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Blamage und Triumph

Die Gedankenwelt des Jean-Jacques Rousseau

Von Hermann Klenner *

Jean-Jacques Rousseau wurde auf den heutigen Tag genau vor dreihundert Jahren in der calvinistischen Stadtrepublik Genf geboren. Viele seiner Gedanken sind auch in der Gegenwart noch unverbraucht. Wer sich von ihnen nicht anregen zu lassen vermag, kennt sie nicht, oder seine Verweigerungshaltung spricht ausschließlich gegen ihn selbst. Rousseau war ein Aufklärer. Er ist es noch heute. Gehört er doch zu den vielseitigsten, aber auch zu den umstrittensten Autoren der Weltliteratur. In der Vergangenheit wie in der Gegenwart.

Rousseau, Sohn eines Uhrmachers von beachtlichem Vermögen, sagt über sich selbst: »Der Stand des Handwerks ist der meinige, der, in den ich hineingeboren wurde, und in dem ich hätte leben sollen, und den ich nur zu meinem Unglück verließ.« Tatsächlich betätigte er sich im Verlaufe seines Lebens (nach abgebrochenen Lehrlingstätigkeiten bei einem Gerichtsschreiber und bei einem Graveur) als Philosoph, Pädagoge, Psychologe, Poet, Sprach- und Musikwissenschaftler, Komponist und Botaniker – all das auf jeweils höchst produktive Weise. Mit Musikunterricht sowie vor allem mit dem Handwerk des Notenkopierens (u.a. für Christoph Willibald Gluck) hat er mehr Geld verdient als mit seinen wissenschaftlichen Publikationen. Übrigens war er ein vollständiger Autodidakt: Keine Schule, keine Universität, nur das Lesen und das Leben hat ihn belehrt. Den Gedanken anderer nach zu denken, ohne nachzudenken, war seine Sache nicht.

Universelle Produktivität

Für seine »Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob der Fortschritt der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe« (was er verneinte), wurde er 1750 mit einer Goldmedaille und dreihundert Franken ausgezeichnet; bei den Mitgliedern dieser Akademie bedankte er sich folgendermaßen: Was Sie zu meinem Ruhm getan haben, trägt auch dazu bei, den Ihren zu vermehren. Später wird er freilich von dieser Abhandlung, mit der sein Ruhm begann, sagen, dass sie das Schwächste war, was je aus seiner Feder geflossen sei.

Seine eben dieser Akademie eingereichte, allerdings von ihr keineswegs preisgekrönte »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« ist wegen der in ihr enthaltenen Ableitung der politischen von der ökonomischen Macht heutzutage brisanter noch als damals, da Gotthold Ephraim Lessing dieses Werk des »kühnen Weltweisen«, der »graden Weges auf die Wahrheit zugehet«, in der Berlinischen Privilegierten Zeitung rezensierte, dabei des Moses Mendelssohn Übersetzung ins Deutsche ankündigend, die dann bereits ein Jahr nach der Amsterdamer Erstausgabe 1756 in einem Berliner Verlag erschien.

Rousseaus Essay über den Ursprung der Sprachen, in dem sich auch die Provokation findet, daß man in der Gegenwartsgesellschaft dem Volk außer Predigten nichts mehr zu sagen weiß als: »Gebt Geld her!« wurde erst posthum veröffentlicht. Rousseaus Abhandlung über die Politische (oder Staats-) Ökonomie enthält zwar das Eingeständnis, daß das Eigentum das heiligste aller Bürgerrechte sei, aber auch die hintergründige Feststellung, daß das größte Unrecht längst geschehen sei, wenn die Regierung, statt dafür gesorgt zu haben, daß niemand arm wird, die Armen vor der Tyrannei der Reichen schützen soll. Die von ihm selbst als sein wichtigstes Werk angesehene pädagogische Utopie einer antiautoritären Erziehung von 1762 »Èmil ou de l’éducation« (»Emil oder über die Erziehung«) enthält neben einem kirchenverketzernden Glaubensbekenntnis, eine Fundamentalkritik an Recht und Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft (die immer den Starken gegen den Schwachen, den Reichen gegen den Habenichts begünstigen), auch die nüchterne Mitteilung, daß der bestehenden Gesellschaftsordnung unvermeidliche Veränderungen bevorstehe: Der Große werde klein, der Reiche arm und der Monarch untertan werden, denn »wir nähern uns einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen«.

Sein im selben Jahr veröffentlichtes demokratie­theoretisches Meisterwerk über den Gesellschaftsvertrag (»Du Contract Social ou Principes du Droit Politique«), das er später durch Fragmente über Krieg und Frieden, den Entwurf einer (erst 1861 veröffentlichten) Verfassung für Korsika und (vollständig erst 1801 veröffentlichten) Betrachtungen über die Regierung in Polen ergänzen wird, beginnt mit dem meistzitierten aller Rousseau-Sätze, wonach der Mensch frei geboren werde und doch überall in Ketten liege: »l’homme est né libre, et partout il est dans les fers«.

Der in flammender Ekstase geschriebene Sentimentalroman »Julie oder Die neue Heloise« von 1761, eine Kritik zugleich an der verkrusteten Ständeordnung des Ancien Régime, wurde hundertfach aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Ferner verfaßte er mehrere Theaterstücke und komponierte Opern, teilweise mit großem Erfolg, so daß er über das im Beisein von Louis XV. und dessen Pompadour uraufgeführte Singspiel »Le devin du village« (»Der Dorfprophet«) in einer seiner Selbstdarstellungen berechtigt schreiben konnte: Der Enthusiasmus des Publikums sei bis zum Wahnsinn gegangen; der sich anschließenden königlichen Audienz blieb er freilich fern, was ihn die ihm in Aussicht gestellte königliche Pension kostete; aber: Hätte er diese Pension angenommen, wäre ihm, so seine Meinung, nichts anderes mehr übrig geblieben, als zu schmeicheln oder zu schweigen. In einer Dissertation »Sur la musique moderne« (»Über die moderne Musik«) hat Rousseau sein von der Academie Française ernsthaft erörtertes, wenn auch abgelehntes Projekt, die als Zeichen zur schriftlichen Festlegung von Tönen verwendeten Noten künftig durch Zahlen zu ersetzen, umfangreich, wenn auch erfolglos verteidigt. Später publizierte er zur Entrüstung der Pariser Musikwelt »Lettres sur la musique française« (»Briefe über die französiche Musik«) sowie einen »Dictionnaire de musique« (»Wörterbuch der Musik«), in dem er die von ihm verfaßten 356 Artikel zur Musik zusammengestellt hat, die er in der von d’Alembert und Diderot herausgegebenen 35bändigen Encyclopédie veröffentlicht hatte.

Sodann legte sich Rousseau ein Herbarium an, das zunächst alle Pflanzen der Meere und der Alpen erfassen sollte, schrieb Briefe über die Pflanzenkunde, ein Fragment gebliebenes Wörterbuch der Botanik und entwickelte eine Pasigraphie von 1210 Zeichen für die Klassifizierung der Flora nach Linné. Schließlich hat er neben autobiographischen Dialogen (»Rousseau richtet über Jean-Jacques«) – die er auf dem Altar von Notre Dame in Paris zu deponieren versuchte, vergeblich, da das Chorgitter ausnahmsweise verschlossen war – und autobiographischen Aufzeichnungen (»Träumereien eines einsamen Spaziergängers«), seinem letzten Werk, auch noch eine Autobiographie (»Les Confessions«) verfaßt, an deren Wahrheitsgehalt man die in unserer Gegenwart reihenweise publizierten, auf Selbstrechtfertigung getrimmten Autobiographien nicht messen sollte, denn gegenüber Rousseaus Selbstenthüllungen sind die heutigen Lebensberichte verlogen; nicht so sehr, weil sie Unwahrheiten auftischen, sondern weil sie nicht die ganze Wahrheit sagen.

Kontroversen ohne Ende

Ausgerechnet der Sensibelste unter allen Denkern der Philosophiegeschichte wurde in die schärfsten Auseinandersetzungen, und zwar nach allen Seiten hin, verwickelt. Das belegen die in Genf 1965–1998 veröffentlichten 52 Bände seiner Correspondance complète sowie ein in Paris 2000 herausgegebener »Mémoire de la critique«, in dem auf 640 Seiten die zeitgenössischen Texte über seine Schriften zusammengestellt sind.

Worunter Rousseau tiefer noch als unter den staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen, auf die gleich einzugehen ist, litt: Aus nahezu allen seinen Freunden wurden seine Feinde. Mit einer für ihn existentiellen Ausnahme: Thérèse Levasseur, von der er in seiner Selbstdarstellung schrieb, daß »die Geisteseinfalt dieses trefflichen Mädchens ihrer Herzensgüte glich«. Seit 1745 war sie die Gefährtin seines Lebens, verheiratet mit ihm seit 1768, die Mutter der gemeinsamen Kinder, die alle dem Findelhaus überantwortet wurden, um ihnen – so, nicht ohne schlechtes Gewissen, deren Vater – »ein schlimmeres Schicksal zu ersparen, das sonst unweigerlich ihrer geharrt hätte«.

Seine Mitstreiter aber, die anderen am Selbstverständigungsprozeß der antifeudalen Klassen über ihre Interessen beteiligten Aufklärer in Paris, haben ihn, den Redlichsten von allen, nach und nach verlassen und dann auch noch verleumdet. Das gilt für Melchior Grimm, Jean- Baptiste d’Alembert, Denis Diderot. Besonders der von Rousseau zudem als »unser Oberhaupt« verehrte Voltaire (der dann wenige Monate vor ihm sterben sollte) hat über ihn seine gekonntesten Sottisen ausgegossen: Die Abfassung des »Contrat social« sei nicht weniger verabscheuungswürdig gewesen als dessen Verbrennung, und der »Discours sur l’inégalité« sei, so der schwerreiche Voltaire, die »Philosophie eines armseligen Lumpen, dessen Wunsch es ist, dass alle Reichen von den Armen ausgeraubt werden«. (Die Diffamierungskampagne gegen Rousseau wird bis in unsere Gegenwart fortgesetzt, etwa so: das »neurotische Gespenst aus Genf« sei der »wirksamste Drogenfabrikant der Weltliteratur« usw. usf.).

Wie man weiß, sind Dünnhäutige besonders komplizierte Menschen. Man reduziere es aber im Falle Rousseaus nicht auf Höchstpersönliches. Letztlich handelte es sich bei den seine literarische Produktion betreffenden Unterdrückungsvorgängen um praktizierten Klassenkampf. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß seine Auffassungen über die Entwicklung des Menschen, über Feudalismus und Absolutismus, über den Zusammenhang des Eigentums mit der Staats- und Rechtsordnung, über Religion und Kirche mit den herrschenden Meinungen seiner Zeit und seines Landes unüberbrückbar kollidierten.

Er, der sich auf den Titelseiten seiner Preisschriften und Abhandlungen – alle in seiner Muttersprache französisch geschrieben – stolz als »J. J. Rousseau, Citoyen de Genève«, als Bürger Genfs, präsentierte, hatte zu erleben, daß seine bedeutendsten wissenschaftlichen Werke – »Èmile« ebenso wie auch der »Contrat social« – unmittelbar nach ihrer Amsterdamer Drucklegung von 1762 in Genève, in Paris, in den Niederlanden, in der Schweiz und in Bayern verboten wurden. In Genf übergab sie der Henker den Flammen. Rousseau, geborener Calvinist, 1728 (nach Ablaßerteilung für das Verbrechen der Ketzerei durch die Inquisition) »Rückkehr in den Schoß der heiligen Kirche«, und 1754 zum Calvinismus rekonvertiert, sah sich gezwungen, auf die Bürgerschaft von Genf zu verzichten. Als Folge Eintragung der Abdikation in deren Staatsregistern mit dem Zusatzvermerk: »Besagter Rousseau ist festzunehmen, sobald er in die Stadt oder auf das Territorium der Republik kommt«. Die katholische Kirche hatte ihm bereits die Kommunion verweigert und belegte später seine Werke mit einem Omnia-Opera-Verbot. Der nach Voltaire meistgelesene zeitgenössische Schriftsteller Europas mußte sich gegen den Pariser Erzbischof und den Genfer Generalprokurator (»Briefe vom Berge«, in Paris umgehend von Amts wegen verbrannt) literarisch zur Wehr setzen und sich den bis an sein Lebensende geltenden Haftbefehlen durch permanente Flucht entziehen.

Verjagt aus Frankreich, Genf und Bern, suchte Rousseau Zuflucht im Herrschaftsbereich von Friedrich II., dem sogenannten Großen, worüber er nachträglich den ihm gleichaltrigen König mit einem Brief vom Juli 1762 informierte, in dem es hieß: »Ich habe viel Schlechtes über Sie gesagt, und ich werde es vielleicht wieder tun. (…) Sire, ich habe keine Gnade von Ihnen verdient, und ich begehre auch keine.« Als nunmehriger Bewohner des in der preußischen Enklave gelegenen Bergdorfes Môtiers und damit Bürger des 1707 durch eine Erbschaft an Preußen gefallenen Fürstentums Neuchâtel forderte er sofort »seinen« großzügigen König brieflich auf, den (siebenjährigen) Krieg zu beenden, was diesen zu der Bemerkung veranlaßte: »Der wackere Mann weiß nicht, wie schwer es ist, dahin zu gelangen; würde er die Politiker kennen, mit denen ich es zu tun habe, würde er sie noch weit zanksüchtiger finden als die Philosophen, mit denen er sich überworfen hat.« Nach handgreiflichen Verfolgungen durch die von der Geistlichkeit Neuchâtels gegen ihn aufgehetzte Bevölkerung floh Rousseau aus Môtiers auf die zum Kanton Bern gehörende Insel Saint-Pierre im Bieler See, von der ihn, immerhin den bedeutendsten Schweizer Denker, die Berner Regierung mit dem Befehl vertrieb, Insel und Republik innerhalb von 24 Stunden zu verlassen und nie wieder zu betreten. Ungeachtet des nie aufgehobenen Pariser Haftbefehls lebte er, sich als Notenabschreiber Geld verdienend, im wesentlichen dort bis an sein Ende unter dem Namen Jean-Joseph Renou, in geduldeter Illegalität. Zu guter Letzt übersiedelte er im Mai 1778 nach Ermenonville bei Paris: »Für mich ist auf Erden alles zu Ende. Man kann mir hier nichts Gutes mehr tun, aber auch nichts Böses. Ich habe in dieser Welt fortan weder etwas zu erhoffen noch zu befürchten. So ruhe ich denn sicher am Boden des Abgrunds, arm und unglücklich zwar, aber auch unerschütterlich wie Gott selbst«. Rousseau, sechsundsechzigjährig, stirbt am 2. Juli des gleichen Jahres und wird zwei Tage später auf einer von Pappeln überschatteten Insel im dortigen Parksee beigesetzt.

Wirkung ohne Ende

Im ersten Satz seiner Konventsrede vom 10. Mai 1793 rezipierte Maximilien de Robespierre den Grundgedanken des ersten Satzes aus Rousseaus »Contrat social«: Der Mensch sei für die Freiheit geboren, doch überall ist er versklavt! Eine ketzerische Behauptung übrigens, denn wo bleibt da die christliche Lehre von der Erbsünde? In einer weiteren Konventsrede vom 7. Mai des folgenden Jahres erklärte Robespierre, daß Rousseau würdig sei, »Lehrer des Menschengeschlechts zu sein, ach, wenn er nur Zeuge unserer Revolution hätte sein können, deren Vorläufer er war«. Und in der Tat ist Rousseau aus Frankreichs großer Revolution nicht wegzudenken. Deren bedeutendster Historiker, Walter Markov, begann seine Chronologie dieser Revolution nicht mit dem Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789, sondern mit 1762, nämlich dem Publikationsjahr von Rousseaus »Contrat social«. Vom Oktober 1790 an wurde Rousseaus Büste samt einem Exemplar des »Gesellschaftsvertrages« im Saal der Nationalversammlung aufgestellt. Wie auch dem Pariser Berichterstatter der Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen nicht entging, begab sich am 11. Oktober 1794 Frankreichs Nationalkonvent zu einem Rousseau-Fest, in dessen Verlauf auf einem Wagen eine große Tafel mit der Menschenrechtserklärung und dem Zusatztext angebracht war: »Er zuerst forderte diese unverjährbaren Rechte zurück!«. Und dann wurde auf Beschluß des Nationalkonvents an diesem Tag der Holzsarg mit den Gebeinen Rousseaus aus Ermenonville in das Pariser Panthéon überführt. Der Witwe Rousseaus, Thérèse, war eine Ehrenpension bewilligt worden.

Natürlich hatten nicht die Ideen Rousseaus Frankreichs große Revolution verursacht. Auch wenn so mancher Zeitgenosse die Meinung vertrat, daß ohne ihn die Bastille noch stünde. Er war auch nicht für den Verlauf der Revolution verantwortlich. Auch wenn ihm später der Jakobinerterror zur Last gelegt wurde, allgemeiner noch: der ganze »Totalitarismus«. Insofern war es berechtigt, das Klischee von Rousseau als dem Urheber und Anstifter der französischen Revolution zu hinterfragen, woraus sich freilich nicht etwa die Charakterisierung der politischen Philosophie Rousseaus als konservativ ergibt. Zwar wäre mit seinen Vorstellungen einer gleichberechtigten Gesellschaft von Kleineigentümern die historisch erforderliche Produktivitätsentwicklung der den Feudalismus hinter sich lassenden bürgerlichen Gesellschaft nicht zu machen gewesen (wie übrigens auch nicht eine sozialismusadäquate Gesellschaft, worauf in der Sache Lenin – LW 12, S. 352 – verwies), aber Rousseau war nun einmal unleugbar die Leit- und Symbolfigur der im 18. Jahrhundert fortschrittlichsten Sache der Welt. Unübersehbar war auch sein Einfluß auf die Vorwärtsdenker und -dichter seiner Epoche, auf – um nur die deutschen zu nennen – Herder und Kant (in dessen Königsberger Haus ein Rousseau-Porträt als einziges Bild hing), auf Fichte, Hölderlin (seine Ode »Rousseau«, in der es heißt, der »kühne Geist« »fliegt den kommenden Göttern voraus«) und Hegel bis hin zu den Junghegelianern und Marx, dessen Exzerpte aus dem »Contrat social« überliefert sind (MEGA IV/2, S. 91–101).

Ganz gewiss entsprach das Ergebnis der europäischen Revolutionen des 17./18. Jahrhunderts, die realkapitalistische Gesellschaft, nicht den Vorstellungen Rousseaus von einer menschenwürdigen Gemeinschaft. Mit nachfolgenden Sätzen aus seinen Werken, ernst genommen und aus ihnen die Konsequenzen gezogen, stünden die heute Herrschenden auf einem rechtsstaatlichen Bürgerkriegsfuß: Nichts ist gefährlicher als der Einfluss der Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten. – Die Staatsmacht hilft dem Starken, den Schwachen zu unterdrücken, und die Tendenz aller Gesetze besteht darin, die Reichen gegen die Habenichtse zu begünstigen. – Kein Staatsbürger darf so reich sein, um sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, um sich verkaufen zu müssen. – Wer sich zu sagen erdreistet, daß es außerhalb der Kirche kein Heil gibt, der muß aus dem Staat verjagt werden. – Die modernen Völker besitzen keine Sklaven, sie sind selbst welche. – Das Geld ist die Saat des Geldes, denn alles, was der Arme bezahlt, ist für ihn auf ewig verloren, es bleibt nämlich in den Händen der Reichen oder kehrt in sie zurück. – Verträge binden den Schwachen an den Starken, niemals aber den Starken an den Schwachen. – Die Gesetze nützen immer denjenigen, die etwas besitzen, und schaden immer denjenigen, die nichts haben. – Überall, wo das Geld regiert, ist jenes Geld, das das Volk zur Aufrechterhaltung seiner Freiheit hergibt, das Instrument seiner Versklavung, und was es heute freiwillig bezahlt, das wird dazu verwendet, es morgen mit Gewalt zahlen zu lassen.

Gegenwärtiges Denken

Rousseau-Sätze wie diese verdeutlichen, daß nicht vom Vergangenen die Rede ist, wenn anläßlich der dreihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages seiner gedacht wird. Vom Gegenwärtigen muß die Rede sein! Ohne etwa das Gedankengeflecht Rousseaus als Vorwegnahme einer marxistischen Weltinterpretation zu mißdeuten, so stiften doch seine basisdemokratischen, die Ursächlichkeit der Politikermacht in der Eigentümermacht aufdeckenden, den Frieden (»paix pérpetuelle«) zwischen den Völkern anstelle der Übermacht irgendeines Volkes über die anderen fordernden Überzeugungen Unruhe bei jedem, der heutzutage scheuklappenfrei nachzudenken wagt.

Mehr noch: Man vergleiche den spätestens seit Stephan Hermlins »Abendlicht« meistzitierten Satz des Kommunistischen Manifests von der künftig an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft tretenden »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, S. 482), mit dem von Rousseau als das Grundproblem seines politischen Denkens bezeichneten Vorhaben, eine Form der Assoziation (»une forme d’association«) zu finden, die mit der ganzen Kraft der Gemeinschaft Person und Eigentum eines jeden Gesellschaftsmitgliedes schützt, und durch die jeder einzelne, obwohl er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor. Sodann nehme man den Text einer Anmerkung im ersten Band des Kapital (MEW 23, S. 774): »Ich werde gestatten, sagt der Kapitalist, daß ihr die Ehre habt, mir zu dienen, unter der Bedingung, daß ihr mir für die Mühe, die ich mir mache, euch zu kommandieren, das wenige gebt, was euch bleibt.« Es handelt sich hier um ein Rousseau-Zitat, das Marx in der Originalausgabe natürlich auf französisch zitiert (MEGA II/5, S. 598), doch die Worte: »sagt der Kapitalist« sind von Marx interpoliert, sie stammen nicht von Rousseau. Könnten sie aber von ihm sein?

Der voranstehende Absatz führt an die Grenze eines Umschlagens von Gesellschaftsillusionen in Gesellschaftstheorie.

* Prof. Dr. Hermann Klenner ist Rechtswissenschaftler und lebt in Berlin.

Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Juni 2012



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