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Überstaat und Akteure

Ein Sammelband zur Theorie von Nicos Poulantzas

Von Andreas Diers *

Der Schwerpunkt der gegenwärtig schon mehr als dreißig Bände umfassenden Reihe »Staatsverständnisse« des Nomos-Verlages liegt auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Das Spektrum reicht von Niccolò Machiavelli über Thomas Hobbes bis zu Max Weber und Karl Marx, schließlich zu Weimarer Staatstheoretikern, Antonio Gramsci und zeitgenössischen Theoretikern wie Nicos Poulantzas (1936–1979).

Mit seinen materialistischen, kreativen und undogmatischen Studien zum kapitalistischen Staat und dessen Internationalisierung, zu Diktaturen und zum autoritären Etatismus, zur Schwächung der Demokratie, zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung und zu Fragen des demokratischen Sozialismus hat der griechisch-französische politische Theoretiker maßgeblich zu einer materialistischen Theorie des Staates beigetragen. Nicht zuletzt hat seine an die Gedanken von Gramsci anknüpfende Auffassung vom Staat als einem gesellschaftlichen Verhältnis seit den 1970er Jahren erheblichen Einfluß auf die internationale Diskussion innerhalb der kritischen Gesellschaftstheorie gehabt.

Nach der sehr informativen Einleitung der Herausgeber stellt der Beitrag von Étienne Balibar das Werk von Poulantzas zunächst in seinen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang. Gleiches gilt für den ebenfalls etwas älteren folgenden Text von Bob Jessop, der die Grenzen sowie die aktuellen Herausforderungen für eine zeitgemäße materialistische Staatstheorie diskutiert.

Die weiteren Beiträge befassen sich mit verschiedenen Aspekten von Poulantzas’ Werk und arbeiten sowohl ein- als auch weiterführend einige wesentliche und spezifische Probleme seines Ansatzes ebenso wie ihre Bedeutung für aktuelle Debatten heraus. Alex Demirovic leitet mit dem Schwerpunkt auf Poulantzas anschaulich in die wesentlichen Grundlagen materialistischer Staatstheorie seit Karl Marx und Friedrich Engels ein. Sehr anregend äußert sich der Autor zu Themen wie dem eines Staates, der transnational wird, und zur vielschichtigen Konfiguration überstaatlicher, substaatlicher, parastaatlicher sowie staatlicher Apparate und privater Akteure. Jens Wissel befaßt sich anschließend unter diesem Aspekt mit der europäischen Integration.

Der Band komplettiert die zahlreichen anderen, vor allem im VSA-Verlag (Hamburg) sowie im Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) in der BRD erschienenen Bände von und über Poulantzas, da er einige bislang kaum erörterte Themen aufgreift. So zeigt Michael Jäger auf, daß es bei Poulantzas im Zusammenhang mit der Konzeption des Machtblocks eine implizite Parteientheorie gibt. Roland Atzmüller arbeitet den Begriff der gesellschaftlichen Arbeitsteilung heraus, während Sabine Nuss sowie Ingo Stützle nachweisen, welche Rolle Eigentum und Besitz als konstituierende Charakteristika der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der Klassentheorie von Poulantzas spielen. Thomas Sablowski geht auf die Bedeutung von Widersprüchen innerhalb der Bourgeoisie für dessen Staatstheorie ein. Die aktuelle Bedeutung der Überlegungen Poulantzas’ zur Internationalisierung von Politik und Ökonomie für die »Internationale Politische Ökonomie« verdeutlicht Ulrich Brand.

Gundula Ludwig und Birgit Sauer behandeln in ihrem gemeinsamen Beitrag »Engendering Poulantzas« dessen Bedeutung für die feministische Staatsforschung. Nach Meinung der Autorinnen realisierte er nicht die gesellschaftsstrukturierende Dimension von Geschlechtern. Leider werden Rassismus, Ethnie sowie Migration analog nur unzureichend behandelt.

Jörg Nowak diskutiert abschließend die Frage, welche Hinweise bei Poulantzas für eine widerständige Handlungsfähigkeit zu finden sind. Am Beispiel sozialistischer Projekte in Venezuela und in Bolivien veranschaulicht der Autor kritisch die praktische politische Wirkungsmächtigkeit von Poulantzas, arbeitet aber auch Lücken und Probleme innerhalb seiner Theorie heraus.

Für die Analyse der Konstituierung von Staatlichkeit im Kapitalismus und der Veränderung des Staates unter den Bedingungen der Globalisierung hat sich die Theorie von Poulantzas schon bisher als sehr fruchtbar erwiesen. Der vorliegende Band hilft, die Rezeption seines Werkes in Deutschland auf das Niveau der internationalen Diskussionen zu heben.

Alex Demirovic/Stephan ­Adolphs/Serhat Karakayali (Hrsg.): Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas - Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2010, 265 Seiten, 29 Euro

* Aus: junge Welt, 22. August 2011


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