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Eine Galaxis entfernt

"Einspruch!" – Notizen von einer Konferenz der VVN-BdA

Von Karlen Vesper *

Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen«, prangte vom Transparent hinter der Podiumsbühne des Audi Max der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten haben zu einer zweitägigen geschichtspolitischen Konferenz anlässlich des 8. Mai geladen, die (trotz herrlichem Wetter) erstaunlich stark und – ebenso erfreulich – hälftig von jungen Leuten besucht worden ist. Es könne und dürfe keine Relativierung und Bagatellisierung der Verbrechen des Faschismus geben, so der Konsens. Eine Gleichsetzung der Nazidiktatur mit der DDR verbiete sich.

»Alle Totalitarismustheorien sind nicht geeignet, die empirische Wirklichkeit sowohl des Faschismus wie des Kommunismus hinreichend zu erklären«, so FU-Professor Wolfgang Wippermann. Thomas Lutz von der Topographie des Terrors in Berlin hat nichts gegen Vergleiche, erhob aber auch »Einspruch!« gegen das in Brüssel artikulierte und von der Birthler-Behörde wie der Stiftung Aufarbeitung unterstützte Ansinnen, einen europäischen »Gedenktag für alle Opfer von Diktaturen und Totalitarismen« einzuführen – auserkoren ist dafür der 23. August, der Tag, an dem der »Hitler-Stalin-Pakt« geschlossen wurde. »Das ist der fieseste geschichtsrevisionistische Vorstoß«, urteilte Kurt Pätzold.

Der Faschismusforscher sprach in der zweiten Tagungssektion, die »Einspruch!« gegen eine Rede von Bundespräsident Köhler erhob: »Wir trauern um alle Opfer, weil wir gerecht gegen alle Völker sein wollen, auch gegen unser eigenes.« Pätzold verwies auf die verdrängte Vertreibung und Flucht von Juden und Andersdenkenden aus Nazideutschland schon 1933 (!) und aus den ersten »angeschlossenen« und »heimgeholten« Territorien (Saarland, Österreich, Sudetengebiet). Heinrich Fink, Vorsitzender der VVN-BdA, sieht revanchistische Tendenzen in Vertriebenenverbänden noch heute. Dem müsse Widerstand entgegengesetzt werden, mit »Aufklärung, Aufklärung und nochmals Aufklärung«. Holger Politt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung erklärte, dass die Polen ihre Identität nach wie vor stark über die traumatischen Erlebnisse unter der deutschen Okkupation definieren. Aber auch der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 spiele in der Wahrnehmung eine große Rolle, wogegen die eigene Beteiligung an der Zerschlagung der CSR in Folge des Münchener Abkommens 1938 ausgeblendet werde.

Der dritte »Einspruch!« richtete sich gegen die Behauptung, es sei nicht von einer verbrecherischen Geschichte der deutschen Gebirgstruppen zu sprechen. Rosario Bentivegna, ehemaliger Angehöriger des italienischen Widerstandes, der Historiker Hannes Heer (Wehrmachtsausstellung) und der Bundessprecher der VVN-BdA Ulrich Sander konterten mit historischen Fakten und polemisierten gegen Apologie hinsichtlich des Angriffskrieges auf Afghanistan.

Der vierte »Einspruch!« galt der Gedenkstättenpolitik in der Bundesrepublik. Detlef Garbe, Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, konzedierte Fortschritte in jüngster Zeit, die sich großteils bürgerschaftlichem Engagement verdanken. Staatliches Selbstlob »vorbildlicher Erinnerungskultur« sei fehl am Platz angesichts solcher »Unerträglichkeiten« wie der Verwehrung viel zu spät erfolgter Zwangsarbeiterentschädigung an bestimmte Opfergruppen (sowjetische Kriegsgefangene). Garbe wie auch Peter Fischer vom Zentralrat der Juden freuten sich aber, dass der geschichtsrevisionistische Generalangriff, der sächsische Sonderweg gesetzlicher Gleichsetzung von Nazidiktatur und DDR auf Bundesebene zurückgewiesen worden ist. Fischer betonte: »Völkermord und Vernichtungskrieg der Nazis waren ein Zivilisationsbruch und meilenweit vom Unrecht in der DDR entfernt – eine Galaxis davon entfernt.« Idiotisch nannte er Formulierungen wie die von Hubertus Knabe, Hohenschönhausen sei das Dachau des Kommunismus.

Fischer stritt sich zwar etwas mit Rosel Vadehra-Jonas, Vorstandsmitglied der Lagergemeinschaft Ravensbrück, die mangelnde Sensibilität, Ignoranz und Arroganz der Gedenkstättenstiftungen und Expertenkommissionen gegenüber den KZ-Überlebenden konstatierte: »Manches konnte nur verhindert werden dank der Proteste aus dem Ausland.« Und gleiches auch hinsichtlich der Kinder und Enkel jener beklagte – »Die Eigenschaft Häftling ist nicht erblich«, zitierte sie den Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel. Doch ähnliche Taktlosigkeit hat Fischer selbst jüngst in Ravensbrück und »noch schlimmer« in Sachsenhausen erlebt. Abgesehen davon, dass »die jüdischen Repräsentanten nicht einmal begrüßt wurden«, habe man ihnen christliche Choräle zugemutet: »Wissen Sie, wie es in einer jüdischen Seele brennt, und sicher auch in einer anständigen kommunistischen, wenn an der Station Z zu hören ist: ›Israel, hoffe auf den Herrn, denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung‹?«

Klarer »Einspruch!« kam auch von Silvio Peritore vom Zentralrat der Sinti und Roma: keine Verwischung von Ursache und Wirkung, Opfern und Tätern, keine Gleichsetzung von Menschenrechtsverletzungen gestern und heute mit NS-Vernichtungspraktiken sowie Einbindung der Opferverbände in die Gedenkpolitik: »Die Würde der Opfer muss dabei immer Maßstab sein!« Veteranen saßen diesmal nicht im Podium, meldeten sich aber in der Diskussion und hatten mit dem Auschwitz-Überlebenden Adam König das letzte Wort.

* Aus: Neues Deutschland, 27. April 2010


Wird der 8. Mai umgedeutet?

Heinrich Fink über Geschichtsrevisionismus und Totalitarismus / Der Vorsitzende der VVN-BdA freut sich über regen Besuch der Konferenz am Wochenende an der Humboldt-Universität zu Berlin **

ND: »Einspruch!« lautet der Titel Ihrer Veranstaltung am kommenden Wochenende an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wogegen will die VVN/BdA Einspruch erheben?

Fink: Gegen den aktuellen Geschichtsrevisionismus. Es ist unsere zentrale Veranstaltung zum 65. Jahrestag der Befreiung. Es hat lange gedauert, bis nach der mutigen Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 sich in der alten Bundesrepublik endlich die Auffassung durchsetzte: Auch das deutsche Volk ist am 8. Mai 1945 befreit worden – von der faschistischen Diktatur, von Rassenwahn und Krieg. Heute erleben wir einen drastischen Rückfall in alte Ansichten. In Publizistik, Fernsehdokumentationen und Geschichtsdebatten werden wieder die deutsche Niederlage und die deutschen Opfer beschworen. Unser Einspruch ist konkret, die Referenten werden ihre Sicht der Ereignisse diversen geschichtsrevisionistischen Parolen entgegensetzen.

Welche haben Sie da im Blick?

Gerade im vergangenen Jahr der »historischen Jahrestage« sind aus dem Kalten Krieg stammende Thesen wie »Rot gleich Braun« und »Sozialismus gleich Faschismus gleich Diktatur« wiederbelebt worden. Sie bestimmen die staatliche Geschichts- und Gedenkpolitik. Diese Deutung der Geschichte zielt auf die Gegenwart.

Inwiefern auf die Gegenwart ?

Zum Beispiel werden kommunistische Widerstandskämpfer, die schon 1933 gesagt haben »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg«, im öffentlichen Diskurs nicht mehr erwähnt. Ebenso geht es linken Kriegsgegnern, die zum Beispiel von Anfang an gegen den Afghanistanfeldzug waren; viele werden regelrecht diffamiert. Doch jüngste Diskussionen um den Afghanistaneinsatz zeigen: Es ist Krieg.

Wo sehen Sie weiteren Geschichtsrevisionismus?

Zum Beispiel in dem Versuch auf europäischer Ebene, den 23. August, den Tag des Hitler-Stalin-Abkommens von 1939, zu einem Gedenktag für alle Opfer von Diktaturen und Totalitarismus zu erklären. Wir freuen uns, zu diesem Thema Referenten und Diskussionspartner zu haben wie den Präsidenten der FIR, Michel Vanderborght, Thomas Lutz von der Stiftung Topographie des Terrors Berlin sowie Holger Politt aus Warschau. Wir werden uns mit Totalitarismustheorien und ihrer ideologischen Konstruktion auseinandersetzen, mit der Gleichsetzung von nicht Gleichem und der Verkehrung von Ursache und Wirkungen. Ausgewiesene Experten werden zu Wort kommen wie der Historiker Moshe Zuckermann aus Tel Aviv und die Faschismusforscher Wolfgang Wippermann und Kurt Pätzold. Auch Fragen der Entschädigung der Opfer der Wehrmacht und die inzwischen sehr fragwürdige Gedenkstättenpolitik der Bundesregierung sollen debattiert werden.

Eine Ankündigung lautet: Orient trifft Okzident, die Jüdin den Moslem, Tradition die Moderne. Wie passt dies zu Ihrem Thema?

Wir meinen, dass es nötig ist, auch aktuelle Probleme wie den Nahost-Konflikt zu diskutieren. Die Auschwitzüberlebende Esther Bejarano wird mit der jungen HippHopp-Band »Microphone Mafia« am Sonnabendabend ein Konzert geben. In der Diskussion soll es auch um die fatale Abschiebepraxis von Roma und Sinti gehen. Am vergangenen Wochenende hat der Vorsitzende ihres Zentralrats, Romani Rose, in Sachsenhausen anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers nachdrücklich auf die unerledigte Erblast der Nazidiktatur hingewiesen. Wir unterstützen sein Anliegen, dass Sinti und Roma endlich ein Recht bekommen, als Gleichberechtigte in Deutschland und in anderen Staaten Europas zu leben.

Fragen: Karlen Vesper



** Aus: Neues Deutschland, 22. April 2010


Mythos Totalitarismus

Konferenz der VVN-BdA: In Berlin diskutierten Historiker, Antifaschisten und Überlebende des Faschismus über aktuelle Geschichtspolitik

Von Lothar Basssermann ***


Einspruch!« lautete der Titel einer zweitägigen geschichts- und erinnerungspolitischen Konferenz, die die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) am Wochenende in der Humboldt-Universität in Berlin ausrichtete. 65 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus war es den Organisatoren und den rund 350 Besuchern ein Anliegen, gegen ein hegemonial erscheinendes Geschichtsbild Einspruch zu erheben, das sich hierzulande beispielsweise mit dem Gerede von den »zwei Diktaturen nach 1933« manifestiert.

Mit Thomas Lutz von der Ausstellung »Topographie des Terrors« referierte am Samstag ein Kenner des gesamteuropäischen Geschichtsdiskurses. Er verwies auf die Bedeutung einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. April 2010. Unter dem Titel »Zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus« soll der 23. August zum Gedenktag erklärt werden – jenes Datum, an dem vor 71 Jahren der der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag verabschiedet wurde. Mit 553 Ja-, 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen fand diese von Rechtskonservativen, Liberalen und Rechtsextremen ausgegangene Initiative im Parlament große Zustimmung. Lutz machte auf die Intention der Entschließung aufmerksam, nach der »Nazideutschland und der Sowjet­union gleichermaßen die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges« gegeben werden soll, so Lutz.

Wolfgang Wippermann, Historiker an der Freien Universität Berlin, wies in seinem Beitrag die Etablierung von »inhaltsleeren und unwissenschaftlichen Begriffen« wie Totalitarismus, Extremismus und Rechtspopulismus scharf zurück. Er appellierte, »Faschismus nicht nur als Phänomen der Geschichte, sondern auch eines der Gegenwart« zu begreifen. Für hitzige Diskussionen unter den Konferenzteilnehmern sorgte Wippermanns Plädoyer, der unter Linken verbreiteten Position abzuschwören, derzufolge der Faschismus »die offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« darstelle. Nicht weniger umstritten war auch Wippermanns Position, daß religiös-fundamentalistische Organisationen wie die Hamas als faschistisch zu kategorisieren seien.

Der Historiker und jW-Autor Kurt Pätzold thematisierte die »Erinnerungsschlacht« um die deutschen Opfer. »Die Gesellschaft wird vergiftet«, wenn gerade jungen Menschen vorgegaukelt werde, Deutschland habe die Nazizeit vorbildlich aufgearbeitet und nun wäre es an der Zeit, der eigenen Gefallenen zu gedenken. Dies zeige sich besonders an der ständig präsenten »revisionistischen Geschichtsschreibung« über »deutsche Bombenopfer, Vertriebene und die angeblich saubere Wehrmacht, so Pätzold. Holger Politt vom Warschauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stuftung sprach über den »polnischen Blick auf Flucht und Vertreibung«. Er verwies darauf, daß das Land zwischen 1939 und 1945 etwa ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hat und das dies prozentual so viele Kriegsopfer sind, wie kein anderes Land zu verzeichnen hatte. Der Bundesvorsitzende der VVN-BdA, Heinrich Fink, verlangte, daß die »Vertriebenenverbände« und ihre Revan­chegelüste in die Schranken gewiesen werden müssen.

Der Historiker Hannes Heer kam am zweiten Tag auf die »Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg« und deren oft geleugnete Beteiligung am Vernichtungskrieg der Nazis zu sprechen. Im gleichen Panel machten auch Rosario Bentivegna als einstiger Angehöriger des antifaschistischen Widerstands in Italien und der Bundessprecher der VVN-BdA, Ulrich Sander, auf die barbarischen Naziverbrechen aufmerksam und widersprachen damit der These, den Nazistaat und seine Verbrechen habe Hitler und eine kleine Clique um ihn zu verantworten.

Den Abschluß bildete eine Diskussion zur aktuellen Erinnerungspolitik. Detlef Garbe, Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, wandte sich gegen eine »undifferenzierte Gleichsetzung« von DDR und Nazistaat, wie sie beispielsweise der Berliner Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe betreibe, wenn er von »Hohenschönhausen als ein Dachau des Kommunismus« spreche. Rosel Vadehra-Jonas, Vorstandsmitglied der Lagergemeinschaft Ravensbrück, verwies darauf, daß viele »Gedenkstätten ohne das Engagement der KZ-Überlebenden nicht existieren« würden. Sie berichtete von Arroganz und Intoleranz, die beispielsweise Gedenkstättenstiftungen häufig gegenüber Opferverbänden an den Tag legten, wenn es um die Umgestaltung dieser Stätten gehe. Peter Fischer, Mitglied des Zentralrats der Juden, rief dazu auf, »mit vereinten Kräften« Einfluß auf die Entscheidungen an den Orten der Erinnerung zu nehmen. Eine Gleichsetzung von DDR und Nationalsozialismus dürfe es nicht geben, betonte auch Fischer. Silvio Peritore vom Zentralrat der Sinti und Roma zeigte sich schockiert darüber, daß dieses »Land Lehren aus Auschwitz gezogen haben will«, aber der NPD Steuergelder zur Verfügung stelle. Er verwies darauf, daß der Völkermord an den Roma und Sinti im Faschismus noch immer häufig ausgeblendet werde und Antiziganismus, wie nicht zuletzt zahlreiche Morde in Ungarn belegten, auch ein Gegenwartsproblem darstelle. Zum Abschluß der Konferenz erinnerte der Auschwitz-Überlebende Adam König an die Verfolgungsgeschichte von Menschen, die die Nazis als »Asoziale« brandmarkten, und die Tatsache, daß das an ihnen begangene Unrecht bis heute nicht anerkannt werde.

*** Aus: junge Welt, 28. April 2010


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