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Analyse und Polemik

Überraschungen aus dem Archiv: Band 6 der Gesammelten Werke von Rosa Luxemburg erschienen

Von Jörg Wollenberg *

Endlich liegt er vor, der sechste Band der Gesammelten Werke von Rosa Luxemburg, herausgegeben und bearbeitet von Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Es handelt sich um den ersten von drei Ergänzungsbänden zu der fünfbändigen Gesamtausgabe, die zwischen 1970 und 1975 im Berliner Karl Dietz Verlag erschien, herausgegeben im Auftrag vom Institut für Marxismus-Leninismus (IML) beim ZK der SED von einem Autorenteam um Günter Radczun und Annelies Laschitza.

Der fast 1000 Seiten umfassende sechste Band berücksichtigt alle zugänglich gebliebenen Schriften und handschriftlichen Zeugnisse aus den Jahren 1893 bis 1906, die bislang aus unterschiedlichen Gründen der Veröffentlichung harrten oder gar bislang unbekannt blieben. Insgesamt 270 Dokumente werden erstmals veröffentlicht – vorwiegend deutsche Texte, davon acht Übersetzungen aus dem Französischen und zahlreiche Texte aus dem Russischen und Polnischen. Darunter befinden sich einige Besonderheiten und Überraschungen. Neben den Arbeiten zu Lenin und zu Organisationsfragen der Partei werden das handschriftliche Notizen zu Luxemburgs Promotionsverfahren an der Universität Zürich von 1897 aufgeführt, die aus dem Nachlaß von Jürgen Kuczynski stammen. Und es gibt weiter handschriftliche Notizen von 1902 für Franz Mehring als Kritik zu Bemerkungen von Friedrich Engels zur Polenfrage.

Den größten Umfang nehmen erstmals veröffentlichte Dokumente aus sozialdemokratischen Presseorganen und Reden Luxemburgs ein, ergänzt um behördliche Untersuchungsakten der politischen Polizei. Diese erlauben einen genauen Blick auf die Resonanz und den Erfolg von Rosa Luxemburg als Rednerin auf Volks- und Wahlversammlungen in Frankreich, Polen und Deutschland, ergänzt um Reden auf Tagungen der Internationalen Sozialistenkongresse seit 1893. Wir lernen hier noch einmal jene überragende Rhetorikerin und exzellente Journalistin kennen, deren politischer Scharfblick und gefürchtete Polemik zwischen 1893 und 1906 nicht nur den Vorstand und die Mitglieder der Sozialdemokratie beeindruckten und provozierten. Angesichts der Zeitungsmisere von heute fasziniert der Blick auf ihre Leitungs- und Redaktionstätigkeit bei großen Blättern der SPD: 1898 als Chefredakteurin der Sächsischen Arbeiter-Zeitung in Dresden; 1902 in der gleichen Funktion bei der Leipziger Volkszeitung zusammen und konflikt­reich mit Franz Mehring umgesetzt; und ab Oktober 1905 in der Nachfolge von Kurt Eisner als Chefredakteurin beim Vorwärts. Hier sollte sie im Aufwind der russischen Revolution und nach dem Jenaer Parteitag das bis heute zentrale Presseorgan der deutschen Sozialdemokratie im Auftrag des Parteivorsitzenden August Bebel zugunsten der Linken umgestalten. Ein Hauptteil des Bandes umfaßt auf über 300 Seiten diese »Sisyphusarbeit« mit Kommentaren zu Meldungen in ihrer Vorwärts-Rubrik »Aus der Partei«. Mit der von ihr eingeführten Rubrik gelang es Luxemburg, zu Grundproblemen der Politik unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen zu lassen und das Blatt für kritische Beiträge aus den Parteiorganisationen und Gewerkschaften zu öffnen. Erstmals werden hier 38 Aufsätze abgedruckt, die die Handschrift Rosa Luxemburgs tragen.

Neue Epoche

Daß Rosa Luxemburg damals noch die Zeit fand, zu Vortragsreisen vor oft Hunderten und Tausenden von Zuhörern aufzubrechen, dokumentiert der Band an eindrucksvollen Beispielen. So fuhr sie nach dem Jenaer Parteitag Ende September 1905 in das Ruhrgebiet, um an drei Tagen sechs Versammlungen zu bestreiten, davon eine Volksversammlung in Essen vor etwa 3000 Zuhörern. Die Presse und die politische Polizei überboten sich immer wieder in Würdigungen der »geistessprühenden, ebenso formschönen als gemeinverständlichen Ausführungen«, wie zum Beispiel das Hamburger Echo am 25. Juni 1903.

Der Band wird abgeschlossen mit Luxemburgs Kommentaren zur »neuen Epoche der russischen Revolution«. Der Vorwärts veröffentlichte ihre täglichen Nachrichten und Analysen zu den dortigen Ereignissen vom 9. November bis zum 29. Dezember 1905. In dieser Zeit gab sie die einflußreiche Chefredaktion auf und fuhr mit einem gefälschten Paß nach Warschau, um im russischen Teil Polens an der Revolution teilnehmen zu können. Begeistert von dem Eintritt Rußlands »auf die revolutionäre Weltbühne als das politisch zurückgebliebenste Land«, faßte Luxemburg zuvor noch einmal die aus ihrer Sicht wichtigsten Ergebnisse der Russischen Revolution für die internationale Arbeiterbewegung in einer bis heute aktuellen Schrift zusammen: »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« wurde sofort auch ins Russische übersetzt. In dem Vorwort zu der Kiewer Ausgabe von 1906 hob sie hervor, daß aus der ersten Revolution im 20. Jahrhundert Lehren für die Emanzipationsbestrebungen auch in anderen Ländern zu ziehen seien. Eine zentrale Voraussetzung dafür sah sie darin, die deutschen Arbeiter aufzuklären und Klarheit über den politischen Massenstreik in der Partei zu gewinnen, was 1905 auf dem SPD-Parteitag in Jena nicht gelungen war.

Denn im Massenstreikproblem, so schrieb sie, »kreuzen sich wie im Focus alle strittigen Fragen der deutschen Arbeiterbewegung: über den Parlamentarismus und die unmittelbare Rolle der Massen; über den politischen und ökonomischen Kampf des Proletariats; über Bedeutung und Rolle der Organisation; über die Planmäßigkeit und Spontanität der Arbeiterbewegung, über friedliche Taktik und Zusammenstöße mit der bewaffneten Macht der herrschenden Klassen; über allmähliches ›Hineinwachsen‹ in eine sozialdemokratische Ordnung und revolutionäre ›Sprünge‹ in der Entwicklung des Klassenkampfes. (…) Mit einem Wort, die Frage nach dem Massenstreik wurde zum Symbol einer ganzen Weltanschauung in der deutschen Arbeiterbewegung« (S. 920).

Kontroversen

Damit endet der mit der bewährten Unterstützung von Eckhard Müller edierte und kommentierte Band, ergänzt um Luxemburgs Verteidigungsrede vom 12. Dezember 1906 vor dem Landgericht Weimar zu »Massenstreik vor Gericht« (S. 923ff.).

Abschließend noch einige Hinweise auf das vorzügliche Vorwort. Annelies Laschitza erinnert dort noch einmal an die Schwierigkeiten im Umgang mit den Schriften Rosa Luxemburgs in der DDR. Sie erläutert offen und kenntnisreich als Betroffene die politischen und ideologischen Kontroversen, die es jungen Wissenschaftlern der DDR in den 70er Jahren ermöglichte, den Auftrag des Politbüros beim ZK der SED zu erhalten, die Werke, später auch die Briefe herauszugeben, nachdem der erste Versuch unter Federführung von Clara Zetkin und dem »Renegaten« Paul Frölich nach drei vorgelegten Bänden 1928 gescheitert war. Das damalige Forschungskollektiv stieß bei dem Versuch, das marxistisch-leninistische Meinungsbild in der DDR um einige kritische Varianten zu bereichern, auf Widerstände, weil die Diskussion über »Fehler und Irrtümer« von Rosa Luxemburg im Umfeld ihres 100. Geburtstage es 1971 nicht zuließ, alle Beiträge der Auseinandersetzungen zwischen Luxemburg und den Bolschewiki in der Parteifrage zu veröffentlichen. Dabei wollten die Herausgeber lediglich Lenins Forderung erfüllen, der nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und nach der Aufzählung all der Fragen, in denen sie geirrt habe, schrieb: »Aber trotz aller dieser ihrer Fehler war und blieb sie ein Adler; und nicht nur die Erinnerung an sie wird den Kommunisten der ganzen Welt immer teuer sein, sondern ihre Biographie und die vollständige Ausgabe ihrer Werke (…) werden eine sehr nützliche Lehre sein bei der Erziehung vieler Generationen von Kommunisten der ganzen Welt.« (W.I. Lenin: Werke, Bd. 33, S. 195).

Erst 20 Jahre nach dem Anschluß der DDR wurde es auch dank Förderung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung möglich, die Editionsarbeiten fortzusetzen und zu vervollständigen. Der sechste Band dokumentiert noch einmal eindringlich, wie sich Rosa Luxemburg nach ihrer Promotion in Zürich ab 1897 ganz der Arbeit als Wortführerin des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie verschrieb, der damals noch geeinten, größten und bestorganisierten Partei der Zweiten Internationale.

Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Band 6 (1893-1906). Herausgegeben und bearbeitet von Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Mit einem Vorwort von Annelies Laschitza, Karl Dietz Verlag, Berlin 2014, 990 Seiten, geb., 49,90 Euro

* Aus: junge welt, Montag, 31. März 2014

Eine weitere Rezension:

Ein Paukenschlag: Annelies Laschitza brachte den sechsten Band von Rosa Luxemburgs "Gesammelten Werken" heraus
So viel Luxemburg war noch nie. nd-Buchbesprechung von Manfred Neuhaus




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