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Der unproduktive Kapitalismus

Neoliberale begründen die Überlegenheit ihres Wirtschaftssystems mit höherer Produktivität, von der letztlich alle profitieren. Dabei lahmt der Fortschritt immer mehr

Von Hermannus Pfeiffer *

Dieser Hinweis war Premierminister Manuel Valls wichtig: »Frankreich ist nicht das kranke Kind Europas«, sagte er vergangene Woche während seines Besuches im Airbus-Werk in Hamburg-Finkenwerder. Gleiches hatte er zuvor schon Kanzlerin Angela Merkel in Berlin und den Vertretern der deutschen Wirtschaft mitgeteilt.

Betrachtet man die französische Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre, fällt tatsächlich ein überraschender Befund ins Auge: »Frankreichs jährliches Produktivitätswachstum ist, gemessen am Euroraum, durchaus solide«, schreibt Christian Hornberg in einer Studie der staatlichen Förderbank KfW in Frankfurt am Main. Die Wachstumsrate der »Totalen Faktorproduktivität« – sie spiegelt den technischen und organisatorischen Fortschritt einer Volkswirtschaft wider – lag seit Einführung des Euro für Frankreich zwischen 0,2 und 0,6 Prozent jährlich. Dabei gehen die Zahlen auf unterschiedliche Berechnungsraten von OECD und EU-Kommission zurück. Dies zeigt, wie schwierig die statistische Erfassung der »Produktivität« einer Volkswirtschaft ist. Deutschland schneidet in beiden Untersuchungen besser ab als Frankreich (0,5 bis 0,8 Prozent), während Spanien, Italien und Portugal für den untersuchten Zeitraum von 1999 bis 2011 um die Nulllinie herum dümpeln – die jeweilige Volkswirtschaft wurde also seit über einem Jahrzehnt nicht produktiver.

Im Kapitalismus folgt die Produktivität langen Wellen, eine vom sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew entworfene Theorie, um die zyklische Wirtschaftsentwicklung zu verstehen. In Schwung gesetzt wurden die Wellen von neuen Produktivkräften: Im 19. Jahrhundert waren das die Dampfmaschine, später Eisenbahn, Elektrizität und Chemie, Auto und seit 1990 die Informationstechnologie. Die Produktivität steigerten zudem arbeitsorganisatorische Umbrüche wie das Fließband von Henry Ford, die strenge wissenschaftliche Arbeitsteilung des »Taylorismus«, dessen Weiterentwicklung zu teilautonomer Gruppenarbeit bei Toyota in Japan und die grenzüberschreitende Just-in-Time-Produktion über integrierte Logistikketten.

Die Auswirkungen waren immer zweischneidig. Einerseits erscheinen Produktivitätssteigerungen spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts notwendig, damit Firmen, Branchen und Volkswirtschaften national wie international wettbewerbsfähig blieben. Andererseits waren und sind die Auswirkungen auf die Arbeitswelt oft verheerend. Doch wurden schreckliche Arbeitswelten – Stichwort »Manchesterkapitalismus« – auch erst durch technische Entwicklungen überwunden.

Horrorszenarien, wie die »Polarisierung der Arbeitswelt« in ganz wenige gut ausgebildete Experten und ein Heer von Handlagern, die linke Soziologen in den 1990er Jahren prognostizierten, blieben dagegen aus. Selbst in topmodernen Industriebetrieben sind gut ausgebildete Kräfte nach wie vor Standard. Für das eher optimistische Institut »Zukunft der Arbeit« um den früheren DIW-Chef Klaus F. Zimmermann ist klar: In der Vergangenheit habe es zwar stets starke Einbrüche in bestimmten Wirtschaftszweigen wie Bergbau, Schifffahrt oder Bauwirtschaft gegeben – doch im Gegenzug sei anderswo immer neue Beschäftigung entstanden. Ein aktuelles Beispiel ist die Logistik vom Distributor bis zum Kraftfahrer.

Die alten Mittel für Produktivitätssprünge scheinen inzwischen allerdings ausgereizt. Darauf lässt das schleppende Produktivitätswachstum in den Industriestaaten von deutlich unter einem Prozent pro Jahr schließen. In früheren Phasen galten in Europa und den USA drei, vier Mal so hohe Werte als Norm. Dies schaffen heutzutage nur Schwellenländer wie Indien (rund 2 Prozent), China (2,5 Prozent) oder Russland (3 Prozent). Deren nachholende Modernisierung wird allerdings vom Kapitalimport angetrieben – Techniken aus dem Westen puschen die Produktivität. Und werden von der wachsenden Bevölkerung aufgezehrt.

Zugleich geht es wie beim Wirtschaftswachstum auch um das Phänomen der Großen Zahl. Worauf der scheidende Präsident des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straubhaar, gerne hinweist: Der Rückstand etwa Chinas gegenüber Deutschland sei pro Kopf so groß, dass ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von etwa zehn Prozent nötig sei, um den Abstand zur europäischen Wirtschaftsmacht (mit ein Prozent Wachstum) nicht noch größer werden zu lassen. Entsprechendes gilt für die Produktivität. Die Folge: Der Abstand zwischen Industrie- und Schwellenländern könnte sogar noch zunehmen.

Dennoch: Die Wachstumsraten in den Industrieländern sind trotz der dritten industriellen Revolution, wie die Digitalisierung bezeichnet wird, niedrig. »Ich sehe in allen Büros Computer, nur in den Statistiken über Produktivitätsgewinne sind sie nicht zu sehen«, seufzte schon vor drei Jahrzehnten der US-Nobelpreisträger Robert Solow. Heute ist die digitale Revolution in vielen Bereichen der Wirtschaft zu sehen, aber die großen Produktivitätszuwächse blieben aus. Das gilt auch für die Vereinigten Staaten. Deren gegenüber der Eurozone höheres Wirtschaftswachstum ist vor allem der Bevölkerungszunahme und einem zeitlich längeren Einsatz des Faktors »Arbeit« geschuldet.

Solows Enttäuschung liegt zunächst eben im Phänomen der Großen Zahl begründet. Selbst technologische Sprünge in einzelnen Branchen verpuffen aufs große Ganze gesehen. Typisch sind Innovationen, welche die Produktivität merklich steigern, nur in der Industrie. Dagegen fristet die Agrarwirtschaft in den entwickelten Staaten ein Nischendasein; und Produktivitätsfortschritte in den klassischen Dienstleistungen – oft der größte Wirtschaftssektor eines Landes – sind quasi naturgegeben minimal. In der Verwaltung scheint nach den Deregulierungen der 1990er und 2000er Jahre das technische und arbeitsorganisatorische Potenzial ausgeschöpft. So betrachtet sind die Produktivitätswachstumsraten in Frankreich, Deutschland oder Schweden durchaus beachtlich! Alle drei setzen in der Wirtschaftspolitik übrigens auf einen starken Staat.

Wer die Produktivität erhöhen will, muss investieren – genau hier liegt die Schwachstelle der deutschen Wirtschaft. Der starke, investitionsfreudige industrielle Kern bei Maschinenbau, Auto und Chemie plus einige kapitalfreundliche Arbeitsmarktreformen wie die »Agenda 2010« hatten lange ausgereicht, um als Sieger aus der Großen Krise seit 2007 hervorzugehen. Und Deutschland ist auf bestem Wege, 2014 wieder Weltmeister beim Kapitalexport zu werden. Denn mit erwarteten 280 Milliarden US-Dollar liegt der deutsche Wert erneut vor China (230 Milliarden), auf Rang drei folgt mit deutlichem Abstand der Ölexporteur Saudi-Arabien. »Per Saldo«, so das Münchner Ifo-Institut, »gewährt die deutsche Volkswirtschaft also einen Kredit an das Ausland.« Investiert wird anderswo.

Totale Faktorproduktivität

Totale Faktorproduktivität (TFP) ist ein Maß für die Produktivitätsentwicklung eines Landes. Traditionell misst die TFP für eine Volkswirtschaft jenen Teil des Wirtschaftswachstums, der nicht auf die Veränderung des Einsatzes der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zurückzuführen ist. Diese Restgröße geht auf technologische Fortschritte und Effizienzsteigerungen in der Arbeitsorganisation zurück. Die statistische Höhe der TFP hängt allerdings von Annahmen der Forscher ab, etwa über das Bildungsniveau der Beschäftigten oder über die Qualität von Software. Daher können TFP-Zahlen unterschiedlicher Forschungsinstitute erheblich auseinanderklaffen. hape



»Der Hauptgrund, warum sich viele Firmen mit Investitionen im Lande zurückhalten, ist die fehlende Nachfrage«, ergänzt Fabian Lindner vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung. Das heißt auch: Die Investitions- und Innovationsschwäche beruht nicht auf einem zu geringen Kreditangebot der Banken, sondern auf zu wenig Nachfrage danach. Deshalb ging hierzulande die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote zwischen 2000 und 2013 von 21 auf 17 Prozent des BIP zurück. Sie ist damit deutlich unter den Durchschnitt der Eurozone und der OECD-Staaten (20 Prozent) gesunken, heißt es im Bundeswirtschaftsministerium.

Hoffnungen der Akteure in Konzernspitzen und Gewerkschaftsvorständen richten sich nun auf die »Industrie 4.0«, eine deutsche Wortschöpfung. Die virtuelle Computerwelt soll umfassend mit der physischen Welt der industriellen Produktion vernetzt werden. 3D-Drucker stellen dann an jedem beliebigen Ort der Welt Produkte her, so eine populäre Vision. Von der schwärmen auch Politiker, die die Wirtschaft zur Tränke tragen wollen: In ihrer haushaltspolitischen Grundsatzrede im September hob Kanzlerin Angela Merkel hervor, dass der Bund 60 Prozent mehr Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben werde und damit weit mehr als je zuvor. Detaillierte Programme für Nanotechnologie, das »vernetzte« Haus oder maritime Rohstoffe liegen bereit. Die »High-Tech-Strategie« wird mit elf Milliarden Euro an Subventionen unterfüttert.

Gleichzeitig will die Europäische Kommission einen gemeinsamen »Forschungsmarkt« in der EU schaffen. Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat für November die Vorlage eines 300-Milliarden-Investitionsprogramms angekündigt.

Klar ist heute nur, dass solche Projekte – sofern sie sich durchsetzen – die bisherige Arbeitswelt nachhaltig verändern werden. Ein neues Kapitel im Verhältnis von Technik und Arbeit? Produktivitätssprünge sind nur dann zu erwarten, wenn die gesellschaftliche Nachfrage in vielen Ländern nicht weiter schwächelt und keine leichten Extraprofite auf den Finanzmärkten mehr locken.

* Hermannus Pfeiffer, geb. 1956 in Nordhorn, Dr. rer. pol., Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, Freier Publizist in Hamburg.
Jüngste Buchveröffentlichung: Der profitable Irrsinn, Links Verlag, Berlin.

Aus: neues deutschland, Samstag, 4. Oktober 2014



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