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Marx in Rußland: Eine Wiederkehr

Kein orthodoxer Retrosalat: Eine Tagung in Berlin verhandelte die Sicht von Marx und Engels auf die russische Entwicklung

Von Manfred Lauermann *

Wie lange ist es her, daß auf einer wissenschaftlichen Tagung in Berlin russisch gesprochen wurde? Wie lange, daß nicht neoliberales, jelzinisiertes Fastfood oder orthodox-russischer Retrosalat gereicht wurden, sondern weit schmackhaftere Kost? Nämlich Marx’ und Engels’ »Sicht auf die europäische Politik und sozialpolitische Entwicklung Rußlands«, am Wochenende initiiert vom »Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition«, mitveranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und deren Berliner Sektion »Helle Panke«. MEGA ist bekanntlich die Abkürzung für die Marx-Engels-Gesantausgabe. Eine Veröffentlichung der Vorträge ist für nächstes Jahr geplant.

Stellen wir uns ein historisches Gemälde von Ilja J. Repin vor, welches restauriert wird: Obwohl das Ganze als Gestalt präsent ist, beugt man sich nur über einen Ausschnitt, den man Detail für Detail nach verderbten Stellen absucht, zuweilen die Farben auffrischt. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Rußland bei Marx und Engels. Ausgespart wurde bei diesem auf der Tagung verhandeltem »Gemälde« die Charakterisierung Rußlands als einer »asiatischen Barbarei«, später berühmt als das Wittfogel-Problem, unterbelichtet war der Zusammenhang der Prognosen von Marx und Engels mit Lenins eindeutige Analyse »Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland« und erst recht der zur Oktoberrevolution.

Folgender Ausgangspunkt also war gegeben: 1.) In der russischen Frage war Engels der Anreger, nicht nur lernte er gut 20 Jahre früher Russisch, sondern er war Marx in vielen Beurteilungen sowie in Urteilskorrekturen zeitlich voraus. 2.) Rußland galt ab 1848 als Hort der Reaktion, welches in Europa ständig Energie für Konterrevolutionen bereitstellte, dessen eher »asiatischer« Gesellschaftsaufbau sich entschieden von der Moderne unterschied, während es nach 1861 durch die Bauernbefreiung eindeutig Teil Europas wurde. 3.) Durch die Niederlage Rußlands im Krimkrieg (1854/1855) und nach dem Pariser Friede (1856) wird dem Übergewicht Rußlands in Europa ein Ende gemacht. Diese Ergebnisse der Forschungen wurden von Paolo Dalvit (Mailand), der zudem einen weiteren Band der neuen italienischen Marx/Engels-Ausgabe mitgebracht hatte (Sritti 1854/55, edizione Lotte Communiste 2011), sowie von Hanno Strauß (Berlin) vorgestellt und erweitert.

Die 1850er Jahre waren zweifellos ein Jahrzehnt der politischen Theorie von Marx ähnlich wie dann die 6oer eines der Ökonomie. Dem entsprach unausgesprochen der Vortrag von Manfred Neuhaus über Marx als gut bezahlter Europakorrespondent der New York Tribune, immerhin einem Blatt von 145000 Auflage. Auch mußte Marx natürlich den ideologischen Horizont der bürgerlich-liberalen Zeitung berücksichtigen, wobei bei uns Interpretationsunsicherheiten entstehen, wie Dalvit anmerkte, was ist originäre marxistische Theorie, was ist Maskierung eines Theoretikers der Moderne? Die Rolle der unterdrückten Klassen blieb für die bürgerliche Öffentlichkeit nur im Ungefähren und wurde moralistisch angemalt. Wunderbar klar war der Vortrag von Giovanni Sgro (Neapel) über die Stellung des späten Marx zu Rußland (Briefe an die Redaktion der Otetschestwennyie Sapiski und an Vera Sassulitsch). Marx weist darauf hin, daß seine Kapitalismus-Analyse ein reflektierter Idealtypus sei, der so nicht auf andere Kulturen als den der westlichen Industrieländer zu übertragen ist. Durch die eigentümliche Beharrung der russischen Dorfgemeinde auf Formen von Gemeineigentum, die im Kapitalismus längst zerstört sind, enthält Rußland einen andern Gesellschaftstypus, einen anderen Code, der unter bestimmten Umständen benutzt werden kann, mit direkteren Vergesellschaftungsweisen zu experimentieren, solange die Arbeit nur partiell in Lohnarbeit transformiert wurde.

Kontrovers, wie zu erwarten, wurde der Bakunin-Teil. Wolfgang Eckhardt (Berlin) sprach über Bakunin vs. Marx und Vesa Oittinen (Helsinki) über Marx, Bakunin und Dostojewski. Letzterer konzentrierte das Bakunin-Problem geistesgeschichtlich überzeugend auf den Nihilismus-Diskurs, der bei Dostojewski dichterisch gestaltet wurde, während dagegen eher ideenpolitisch Wolfgang Eckhardt (Herausgeber einer neuen schönen Bakunin-Ausgabe bei Karin Kramer in 12 Bänden) eindeutig Partei nahm gegen die autoritären Marx/Engels, die Bakunin als Richtung und Person aus der 1. Internationale herausdrängten. Ein Verdacht blieb, die früher übliche Hagiographie von Marx sei durch Bakunin abgelöst: Engel und Teufel tauschen ihre Rollen.

Mit Bakunin war das russische Thema in Gestalt einer großen Figur des 19. Jahrhunderts angeschnitten. Ein anderer Emigrant stand im Zentrum bei Tatjana Ivanova Filimonova vom Petersburger Plechanov-Haus. Ihr gelang wunderschön die Vergegenwärtigung von Georgi Walentinowitsch, und die Zeit schien stille zu stehen, hatte doch die Morgenpresse über die Inaugurierung Putins quasi als Zar Putin II berichtet. Eine ähnlich empathische Darstellung gelang Svetlana Gavricenko, die durch mehrere Briefbände der MEGA bekannt ist, mit der Person von V.V. Bervi-Flerovskijs, dessen »Lage der arbeitende Klasse in Russland« (1869) Marx auf eine Stufe stellte mit Engels soziologischem Meisterwerk »Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845). Ein ähnlicher origineller Kopf wurde von Valerij Fomicev (Moskau) präsentiert: S.A. Podolinskij, einen Mediziner, der in Paris und Breslau studierte und dessen Vormanuskript von »Le Travail Humain et la Conservation de l’Energie« (1880) Marx mit Randnotizen versehen hat: Eine genialisch spekulative Überlegung, wie der Marxsche ökonomische Arbeitsbegriff mit einem physikalischen Arbeits=Energie-Begriff verkoppelt werden kann.

Abschließend breitete Rolf Hecker uferloses Material aus zur ersten russischen Übersetzung des Kapitals Band 1 von N. F. Danielson (1844–1918), dem die Bände 2 und 3 folgten, so daß Marxens Hauptwerk ausgerechnet in Rußland zuerst als Übersetzung vorhanden war, was die politischen Vorurteile bei den Klassikern über die russische Gesellschaft nachhaltig ins Schwanken brachte. Wie bei der Diskussion zu Plechanov-Ausgaben und Briefsammlungen der russischen Sozialisten wurde noch einmal sichtbar, welche editorische und wissenschaftliche Arbeit in der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution geleistet wurde. Mit einem Wort: In russischen Archiven liegt als Bakuninsches Dynamit genügend Material, um nach der Thronbesteigung von Putin II, dialektisch angestoßen durch Asien (anwesend waren auch Gäste aus Japan und China, wo laufend Übersetzungen nach der MEGA fabriziert werden), erneut die Überwindung des Kapitalismus auf die Tagesordnung zu setzen. Vorbote möge die neue, wissenschaftlich beeindruckend überarbeitete dreibändige Kapitalausgabe sein, die 2011 in Moskau neu erschienen ist. Marx, prophetisch, aus einem Brief an die Lafargues, 5.3.1870: »... daß eine äußerst schreckliche soziale Revolution – natürlich in den niederen Formen, wo sie dem gegenwärtigen Moskowiter Entwicklungsstand entsprechen – in Rußland unvermeidlich ist und nahe bevorsteht. Das sind gute Nachrichten...!«

* Aus: junge Welt, 29. September 2011


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