ersetzen.

Gegen die Abschaffung des Verfassungsschutzes spricht auch unsere Verfassung. Danach kann die Aufgabe des Dienstes - Frühwarnfunktion für Politik und Sicherheitsbehörden - nicht abgeschafft werden. Diese Aufgabe genießt Verfassungsrang. Wenn Abschaffungsbefürworter diese Aufgabe der Polizei übertragen wollen, geraten sie in einen nicht behebbaren Konflikt mit dem sogenannten Trennungsgebot. Dieses fordert eine strikte Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten. Danach soll die Polizei zwar viel tun dürfen, aber nicht alles wissen. Der Geheimdienst darf viel wissen, aber nicht alles tun. Wer nun beides vermischt, der sorgt für Polizisten, die mit voller exekutiver Macht die Überwachungen der politischen Gesinnung betreiben können. Das gab es schon einmal. Es war an Unheimlichkeit nicht zu übertreffen.

** Wolfgang Neskovic, Jahrgang 1948, ist Justiziar der Linksfraktion im Bundestag.

Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, Samstag, 4. August 2012 ("Debatte")


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