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Das Andere gestalten

Rolf Reißig über Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert

Von Michael Brie *

Zwanzig Jahre nach der Transformation ist vor einer neuen Transformation. Dies ist die Aussage, mit der Rolf Reißig sein neues Buch »Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert« einleitet. Er schreibt: »Die wirtschaftliche, politische, kulturell-geistige Überlegenheit des Westens und sein Sieg in der Systemkonkurrenz mit dem Osten waren das Eine, die verweigerte und vertagte gesellschaftliche Transformation, d. h. der notwendige Umbau und die Modernisierung des Produktions-, Sozial- und Kulturmodells und der Übergang zu einem neuen Wachstums- und Entwicklungspfad das Andere.« Dieses Andere zu gestalten, sei die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts.

Reißig unterzieht Evolutions-, Revolutions-, Wandlungs- und Modernisierungstheorien sowie die Modelle der Transformationsforschung der 1980er und 1990er Jahre einer gründlichen Analyse und entwickelt daraus ein Modell, um zwischen einfachem Erhalt, erweiterter Reproduktion, Übergang zu einem bekannten Zustand (Transition) und umfassendem Umbruch der systembestimmenden Verhältnisse (Transformation) zu unterscheiden. Er ordnet dies ein in die Frage der Übergänge zwischen Zivilisationstypen, Formationen und Entwicklungsmodellen von Gesellschaften. Letzteres steht auch im Zentrum seiner weiteren Analyse - Gesellschafts-Transformation. Die grundlegenden Ansätze zur Erklärung derartiger umfassender Wandlungsprozesse werden daraufhin untersucht, welches Potential sie haben, in einer neuen Transformationsforschung genutzt zu werden.

Das Paradoxon einer Transformation für das 21. Jahrhundert besteht darin, dass wir eigentlich ziemlich genau wissen, wohin die globale Zivilisation verändert werden muss, um allen Menschen auf dem Planeten ein Leben in Würde in einer, wie Reißig es nennt, nachhaltigen Solidargesellschaft zu sichern. Der Mensch als Sozialwesen in einer humanen, gerechten und solidarischen Gesellschaft stände im Zentrum. Die globale Produktionsweise müsste wieder eingebettet werden in die natürlichen Kreisläufe. Eine plurale Wirtschaftsordnung, in der die Vorzüge verschiedener Eigentumsformen kombiniert wären, würde notwendig. Demokratische Entscheidung würde den Primat über die soziokulturellen und wirtschaftlichen Zielsetzungen erhalten. So klar diese Ziele sind, so unklar ist, wie dieses Ziel erreicht werden kann.

Erstmalig in der Geschichte ist sich die Menschheit bewusst, dass sie nur zivilisiert überleben kann, wenn sie sich grundlegend ändert, niemals zuvor standen uns die technischen, die ökologischen und ökonomischen Bedingungen eines solchen Wandels klarer vor Augen. Und doch wird ein Weiter-So praktiziert, wird innerhalb der völlig überlebten Strukturen »modernisiert« und werden die Produkte und Lebensweisen einer zum Untergang bestimmten Zivilisation »begrünt«, anstelle sie umzuwälzen.

Der Autor entwickelt Grundzüge einer Theorie der Transformation, die es erlauben soll, sich aufgeklärter dieser Paradoxie zu stellen und solche Umbruchprozesse einzuleiten jenseits des blinden Vertrauens auf die Selbstheilungskräfte der Moderne und der Märkte oder der totalitären Durchsetzungskraft eines vorgedachten fertigen Gesellschaftmodells. Wie er schreibt: »Ein Masterplan liegt ... nicht vor und kann nicht vorliegen. Es geht ... um einen gemeinsamen, pluralen Such- und Lernprozess.« Transformation sei immer »ein intendierter Prozess der Veränderung, der Um- und Neuformierung von Strukturen, Institutionen, Regeln, Deutungsmustern und Ordnungsmodellen mit eigendynamischen Komponenten.«

Mit Reißigs Buchs liegt ein gründlich durchdachtes Angebot vor für den Neubeginn einer Transformationsforschung, die die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vor Augen hat. Wie kann gesteuert werden unter den Bedingungen einer ungeheuren Mannigfaltigkeit der Akteure? Welche Sicherungen können gegeben werden, dass die Umbrüche nicht zu einer Verschärfung der globalen Krisen führen und die labilen regionalen und globalen Gleichgewichte in einem Krieg aller gegen alle untergehen lassen? Wodurch können die enormen Widerstände etablierter Macht- und Eigentumspositionen jener Akteure überwunden werden, die einen großen Teil der Handlungsmacht ursurpiert und monopolisiert haben und von den gegenwärtigen Verhältnissen am meisten profitieren? Wie können Lernprozesse in jenem Tempo ablaufen, das mit dem Maß der von uns täglich angerichteten ökologischen und sozialen Zerstörung zumindest Schritt hält? Dies gilt vor allem dann, wenn sich jene, die zur Veränderung besonders befähigt und verpflichtet sind, sich (noch) die Folgen dieser Zerstörung in einem Leben im Überfluss vom Halse halten können. Und vor allem: Wie sollen die mittleren und unteren Gruppen der globalen Gesellschaft für ein Transformationsprojekt gewonnen werden, wo für sie schon geringe Verluste an Einkommen und Erwerbsmöglichkeiten existentielle Folgen haben würden?

Es ist das Verdienst des Buches von Rolf Reißig, ein Paradigma einer zeitgemäßen Transformationsforschung skizziert zu haben, das die Erkenntnispotentiale der modernen Sozialwissenschaften in den Dienst einer kritischen Erarbeitung der dringend erforderlichen intellektuellen Mittel zur Selbstaufklärung stellt. Geht es doch um den wohl schnellsten und umfassendsten Wandel von Zivilisation, den die Menschheit jemals gesehen und auch jemals bisher gebraucht hat, um überhaupt zu überleben. Wo Transformation so drängend ist, wird eine neue Transformationsforschung, wie sie Rolf Reißig skizziert, zu einer absolut dringenden Aufgabe.

Rolf Reißig: Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels. VS Verlag. 220 S., br., 29,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Januar 2010


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