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Der Pakt der Diktatoren

Wie Europas Parlamentarier sich um die Pflege eines Dogmas sorgen

Von Kurt Pätzold *

Die Menschen haben ihre Feier- und Gedenktage, die familiären, und die ihnen als Staatsbürger empfohlenen, verordneten oder zugestandenen. Besonders beliebt sind die bezahlten arbeitsfreien. Zu dieser Kategorie wird jedoch jener nicht gehören, um den es hier geht: Eine Gruppe von Personen und Persönlichkeiten, zu der Vaclav Havel und auch der später zum deutschen Staatsoberhaupt gekürte Joachim Gauck gehörten, hatte auf einem von Tschechiens Regierung am 2. Juni 2008 in Prag einberufenen Treffen den Vorschlag unterbreitet, den 23. August allen Europäern zu einem gemeinsamen Gedenktag zu machen. Das Europa-Parlament in Straßburg hat noch im gleichen Jahr, am 23. September, mit 533 Ja- gegen 44 Nein-Stimmen (bei 33 Enthaltungen) der Europäischen Kommission und dem Ministerrat in Brüssel sowie den Regierungen aller Mitgliedstaaten vorgeschlagen, diesen Tag, »der in Würde und unparteiisch begangen werden soll«, zum kontinentweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime, von Stalinismus und Nazismus, auszurufen, eine gesamteuropäische Gedenkstätte für die Opfer errichten zu lassen und weitere Anstrengungen zur Popularisierung der Totalitarismusdoktrin auch finanziell zu fördern.

Wenden wir uns zunächst dem Ereignis zu, auf das da Bezug genommen wird und von dem es noch zwölf Tage bis zum Beginn des Krieges war, der zum Zweiten Weltkrieg wurde. Am 23. August 1939 schlossen Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt. Der diplomatische Akt stellte eine totale Wende in den Beziehungen der beiden Staaten dar. Für die deutschen Machthaber, die den in der UdSSR angeblich herrschenden »jüdischen Bolschewismus« eben noch als ihren Hauptfeind bezeichnet hatten, gegen den - so etwa auf Parteitagen in Nürnberg - drohende Reden gehalten wurden. Und es traf nicht minder auf die sowjetische Seite zu, hatte in Moskau doch 1935 der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale stattgefunden, der den Faschismus an der Macht als unheildrohendes imperialistisches und auf Krieg ausgehendes Regime kennzeichnete.

Vor diesem Hintergrund konnte die Nachricht vom Paktabschluss weltweit nur als Sensation wirken. Er warf samt seiner denkbaren Folgen in Regierungskreisen wie in der Bevölkerung viele Fragen auf, die zunächst unbeantwortet blieben. Er stiftete Verwirrung, nicht zuletzt in den Reihen der Kommunisten. Er führte zu Austritten aus deren Parteien und dem Verlust von Sympathisanten. In anderer Weise sahen sich auch die Anhänger der deutschen Faschistenpartei überrascht, denen jedoch erklärt wurde, dass sich ihr unvergleichlicher Führer dabei schon etwas gedacht haben werde, was ihren einfachen Gemütern verborgen blieb.

Die Unterzeichnung des Paktes fand in einem Moment statt, da sich Europa - kaum ein Jahr nach der »Tschechienkrise« - zum zweiten Mal in einer Vorkriegskrise befand, die erkennbar einem Kulminationspunkt entgegentrieb. Ausgelöst worden war sie wiederum von Deutschland. Diesmal durch die Ansprüche und Drohungen seiner Machthaber gegen den Nachbarstaat Polen.

Deutschland gewann durch den Vertragsabschluss zweierlei. Propagandistisch das Argument, das Tage später bei Kriegsbeginn sofort eingesetzt wurde: Diesmal werde es - anders als 1914 - keinen Zweifrontenkrieg mit europäischen Großmächten geben. Und kriegsökonomisch sicherte es sich ein »Hinterland«, das nicht wie die Seewege von Kriegsgegnern blockiert werden konnte. Denn der politische Vertrag untermauerte auch die Fortsetzung von Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR, die im Kriege erheblich an Bedeutung gewinnen mussten.

Und die Sowjetunion? Sie bekundete an jenem Augusttag ihr Interesse, aus dem nahen Krieg heraus zu bleiben, nachdem sie mit ihren seit 1933/1934 unternommenen Bestrebungen gescheitert war, ihn zu verhindern. Denn die von ihr initiierte Politik der kollektiven europäischen Sicherheit war schon auf einen toten Punkt gelangt, bevor die Regierungschefs Großbritanniens und Frankreich 1938 nach München reisten und Hitler die Amputation der Tschechoslowakei zugestanden. Im Herbst 1938 hatten Berlin, Rom, Paris und London die Sowjetunion in gemeinsamer Aktion aus der europäischen Szene gedrängt, sie isoliert. Dennoch versuchten die Politiker im Kreml, als die deutsche Wehrmacht im März 1939 in Prag einmarschierte, die Tschechoslowakei liquidierte und die Appeasement-Politiker blamiert waren, die Idee der Zusammenarbeit der nicht am Krieg interessierten Staaten noch einmal zu reanimieren. Vergeblich. An die Isar waren die Regierungschefs der Westmächte 1938 zu Hitler gefahren, an die Moskwa zu Stalin schickten sie 1939 zweitrangige Militärs, ausgestattet mit unzureichenden Kompetenzen.

Nachdem die Option, Nazideutschland durch eine mächtige Koalition abzuschrecken, erledigt war, hatte Moskau noch diese Alternative: nichts zu tun und abzuwarten oder sich dieses Deutschland samt seinem auf die Ostexpansion fixierten Führer auf unbestimmte Zeit vom Halse zu halten. Es gab im Westen einige Politiker, die wenigstens sich selbst eingestanden, dass es ihrer Leute Außenpolitik war, die diese Konstellation geschaffen hatten und sie nicht das Resultat eines Geheimplans Moskaus war, geboren aus verheimlichter Seelenverwandtschaft des Kremlregenten mit dem Führer der deutschen Faschisten - ein Bild, das später Antikommunisten erfanden.

Vor der Sowjetunion hatten übrigens andere Deutschland benachbarte Staaten mit der Naziregierung Nichtangriffspakte abgeschlossen: 1934 zuerst Polen, das damit dem noch ungefestigten Regime half, sich die Maske der Friedfertigkeit aufzuschminken, es folgte in München im September 1938 eine Erklärung Hitlers und Chamberlains mit dem »Wunsch unserer beiden Völker ... niemals wieder gegeneinander Krieg zu führen«, und wenig später, im Dezember 1938, ein deutsch-französisches Bekenntnis zu »friedlichen und gutnachbarlichen Beziehungen«. Die bloße Tatsache, dass sich der Kreml nun zu einem ähnlichen Schritt entschloss, konnte rechtens keine Kritik der Vorgänger wachrufen.

Doch mit der beiderseitigen Versicherung der Friedfertigkeit hatte der Schritt des 23. August sein Bewenden nicht. Vier Wochen später wurde deutlich, dass sich die Abmachungen der beiden Mächte nicht in den veröffentlichten Texten erschöpften. Die Rote Armee fiel am 17. September in den Osten Polens ein und nahm dessen Territorium bis zu einer Linie in Besitz, die bei der Wiederherstellung eines polnischen Staates 1918 als Grenze beider Staaten empfohlen, dann aber im Ergebnis des Krieges zwischen Polen und der UdSSR von 1920 weit nach Osten verlegt worden war. In diesen Landstrichen stellten Polen eine Minderheit der Bevölkerung.

Was immer an historischen und aktuell-politischen Argumenten zur Rechtfertigung dieser Militäraktion aus dem Kreml verlautete, es konnte die Tatsache nicht vernebeln, dass die UdSSR vom Krieg Deutschlands gegen Polen zu profitieren suchte und das Völkerrecht missachtete. Das wurde von den Führern der UdSSR in den Nachkriegsjahrzehnten indirekt dadurch anerkannt, dass sie alle die Existenz des so genannten Zusatzabkommens leugnen ließen, das - denkt man an Polens Schicksal Ende des 18. Jahrhunderts - gleichsam dessen vierte Teilung vorsah. Denn während sich das »Deutsche Reich« die eroberten polnischen Gebiete als Reichsgaue ein- oder unter der Bezeichnung Generalgouvernement angliederte, schlug die UdSSR ihre Beute der weißrussischen und der ukrainischen Sowjetrepublik zu. Zwischen den Vertragspartnern bestand Einigkeit, dass ein polnischer Staat nicht wiedererstehen sollte.

Dass Stalin diese Politik, als die Sowjetunion sich selbst im Krieg mit Deutschland befand, änderte und Zehntausende sowjetische Soldaten im Kampf um die Wiedergeburt eines polnischen Staates ihr Leben ließen, konnte die Schandtat, nicht ungeschehen machen. Zudem wurden im Zusatzabkommen die baltischen Staaten der sowjetischen Einflusssphäre zugerechnet, was Stalin begünstigte, jene, die zum Zarenreich gehörten, 1940 wider das Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen ebenfalls der Sowjetunion einzuverleiben.

Soviel zu den Tatsachen und Folgen des Abkommens. Sind sie geeignet, den 23. August zu einem besonderen europäischen Tag der Erinnerung zu erheben? Und dies, obwohl der Beginn des Zweiten Weltkriegs, der 1. September, in Teilen Europas seit Generationen als Tag des Gelöbnisses für den Frieden begangen wird? Und Millionen Menschen vieler Zungen den 8./9. Mai als Fest des wieder gewonnenen Friedens feiern und damit der Opfer gedenken, die dieser forderte?

Der Konkurrenzvorschlag der EU-Parlamentarier relativiert die Bedeutung dieser beiden Daten der europäischen Geschichte und setzt an ihre Stelle ein Ereignis, das im Vergleich von ungleich geringerer Reichweite und Folgenschwere war. Er stellt das zweiseitige Abkommen in eine Beziehung zum Krieg und dessen Opfern, die erfunden ist. Die Sowjetunion besaß im Spätsommer 1939, auf sich allein gestellt, nicht die Spur einer Chance, den deutschen »Welteroberungskrieg« (Thomas Mann) zu verhindern. Und der Entschluss der Führer Nazideutschlands, diesen Krieg vor dem Herbst 1939 zu beginnen, war Monate vor dem Abkommen gefällt. Der Sowjetunion für die Entstehung dieses Krieges eine Mitverantwortung anzudichten, geht einher mit dem Totschweigen der Politik der kollektiven Sicherheit und insbesondere der Rolle des sowjetischen Außenministers Maxim Litwinow. Von dieser »Auslassung« kann man sich auch in Schulgeschichtsbüchern überzeugen, die in der Bundesrepublik gebräuchlich sind.

Mit der Fixierung der Erinnerung auf den 23. August wird auch der 27. Januar herabgestuft, der so genannte »Auschwitz-Gedenktag«. An diesen wird zum einen an die Sowjetarmee erinnert, die das Tempo der Vernichtung des Kriegsgegners wesentlich bestimmte und mit dem Tod Hunderttausender ihrer Soldaten ungezählte Menschenleben rettete. Zum anderen stellt dieser Januartag 1945 die Nachgeborenen vor die Frage, in welchem Verhältnis das eigene Land und die eigenen Vorfahren zum Verbrechen des Massenmordes an den europäischen Juden standen. Während der Blick auf den Augusttag 1939 eine in mehreren europäischen Staaten anzutreffende Tendenz unterstützt, vor historischen Wahrheiten die Flucht anzutreten.

Rasch, schon am 30. November 2009, hat das in der Sache gar nicht angesprochene kanadische Unterhaus reagiert und sich für den europäischen Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime erklärt. Gleiches beschlossenen die Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Schweden und Slowenien. Das Groteske an diesem Vorgang ist, dass unter Beteuerungen zum Pluralismus Politiker dem Volke wieder einmal eine für ihre Zwecke geeignete Geschichtsdeutung als die allein angemessene empfehlen. Sie deklarieren, Europa müsse, solle es sich wirklich einigen, zu einer gemeinsamen Sicht auf seine Geschichte gelangen. Das Opfergedenken ist vorgetäuscht. Es geht darum die Geschichte des 20. Jahrhunderts umzudeuten als Weg in die Freiheit, hinweg über zwei Diktaturen.

Ob diese Absicht durchgesetzt werden kann, ist vier Jahre später fraglich. Die Zunft der Historiker hat sich gegenüber dem Vorstoß mit Ausnahmen zurückgehalten oder ausgeschwiegen. Übrigens: Der 23. August ist durch einen Beschluss de UNESCO 1998 als Erinnerungstag an den Sklavenhandel und die Abschaffung der Sklaverei schon besetzt. Und das mit gutem Grund: An diesem Tag im Jahr 1791 begann ein Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Santo Domingo, der nach jahrelangen Kämpfen dort dieses Kapitel des Kolonialismus beendete.


»Die beiden Regime waren totalitär und doch ganz unterschiedlich. Die größere Drohung gegen die Menschheit bildete Nazideutschland, und es war die Sowjetarmee die Osteuropa befreite, sie war die Hauptkraft, die Nazideutschland besiegte und das bewahrte Europa und die Welt vor dem nazistischen Alptraum ... Die Erklärung der EU, die eine geradlinige Parallele zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion in sich schließt, bietet daher ein unhistorisches und verzerrtes Bild ... Der Zweite Weltkrieg wurde von Nazideutschland begonnen, nicht von der Sowjetunion, und die Verantwortung für die 35 Millionen Toten in Europa, 29 Millionen davon waren Nichtjuden, ist die Deutschlands und nicht Stalins. Sich dieser Opfer gleichberechtigt zu erinnern bedeutet eine Verzerrung ... Gewiss soll man der Opfer des Sowjetregimes gedenken und es existiert jedes Recht, dafür besondere Erinnerungen und Ereignisse zu bestimmen. Aber die beiden Regime auf einen Maßstab zu setzen und sich verschiedener Verbrechen bei einer Gelegenheit zu erinnern, das ist vollständig unakzeptabel.«
Yehuda Bauer, ein 1926 in Prag geborener israelischer Historiker, der sich mit seiner Familie 1939 vor den deutschen Judenjägern nach Palästina retten konnte, zum EU-Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime; in »Über die Vergleiche zwischen Nazideutschland und dem Sowjetregime«



* Der Faschismusforscher Prof. Dr. Kurt Pätzold, Jg. 1930, ist u. a. Autor einer Hitler- und einer Hess-Biografie; jüngste Veröffentlichungen: »Die Geschichte kennt kein Pardon«, Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz« und »Der Vergangenheit entgeht niemand«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 18. August 2012


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