Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Genosse Aufmerksam

Politologe, Kommunist, Hochschullehrer: Georg Fülberth wird heute 75 – eine Lobrede

Von Dietmar Dath *

Wer je das Glück erfuhr, mit Georg Fülberth auf einem Podium zu sitzen, hat erlebt, wie dieser bedeutende Mensch in Debattensituationen der Welt ein Gesicht zukehrt, an dem sich die Schlechten blamieren und die Guten beweisen. Jede Falte bedeutet hier Geist. Die Augen werden kleiner, um genauer zu sehen. Ich habe Personen, die vor Versammlungen, an denen Fülberth teilnahm, etwas vertreten wollten, das in irgendeiner Hinsicht unsauber war (etwa opportunistisch, schwach durchdacht oder einfach gelogen), über seinen Gesichtsausdruck sagen hören, der sei ablehnend und einschüchternd. Ich habe andere Personen, die mit Eifer und Mitteilungsbedürfnis ihr Wissen oder eine wichtige Nachricht vor solche Foren brachten, über dasselbe Gesicht auf derselben Veranstaltung sagen hören, es wirke so neugierig, daß man stets in seine Richtung rede, sobald man sich an alle wenden wolle.

Ich war dabei, als Fülberth den Versuch eines geschickten, um die dramatische Spannung seiner Veranstaltung besorgten Moderators, das Podium zu spalten, mit einer Ruhe parierte, die den wichtigen Unterschied zwischen aufgebauschtem Streit einerseits und erkenntnisförderlichem Dissens andererseits im Blut hat wie Eisen.

Einmal hat die Zeitung seiner Partei ihn gefragt, warum er für seine Partei bei einer Wahl kandidiert habe, bei der auch die Partei Die Linke ihre Leute ins Rennen gesandt hatte – das sei doch eine Konkurrenzsituation, das spalte doch die Kräfte, die für das streiten, was wir alle wollen.

Fülberth reagierte, wie ein Pingpongprofi reagieren würde, den man auf den Tennisplatz stellte – erstaunt über die Langsamkeit des Gegenübers: Das sei doch kein Problem, man könne eben diesmal auch die Deutsche Kommunistische Partei wählen, statt immer nur irgendeine nichtkommunistische Partei, von denen es ja viele gebe.

Einmal unterhielt sich Georg Fülberth netterweise zehn Minuten mit mir über die Frage, ob Linke, die auf Sicherheitsabstand zum Kommunismus achten, je woanders landen könnten als beim gröbsten Antikommunismus. Er plädierte für die theoretische Möglichkeit, es könne Nichtkommunistinnen und Nichtkommunisten geben, die dennoch keine Antikommunistinnen oder Antikommunisten seien. Ich halte diese theoretische Nächstenliebe Fülberths, die mir, fürchte ich, fast ganz fehlt, für eine große politische Tugend. Denn sie lädt Menschen zum Gespräch ein, die ich bereits für dem Teufel verfallen halte, und es könnte sein, daß ich sie vorschnell dem Sumpf überlasse.

Fülberths nicht nur in dieser Sache abwägendes Temperament verführt ihn freilich nicht zur übertriebenen Nachsicht. Als ein lieber Kollege bei der FAZ einmal ein nicht in allen Punkten hinreichend unterrichtetes Urteil über einen Menschen aufschrieb, den Fülberth kennt, schickte dieser dem Kollegen einen Brief, wie ich ihn um keinen Preis je empfangen möchte, schon gar nicht von Fülberth. Mein Kollege ist ein Ehrenmann und hat Sportsgeist, aber es macht sicher keinen Spaß, von Georg Fülberth mit Fakten beschossen zu werden.

Dabei sind sie noch der leichte Teil seiner Munition. Der schwere sind die Langstreckenraketen der historisch-materialistischen Dialektik, die kaum einer sicherer ins Ziel lenkt als der Marburger.

Das erste Mal bemerkte ich ihn Mitte bis Ende der achtziger Jahre in linken Zeitschriften. Da stand dann, dieser Autor sei Politologe, Kommunist und Hochschullehrer. Das waren drei Etiketten, die sich von seinerzeit gängigen Wappen wie »Radikaler«, »Hip-Intellektueller« oder »Polemiker« scheinbar durch Biederkeit unterschieden. Zwischen den Thesen, Blitzen und Schönheiten jener Zeit und jener Foren meldete sich Fülberth meist mit einer Frage, die auf einem Ideenmarkt der heftigen Gesten wenig geliebt wird: Sagt mal, stimmt das denn überhaupt? Erst neulich hat der Dialektiker Fülberth es wieder geschafft, die ungeheure ethische und intellektuelle Kraft, die diese Frage freisetzt wie fordert, zu demonstrieren, als er in Konkret ein Buch besprochen hat, in dem ein verdienstvolles Autorenkollektiv den modischen Unsinnslehrsatz demoliert, wir lebten angeblich in einer neuen Epoche namens »Finanzkapitalismus«, in der die vertrauten analytischen Zangen und Schraubenschlüssel, die Karl Marx uns hinterließ, nicht mehr griffen. Fülberth erkennt sofort, was an dieser Kritik der Finanzkapitalismusthese nötig und richtig ist, weist aber den weitergehenden Anspruch der Kritiker, ihre Untersuchung habe gezeigt, daß man das Unwesen Kapitalismus überhaupt nicht in Etappen zergliedern könne, souverän zurück.

Dialektik ist für Georg Fülberth kein anstrengendes Exerzitium, sondern der selbstverständliche Denkmodus, mit dem man sich Scheinprobleme erspart und Scheinlösungen widersteht.

Das Neue Deutschland hat mich neulich mit dem Gedanken zitiert, es habe eine Zeit gegeben, in der als »wissenschaftlicher Sozialismus« die Methode bezeichnet worden sei, irgendwelche Aussagen penibel auf ihre Übereinstimmung mit herbeigekramten Zitaten unserer Klassikerinnen und Klassiker abzuklopfen. Ich will nicht falsch verstanden werden: Die genannte Methode ist primitiv, aber sie hat auch ihren Nutzen. Was sich marxistisch nennt, muß es sich durchaus gefallen lassen, an den historischen Quellen gemessen zu werden. Man kann Einzelkontrollpunkte, an denen solche Messungen vorgenommen werden, als die Antikörper des Marxismus bezeichnen. Was leben will, braucht solche Antikörper. Weil aber der Marxismus nicht nur lebt, sondern auch denkt, braucht er außerdem Gehirnzellen, und Fülberth leiht ihm oft und erfolgreich seine. Man muß sich das einmal vorstellen, es ist gar nicht genug zu loben: Aus jedem Gebrauch, den Georg Fülberth von den Verfahrensweisen und Resultaten der Theorietradition macht, die Marx begründet hat, geht diese Tradition gestärkt hervor – statt, wie es ihr so oft geschieht, verwässert, zerfasert, verflacht und was der Schäden mehr sind.

Der eindrucksvolle Kopf, den Fülberth durch die Welt trägt, ist dabei Schauplatz zahlreicher Gespräche zwischen anderen Leuten, die viel zu selten wirklich miteinander reden. Das hat sich herumgesprochen, es wirkt. Wenn ich beispielsweise Kommunistinnen und Kommunisten davon zu überzeugen suche, Moshé Machover und Emmanuel Farjoun zu lesen oder wenigstens Oskar Lange, dann hilft mir dabei, wenn es sich um gescheite Zuhörerinnen und Zuhörer handelt, meistens das Argument: Fülberth liest die auch! Wieviel leichter wäre es, für das nötige Wiederaufleben diverser bei Marx selbst noch in schönster Blüte stehender mathematischer Interessen bei entsprechend begabten Linken zu werben, wenn man sagen könnte: Auch Fülberth liest Kolmogorow! Aber er kann nicht alles lesen. Er muß ja auch noch schreiben – in letzter Zeit viel Didaktisches, darunter großartige, weil ebenso leicht lesbare wie gedankendichte Einführungen in Sozialismus, Kapitalismus, Kapitalistik (die letzten beiden sind nicht dasselbe, so wenig wie Biotik und Biologie, man lasse sich den Unterschied von Fülberth erklären) und zuletzt Marxismus per se.

Im persönlichen Umgang hat die in diesen wertvollen Büchern dokumentierte Fähigkeit, nie ausschließlich zu lehren, sondern dabei stets auch zu forschen, bei Fülberth die Form der Freundlichkeit, oder mit einem doppeldeutigen Wort: der Aufmerksamkeit.

Man täusche sich nicht – das ist mehr als Tugend, das ist Programm.

Man eifere Georg Fülberth darin nach, um ihn zu ehren.

* Der vorstehende Text ist die leicht gekürzte Fassung des Eröffnungsvortrags der Fülberth-Lesewochen des Frankfurter »Zirkels zur Abschaffung des sozial Unerfreulichen«.

Im PapyRossa Verlag, Köln, erscheint heute unter dem Titel »Explorationen« ein Band mit politischer Publizistik Georg Fülberths aus drei Jahrzehnten – darunter auch diverse zuerst in jW veröffentlichte Texte (207 Seiten, 13,90 Euro)

Aus: junge Welt, Donnerstag 25. September 2014


Zurück zur Politische-Theorie-Seite

Zur Politische-Theorie-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage