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Delikt Antikapitalismus

Der Verfassungsschutz hat wieder mal die "Extremisten" gezählt. Ergebnis: Die Linken sind schlimmer – auch wenn sie Wert darauf legen, keine Unbeteiligten zu schädigen

Von Ulla Jelpke *

Nach Zählung des Verfassungsschutzes gibt es erheblich mehr gewaltbereite Nazis als sogenannte »Linksextremisten«: Dem Amt zufolge beträgt das Verhältnis 9500 zu 6800. Für die linke Szene bedeute das einen leichten Anstieg um 200, bei der rechten Szene um 500 »Gewaltbereite«. Die Zahlen finden sich im Jahresbericht 2010 des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am Freitag (1. Juli) in Berlin vorstellte.

Friedrich beeilte sich, die Zahlen passend zu interpretieren: Betrachte man die Straftaten, »bei denen tatsächlich Gewalt angewandt wird, stellt man fest: Sie werden mehrheitlich von Linksextremisten verübt.« Zudem gebe es gegenwärtig »gigantisch anwachsende Zahlen«.

Mehr militante Nazis

In der Sichtweise des Verfassungsschutzes gilt als »linksextrem«, wer den Kapitalismus überwinden will. Dementsprechend wird der Partei Die Linke vorgeworfen, antikapitalistische Zusammenschlüsse zu tolerieren bzw. deren Vertreter gar in den Vorstand zu wählen. Genannt werden die Sozialistische und die Antikapitalistische Linke, die Kommunistische Plattform und der Geraer Dialog. Gemeint ist aber die ganze Partei: Als schwer belastendes Indiz vermerkt der Verfassungsschutz, daß im Entwurf des Parteiprogramms die »Überwindung der Dominanz kapitalistischen Eigentums in der Wirtschaft« gefordert wird. In der Partei sammelten sich Kräfte, die eine Veränderung der Staats- und Gesellschaftsform wollten, so Friedrich, der daraus folgerte, sie werde zu Recht beobachtet.

Insgesamt gibt es nach amtlicher Feststellung 32600 »Linksextremisten« und 25000 Rechtsextremisten. Bei letzteren handelt es sich u.a. um 6600 NPD-Mitglieder sowie 3000 Mitglieder der in Auflösung befindlichen Deutschen Volksunion. Damit hat die Anhängerschaft von Naziparteien deutlich abgenommen (2009 waren es noch 11300 Mitglieder). Zugelegt hat hingegen der harte Kern an Neonazis: Von 5000 auf 5600. Dabei seien die Autonomen Nationalisten »die am schnellsten wachsende Strömung« mit jetzt rund 1000 Angehörigen. Der Bericht vermerkt kontinuierliche Kooperationen auf internationaler Ebene und nennt die vor allem in Nordrhein-Westfalen tätigen »Pro-Bewegungen«, die mit Faschisten aus Österreich, Spanien und Belgien antimuslimische Kampagnen führen.

Neofaschisten schreibt der Verfassungsschutz insgesamt 16375 Straftaten zu, darunter 806 Gewalttaten, jeweils rund 15 Prozent weniger als im Vorjahr. Einen ähnlichen Rückgang gab es bei den Linken: Auf 6898 Straftaten und 1377 Gewalttaten. Dabei wird unterstellt, insbesondere Autonome und Antifaschisten griffen gezielt Polizeibeamte an. Inwiefern es sich dabei um die Abwehr polizeilicher Angriffe auf linke Demonstrationen handelt, wird nicht erfaßt. Der Verfassungsschutz registriert hierbei sogar das nächtliche Werfen von Farbeiern auf Gebäude. Es werden einige Brandstiftungen an Bundeswehrfahrzeugen aufgeführt, aber auch vermerkt, daß den Täten viel daran liege, keine Unbeteiligten zu schädigen. Dessen ungeachtet gab Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) am Freitag den Oberscharfmacher und warf linken Gewalttätern vor, sie stünden »an der Schwelle zu einem neuen Linksterrorismus«. Initiativen wie der »Interventionistischen Linken« wird vorgeworfen, eine »Scharnierfunktion« zwischen gewaltbereiten und nicht-gewaltbereiten Linken zu erfüllen.

Antifaschismus illegitim

Auf der Pressekonferenz warnte Friedrich vor einer Gewaltspirale: Es gebe sowohl bei Linken als auch bei Rechten zunehmend Bereitschaft, die jeweiligen Gegner direkt anzugreifen. Der Minister ließ allerdings keinen Zweifel, daß er auch die nicht-militante Arbeit von Antifagruppen für illegitim hält: Diesen ginge es in Wahrheit gar nicht um den Kampf gegen die Nazis, sondern um einen Kampf gegen die Demokratie. Als »Beleg« muß wiederum linke Kritik am Kapitalismus herhalten.

Widersprüchlich zeigt sich der Bericht bei der Beschreibung der alljährlich im Februar stattfindenden Neonaziaufmärsche in Dresden: Einerseits betont der Verfassungsschutz, solche Aufmärsche hätten für die Rechten »hohe Signalwirkung«, umso schwerer wiege daher der Umstand, »daß die bisher größte derartige Veranstaltung, der … Trauermarsch« in Dresden … im Jahr 2010 durch Sitzblockaden, Straßensperrungen und Barrikadenbau verhindert werden konnte«, was für die Nazis »frustrierende Mißerfolge« darstellten. An anderer Stelle wird dagegen genau diese Leistung als »typische militante Aktionen von Linksextremisten« diffamiert.

Last not least betonte Friedrich, auch im Bereich des »islamistischen Terrorismus« gebe es »keinen Grund zur Entwarnung«. Die Mitgliederzahl islamistischer Vereinigungen sei um 1200 auf 37470 gestiegen.

* Aus: junge Welt, 2. Juli 2011


Wie viel Antifaschismus ist erlaubt?

Streit um linke Gewalt anlässlich der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2010

Von Katja Herzberg **


Der Verfassungsschutzbericht weist einen Rückgang links- und rechtsextremer Gewalt aus. Die Opferberatung Sachsen-Anhalt kritisiert die Statistik.

Die Bundesrepublik Deutschland müsse gegenüber jeglichem Extremismus wachsam sein. Dies stellte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) seinem Vortrag zum Verfassungsschutzbericht 2010 voran. Anschließend nahm die Diskussion um Gefahren, ausgehend von »gewaltbereiten Linksextremisten« und insbesondere von Autonomen, Fahrt auf.

Im vergangenen Jahr sind die Straftaten mit »linksextremistischem« Hintergrund nach Angaben des Bundeskriminalamts um 20,8 Prozent auf 3747 gesunken. Davon wurden ebenso rückläufige 944 Gewalttaten gezählt. Der Innenminister verwies allerdings – ohne valide Aussagen für 2011 treffen zu wollen – auf einen enormen Anstieg linker Straftaten in den letzten Monaten. Die Erkenntnisse des Berichts, den er soeben vorstellte, seien »keine Wende, sondern eine Ausnahme«. Brennende Autos und die Überfälle auf Nazis in Berlin in der vergangenen Woche seien Beispiele dafür. »Wir haben durchaus die Gefahr einer Gewaltspirale«, konstatierte Friedrich und verwies auf eine erhebliche Belastung für die Polizeikräfte. Die antifaschistischen Proteste gegen zunehmende Aufmärsche von Neonazis, gegen Atomkraft und die Räumung von Wohnprojekten, bei denen viele der als Gewalttaten eingeordneten Landfriedensbrüche, Widerstandsdelikte und Angriffe auf Polizisten, in den letzten Monaten verübt wurden, nannte Friedrich nicht. Die Äußerungen des Innenministers von Niedersachsen, Uwe Schünemann (CDU), Deutschland stehe womöglich »ein neuer Linksterrorismus« bevor, kommentierte er bejahend: »Wenn der Trend so anhält, muss man Sorge haben, dass er Recht behält.«

Friedrich rechtfertigte die fortwährende Beobachtung der LINKEN. In der Partei würden sich Kräfte sammeln, die die Veränderung der freiheitlich demokratischen Grundordnung anstreben. Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der LINKEN, sieht darin eine »Instrumentalisierung der Schlapphüte für parteipolitische Zwecke« und forderte die Eingrenzung der Befugnisse des Verfassungsschutzes (VS).

Wie in den vergangenen Tagen bereits berichtet wurde, sind nach Angaben des VS auch die »rechtsextremistisch motivierten« Straftaten gesunken. Von 15 905 Gewalttaten wurden bundesweit 762 Gewaltdelikte gezählt. In den neuen Bundesländern hat die Zahl von 290 auf 304 Gewalttaten entgegen dem Bundestrend jedoch zugenommen. Die Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt, das im Länderranking mit 2,84 rechtsextremen Gewalttaten je 100 000 Einwohner an der Spitze liegt, hat sogar noch mehr politisch rechte und rassistische Gewalt registriert. »Wir dokumentieren auch Gewaltstraftaten, die nicht zur Anzeige gebracht werden. Zudem werden einige Taten trotz eindeutiger Hinweise von den Behörden nicht als rechts motiviert eingestuft«, sagte eine Sprecherin. Ihre Organisation geht davon aus, dass auch in den westdeutschen Ländern mehr rechts motivierte Gewalt existiert, als die offiziellen Zahlen erkennen lassen.

Angesichts des Berichts sprach sich die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, für den Ausbau von Bundesprogrammen für Demokratieförderung aus. Sie müssten »erhalten und ausgebaut werden, nicht gestrichen und gekürzt, um die Akteure zu gängeln«. Die beste Prävention sei laut der Mobilen Opferberatung jedoch die Unterstützung nicht-rechter und alternativer Jugendkultur.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Juli 2011


Terrorgerede

Von Katja Herzberg ***

Wenn es die Zahlen eines 300 Seiten umfassenden Berichts nicht hergeben, muss ein Phänomen eben herbeigeredet werden. So verhielt es sich gestern bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2010.

Während wenige Tage zuvor noch der erneute Anstieg von Nazi-Gewalt in den ostdeutschen Bundesländern für Aufregung sorgte, stellte Bundesinnenminister Hans-Peter-Friedrich (CSU) einen Anstieg vermeintlich linksextremistischer Straftaten in den Vordergrund – wohlgemerkt für dieses Jahr. 2010 haben die Behörden noch einen 20-prozentigen Rückgang festgestellt. Sein Kollege in Niedersachsen, Uwe Schünemann (CDU), fühlte sich sogar bemüßigt, Deutschland »an der Schwelle zu einem neuen Linksterrorismus« zu beschreiben. Dass die gezählten Gewalttaten bei vielen Blockaden von Nazi-Aufmärschen, Anti-Atomkraft-Protesten und der Räumung von alternativen Wohnprojekten »verübt« wurden, interessiert den Innenminister dabei nicht. Er vergleicht lieber brennende Luxusautos mit den Sprengstoffanschlägen der RAF.

Dass aber erst im Februar militante Neonazis wegen versuchter Bombenanschläge zu Haftstrafen verurteilt wurden, befinden die Minister als nachrangig. Schlimmer noch: Das konservative Lager nutzt die Konstruktion des Linksextremismus, um von seiner eigenen Schwäche im Kampf gegen Neonazismus und Rechtspopulismus abzulenken. Dabei fehlen nicht nur die Konzepte, sondern auch der politische Wille.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Juli 2011 (Kommentar)

Der VS-Bericht im Orginalton

Was sich der Verfassungsschutz über Linke zusammenreimt: Eine Auswahl

Von Ulla Jelpke


Die »Antifaschismus-Arbeit« gehört seit jeher zu den Kernaktivitäten von Linksextremisten. Dabei richten sie sich nur vordergründig auf die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen. Ziel ist es vielmehr, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden, um die dem »kapitalistischen System« angeblich zugrunde liegenden Wurzeln des »Faschismus« zu beseitigen.

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Die Partei »Die Linke« sammelt unter dem Begriff »Pluralismus« u. a. solche »linken« Kräfte, welche das Ziel einer grundlegenden Veränderung der bisherigen Staats- und Gesellschaftsordnung verfolgen. Ungeachtet des nach außen hin ambivalenten Erscheinungsbildes liegen zahlreiche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen in der Partei vor, insbesondere die uneinheitliche Haltung gegenüber linksextremistischer Gewalt und die umfassende Akzeptanz offen extremistischer Zusammenschlüsse in ihren Reihen.

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Das Aktionsfeld »Antimilitarismus« stand auch 2010 im Fokus der politischen Arbeit von Linksextremisten. Allerdings war das Aktionsniveau im Vergleich zu den beiden Vorjahren, die durch die Mobilisierung gegen den von Deutschland und Frankreich gemeinsam ausgerichteten NATO-Gipfel anläßlich des 60jährigen Bestehens der Verteidigungsgemeinschaft Anfang April 2009 geprägt waren, erkennbar geringer.

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Nach wie vor stehen die Auslandseinsätze der Bundeswehr, insbesondere in Afghanistan, im Mittelpunkt antimilitaristischer Kritik. Damit einher geht die Ablehnung der NATO und ihre Einsätze in Krisengebieten. An einer Großdemonstration unter dem Motto »Aktiv werden gegen NATO-Kriegspolitik!« am 6. Februar 2010 in München gegen die »46. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik« beteiligten sich rund 2200 Personen, darunter zahlreiche Linksextremisten und ein sogenannter Schwarzer Block mit bis zu 450 Teilnehmern.

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Den Schwerpunkt der linksextremistisch beeinflußten Aktivitäten (in Zusammenhang mit dem Castortransport – U. J.) bildete die Kampagne »Castor? Schottern!«, die zum Ziel hatte, die Transportstrecke durch Entfernen der Steine aus dem Gleisbett unbefahrbar zu machen. Den Organisatoren der Kampagne gelang es, bis zu 7000 – überwiegend nichtextremistische – Protestteilnehmer für diese Aktionsform zu mobilisieren.

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Linksextremisten versuchen seit jeher durch die Teilnahme an sozial-politischen Auseinandersetzungen, im kommunistischen Sprachgebrauch »Ökonomischer Kampf«, Zuspruch für ihre letztlich system-überwindenden Ziele zu erhalten. Dementsprechend beteiligten sich Linksextremisten unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung im Jahr 2010 an der Protestreihe »Wir zahlen nicht für Eure Krise«, die von einem gleichnamigen Bündnis getragen wurde, dem überwiegend demokratische Organisationen angehören.

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Im gewaltbereiten Segment des Linksextremismus ist seit einiger Zeit eine Verschärfung der Diktion feststellbar, die einhergeht mit einer qualitativen Veränderung der Gewalt. Die Anschläge von linksextremistischen Tätern weisen z.T. eine signifikant erhöhte Aggressivität und Risikobereitschaft auf. Körperliche Angriffe auf »politische Gegner«, d. h. auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten und Polizeibeamte, werden durchgängig befürwortet.


(jW, 2. Juli 2011)




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