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Warum die Reichen immer reicher werden

Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat seine Thesen erweitert und legt Lösungsvorschläge vor

Von Hermannus Pfeiffer *

Ein französischer Ökonom hat mit einem Bestseller Verteilungsfragen in den Mittelpunkt der Krisendiskussion in Deutschland gerückt. Jetzt legt Thomas Piketty zusammen mit einem US-Kollegen nach.

Die Reichen werden immer reicher. Diese Binsenweisheit untermauert Thomas Piketty mit seinem 685-Seiten-Wälzer über das »Kapital im 21. Jahrhundert«. Doch er trifft offenbar nicht allein den linken Zeitgeist, sondern wird auch in den Feuilletons von »New York Times« bis »FAZ« gefeiert oder zerrissen. Seine Kernthese: Die Renditen legen schneller zu als das Wachstum (r>g). Was auch künftig auf eine Umverteilung des Geldes zugunsten Vermögender hinausläuft.

Angesichts der historischen Niedrigzinsphase ist das keine Banalität. Pikettys Kernthese stößt auf Kritik, bei wirtschaftsliberalen Ökonomen wie dem Wirtschaftsweisen Lars Feld, aber auch bei Peter Bofinger. Dagegen brechen Paul Krugman und der Sprecher der Memorandum-Gruppe, Heinz-J. Bontrup, eine Lanze für ihn. Bontrup: »Das ist sein großes Verdienst: Er hat die Vermögensverteilung empirisch seziert. Mit einer langen Zeitreihe, die einmalig ist.« Daher wissen wir, dass in den USA der Einkommensanteil, den das oberste Prozent besitzt, wieder so hoch wie vor der Weltwirtschaftskrise der 1930er ist.

In Deutschland belegen Studien Pikettys Weltsicht: So stieg zwar seit 2000 die Lohnsumme netto minimal an, weil viele (schlecht bezahlte) neue Jobs entstanden sind. Aber der Einzelne bekommt heute 3,6 Prozent weniger Lohn, errechnete der wirtschaftspolitische Sprecher der LINKEN im Bundestag, Michael Schlecht. Gleichzeitig stiegen Gewinn- und Unternehmenseinkommen um rund 40 Prozent. So beläuft sich das Nettovermögen der Privathaushalte nach einer Analyse auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels auf über sechs Billionen Euro. Dagegen verfügten fast 30 Prozent der Erwachsenen über kein Vermögen oder haben Schulden. So weist die Bundesrepublik mit einem Gini-Koeffizienten von 0,78 international »ein hohes Maß an Vermögensungleichheit auf«, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest. Höher ist die Ungleichheit nur in den USA (und China).

Inzwischen leben in Deutschland über 1,13 Millionen Millionäre, ermittelte die Beratungsgesellschaft Capgemini. Jeder Achtzigste ist also Millionär. Dazu tragen zwar steigende Aktienkurse als eine Art Sonderfaktor bei, aber dahinter rattert der von Piketty beschriebene Prozess der Umverteilung. Weltweit stieg die Zahl der Millionäre vor allem in Nordamerika und Asien-Pazifik in nur einem Jahr um zwei Millionen.

Vermögen basieren auf (früherem) Einkommen. OECD-Zahlen zeigen, dass die inflationsbereinigten Einkommen der ärmsten zehn Prozent der Haushalte in den Industriestaaten sinken. Lag das Einkommen der reichsten zehn Prozent im OECD-Schnitt vor der Krise noch beim 9,3-fachen des Einkommens der ärmsten zehn Prozent, vergrößerte sich der Faktor 2011 auf 9,6. In Deutschland (6,9) und Österreich (7,1) war der Abstand zwischen unteren und oberen Einkommen relativ gering. Der Befund passt zu einem Forschungsbericht des IWF, wonach weniger Ungleichheit mehr Wachstum bringt.

»Alles Rechenspiele«, sagen Kritiker. Tatsächlich sei die Kaufkraft der unteren Schichten höher als früher: TV, Kühlschrank und Handy gehören zur Grundausstattung auch finanziell Schwacher. In Europa und Amerika kosten viele Konsumgüter so wenig, dass sie sich (fast) jeder leisten kann. Eine Folge der industriellen Revolution in Asien. Doch Wohnen und Alltag sind für viele zu teuer.

In Großbritannien macht ein Projekt mehrerer Hochschulen Furore. »Armut und soziale Ausgrenzung« aus dem Umfeld des Sozialforschers David Gordon erinnert an Friedrich Engels bahnbrechende Arbeit »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« von 1845: Obwohl die Wirtschaft auf den britischen Inseln seit den 1980ern wächst, nimmt die Armut zu. Und zwar nicht relativ (50 oder 60 Prozent des Durchschnittseinkommens), wie sie Europas Statistikbehörden oder die Bundesregierung ermittelt, sondern absolut: Einem Drittel der Menschen fehlt es am Nötigsten, es mangelt an Kleidung, Eltern hungern für ihre Kinder und Rentner frieren, weil sie die Heizkosten nicht bezahlen können.

Piketty legte jetzt im Aufsatz »Ungleichheit auf lange Sicht«, den er zusammen mit Emmanuel Saez von der University of California schrieb, noch einmal mit Daten seit 1870 nach. Zielten Piketty und Co. bislang nur auf das superreiche Prozent, sahen sie sich nun das obere Zehntel an: Auch dessen Anteil an Einkommen, Vermögen und Erbschaften wächst in den USA und Europa seit den 1970ern. Und wird weiter wachsen. Die Zentralisierung des Reichtums drohe den Kapitalismus zu zerreißen, so Piketty. Die Politik müsse mit Steuererhöhungen gegensteuern.

Doch Piketty ist kein Marx. »Es sind nicht nur Kuponschneider«, kritisiert Bontrup das Bild, das Piketty von den Reichen zeichnet. Schließlich beuten Unternehmer Beschäftigte aus, und Megagehälter verhelfen Managern, zu den Superreichen aufzusteigen. Ausbeutung und Mehrwert spielen für Piketty keine Rolle, stattdessen aber die Umverteilung. Die wiederum kommt bei Marx zu kurz, meint Rudolf Hickel. Für die Auseinandersetzung mit dem heutigen, »finanzmarktgetriebenen Kapitalismus« findet der Ökonom die Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Umverteilung »absolut wertvoll«. Der Kapitalismus habe unmittelbar nichts mit Ausbeutung und Mehrwert zu tun, sondern sei eine Umverteilung von der Realwirtschaft zum Finanzsystem. Allein mit Steuererhöhungen wird man also dem Kapitalismus nicht helfen können.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Juli 2014


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