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Die Empirie als Waffe

Thomas Pikettys kolossale Geschichte der Verteilungsverhältnisse im 20. Jahrhundert

Von Georg Fülberth *

Wenn jetzt Thomas Pikettys Buch über das Kapital im 21. Jahrhundert – 2013 auf Französisch, 2014 auf Englisch erschienen – auch in deutscher Übersetzung herauskommt, ist zu hoffen, dass es endlich hierzulande auch gelesen und nicht nur diskutiert wird. Bisher gibt es schon viele Meinungen über dieses Werk, von seinem Inhalt ist aber erst der politische Schlussteil referiert worden. Piketty selbst suchte in zahlreichen Interviews die Öffentlichkeit, und das scheint angebracht angesichts der Tatsache, dass er sofort in Kontroversen geriet. Die Keynesianer Paul Krugman und Joseph Stiglitz, beide Nobelpreisträger, riefen sein Buch zum wichtigsten ökonomischen Werk des Jahrzehnts aus. Zu Recht sehen sie in Piketty einen wirtschaftspolitischen Bundesgenossen. Neoliberales Gegenfeuer ließ nicht auf sich warten: die Financial Times zweifelte die Seriosität von Pikettys Zahlenmaterial an, kam aber damit nicht durch, und zwar schon deshalb nicht, weil er seine Kurven und Zahlen im Internet kontrollierbar offengelegt hat, während ihre eigenen Angaben weniger transparent sind. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kam Piketty mit einem langen Interview zu Wort, in deren Meinungsteil aber wurde er gleich von mehreren marktliberalen Wirtschaftsprofessoren abgeurteilt.

Das Geräusch

Sehr merkwürdig verhielten sich die deutschen Keynesianerinnen und Keynesianer. Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker gaben bekannt, das Buch erst gar nicht lesen zu wollen, da seine wirtschaftstheoretische Basis ungenügend sei. Wenn er behaupte, schwaches Wachstum erhöhe den Quotienten aus Kapital und Einkommen, versäume er zu fragen, ob es nicht auch umgekehrt sein könne: dass also ein Überhang an nicht investiertem Kapital das Wachstum beeinträchtige. Damit haben sie sogar Recht. Wenn sie aber Piketty vorwerfen, er sei ein Anhänger der Switch-Theorie, die eine beliebige Ersetzbarkeit von Arbeit durch Kapital und umgekehrt behauptet, dann werden sie Opfer ihrer genügsamen Lektüre, die sich eben auf den einen von ihnen herangezogenen Aufsatz beschränkt. Im Buch liest man es anders, zwar nicht in seinem theoretischen, aber in seinem – tatsächlich wichtigeren – historischen Teil.

Peter Bofinger wirft Piketty vor, seine eigenen Kurven widerlegten dessen These, dass das Gewicht des Kapitals gegenüber dem Volkseinkommen ständig zunehme. In Wirklichkeit sei das Verhältnis beider noch dasselbe wie 1913, ja, der Kapitalanteil sei jetzt etwas geringer. Er hat das Buch nicht gelesen. Denn darin beschreibt Piketty die Geschichte des Kapital-Einkommens-Verhältnisses als eine U-Kurve, mit dem Höhepunkt 1913, der Talsohle um 1950 und einem Wiederanstieg in der Gegenwart, in der aber das Niveau der vorletzten Jahrhundertwende noch nicht erreicht sei. Enttäuschend ist die Reaktion der Wirtschaftskorrespondentin der taz, Ulrike Herrmann. Sie hat sich in den vergangenen Jahren in linken Kreisen einen wohlverdienten guten Ruf erarbeitet, weil es ihr immer wieder gelungen ist, neoliberale Sprechblasen aufzustechen. In der taz führte sie ein Interview mit Piketty, vorher aber machte sie in einer Kolumne seine Formel für den Anteil der Kapitaleinkommen am gesamten Volkseinkommen lächerlich, ohne sich dort inhaltlich auf diese einzulassen. Als Theoretiker könne man ihn vergessen.

Offenbar hat gegenwärtig niemand so recht Lust, die Spezifik des Buchs wahrzunehmen. Es ist theoretisch tatsächlich recht wenig ambitioniert, seine politischen Gebrauchsanweisungen sind das bei der sozialdemokratischen Linken Übliche. Aber als eine statistische Geschichte der Verteilungsverhältnisse im 20. Jahrhundert ist es kolossal.

Wir haben es sogar mit zwei Werken in einem zu tun. Da sind zunächst 685 Seiten Print. Sie stellen aber – wie der mündliche Vortrag in einer Powerpoint-Präsentation – nur den Kommentar zum Link dar [externer Link]. Dort stellt Piketty in Grafiken die Ergebnisse seiner Sammlungen des weltweit verfügbaren statistischen Materials über die Vermögensverhältnisse seit 1700 zur Verfügung. Je mehr er sich dabei um Vollständigkeit bemüht, umso größer werden die Lücken, auf die er stößt und die er selber benennt. Für das 19. Jahrhundert ist das Material noch am besten für Frankreich, nicht weil Piketty Franzose ist, sondern wegen der gründlichen Daten­erhebungen, die von der Revolution 1789 angestoßen wurden. Dürftig sieht es für Deutschland aus: Der Föderalismus verhinderte lange Zeit eine zentralstaatliche Steuerverwaltung. Aber wirklich valides Material (in den von Piketty gezeigten Grenzen) gibt es erst für das 20. Jahrhundert. Für das 21. Jahrhundert, das dem Buch immerhin einen Teil seines Titels gibt, kann er nur mit Fortschreibungen seiner Statistiken der Vergangenheit arbeiten.

Der Befund

Piketty zeigt, dass in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus die Kapitalrendite (er nennt sie: r) immer höher gewesen ist als das Wirtschaftswachstum (g), als Formel geschrieben: r > g. Die Bestandsgröße Kapital ist stets ein Vielfaches des Volkseinkommens, einer Fließgröße. Piketty bildet einen Quotienten ß aus beiden, multipliziert ihn mit der Rendite r und erhält α = den Anteil der Kapitalerträge am Volkseinkommen. Wenn dieser steigt, entsteht Überakkumulation, welche auf die Profitrate drückt. Das Sinken der Lohnquote trägt zur zunehmenden Ungleichheit bei.

Es gab aber einmal einen Ausbruch aus dieser Entwicklung: in den Jahrzehnten 1914–1970. Zwei Weltkriege wirkten als externe Schocks, die angesammelte Geldvermögen liquidierten und die Kluft zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen verkleinerten. Das »Zeitalter der Katastrophen« (Hobsbawm) war zugleich eine Periode größerer Gleichheit. Jene setzte sich von 1945 bis 1970 infolge sozialstaatlicher Maßnahmen fort. Deren Mitte der 70er Jahre einsetzender Abbruch ist laut Piketty nicht durch irgendeinen ökonomischen Sachzwang, sondern durch politische Umsteuerung verursacht. Seitdem gewinnt die Formel r > g wieder an Dynamik, die Ungleichheit nimmt das Ausmaß an, das sie bereits um 1900 erreicht hatte.

Piketty legt Wert auf die Feststellung, dass er beim Mauerfall 1989 erst achtzehn Jahre alt war und niemals Sympathien für den Kommunismus hatte. Er ist oder war Berater der französischen Sozialistischen Partei. Marx’ »Kapital« nennt er ein dunkles Buch, das schwer zu verstehen sei. Es fehle dort an ausreichendem statistischem Material. Piketty verwendet einen schlichten Begriff von Kapital. Dieses ist für ihn kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern identisch mit Vermögen aller Art. Die Ungleichung r > g bezeichnet einen empirischen Tatbestand, kein logisch begründbares Gesetz. Die Zustände, die Piketty darstellt, ergeben sich innerhalb des Kapitalismus, sie folgen aber nicht zwangsläufig aus diesem. Der Autor steht fest auf dem Boden der Grenznutzenlehre. Kritisch wird er dort, wo deren Vorgaben verletzt werden. Die Supergehälter von Spitzenmanagern seien mit der Grenzproduktivität dieses Personals nicht erklärbar. Die Behauptung eines Arbeitsmarktgleichgewichts sieht er empirisch widerlegt, unter anderem durch die Dritte Industrielle Revolution. Es ergibt sich hier eine Schnittmenge mit Marx’ Allgemeinem Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, doch geht er ebenso wenig darauf ein wie auf die Frage, ob Überakkumulation einer Gesetzmäßigkeit entspricht und nicht nur ein fast schon zufälliges, wenngleich hartnäckig sich haltendes Faktum darstellt, das zwar empirisch konstatierbar, in seinen Ursachen aber nicht zu erklären ist. Er hat einen offenen Blick für die Forschungsergebnisse von Kollegen und setzt sich fair mit Jürgen Kuczynski auseinander. Dessen These von einem seit der Industriellen Revolution bis zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts sinkenden Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist seiner Meinung nach im größeren Teil des 19. Jahrhunderts zutreffend gewesen, nach 1914 aber für längere Zeit nicht mehr. Nicht gehässig, sondern eher erstaunt ist sein Urteil in der allerletzten Fußnote seines Buches: »Liest man die Texte, die Sartre, Alt­husser oder Badio ihrem marxistischen oder kommunistischen Engagement gewidmet haben, gewinnt man zuweilen den Eindruck, daß Fragen des Kapitals und der Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen sie nur am Rande interessieren und es in Wirklichkeit um ganz andere Einsätze geht.«

Das Programm

Der letzte – vierte – Teil des Buches von Thomas Piketty enthält seine Vorschläge zur Regulierung des Kapitals im 21. Jahrhundert. Was er hier vorträgt, kann man im Kern auch bei Sahra Wagenknecht oder in den Zirkularen Wirtschaftspolitik aktuell der Gewerkschaft ver.di nachlesen. Es ist vernünftig, aber nicht neu. Zentrale Instrumente sind für ihn eine Einkommensteuer mit steiler Progression und eine weltweite Kapitalsteuer. Da letztere im globalen Maßstab nicht schnell genug durchsetzbar sei, setzt er auf Europa als Regulationsraum. Ein »Budgetparlament« soll die neue Wirtschaftspolitik demokratisch auf den Weg bringen. Er sieht kein Klassensubjekt zu deren Verwirklichung, sogar dessen Fehlen wird von ihm gar nicht erst wahrgenommen. Voraussetzung für die fiskalpolitische Wende sei eine Transparenz der Vermögensverhältnisse. Daran fehle es völlig. Rechne man weltweit die Verschuldung der öffentlichen Haushalte und die Guthaben von deren (meist privaten) Gläubigern gegeneinander auf, ergebe sich kein Nullsummenspiel, sondern ein weltweites Minus, so als stehe die Erde beim Mars in der Kreide. Piketty ruft zum Kampf um die Offenlegung der für seine Steuerpolitik nötigen Daten auf und hat für die Bequemlichkeit auch Wohlmeinender, sich um derlei wenig zu bemühen, kein Verständnis. Und so hat sein Buch nicht nur eine letzte Fußnote, sondern auch einen letzten Satz: »Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.«

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. Oktober 2014


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