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Sog nach unten

Eine Tagung in Osnabrück über heutigen Kapitalismus

Von Arnold Schölzel *

Sätze wie »Die Märkte beherrschen uns« werden in Nachrichtensendungen als Faktum verkündet, in Leitartikeln erläutert und zur Grundlage von Politik gemacht. Mehr als das, was Karl Marx einst »Warenfetischismus« nannte, stellen sie in Wirklichkeit nicht dar: Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden aufgefaßt, als seien sie Verhältnisse zwischen Sachen, zwischen Waren, und damit auf den Kopf gestellt. Denn »die Märkte« existieren nur auf der Grundlage von konkreten Eigentumsverhältnissen. Um die ging es letztlich immer wieder auf der Tagung von Marxistischer Abendschule Osnabrück und Marx-Engels-Stiftung Wuppertal zum Thema »In welchem Kapitalismus leben wir«, die am Sonnabend etwa 50 Interessenten in das Gewerkschaftshaus der niedersächsischen Universitätsstadt führte.

Der Soziologe und Philosoph Werner Seppmann (Gelsenkirchen) konstatierte in seinem Referat zum Konferenzthema: Der weltweiten Verelendung – die sogenannten UN-Millenniumsziele werden weit verfehlt, hierzulande lebt ein Drittel der Bevölkerung in Armut – steht »keine fundamentale Veränderungsbereitschaft gegenüber«. Die Linke diskutiere über Zivilisierung des Kapitalismus und übernehme nicht selten die oben zitierte Redeweise von »den Märkten«. Zu vermuten sei, daß die sozialstaatlichen Regulierungen, »wie wir sie gekannt haben«, endgültig der Vergangenheit angehören. Das Gesamtsystem unterliege einem »Sog nach unten«, bringe sich aber »totalitär zur Geltung« und beeinflusse Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen der sozialen Realität. Es sei nicht nur eine Einsicht marxistischer Zirkel, daß der Kapitalismus nicht zukunftsfähig sei.

Damit war das Generalthema der lebendigen Diskussion angeschlagen: Wie kann diese Erkenntnis in Kapitalismuskritik und Gegenwehr umschlagen? Mehrere Beiträge von Gewerkschaftern bestätigten die These des Referenten, daß steigende Angst, die Unsicherheit des Arbeitsplatzes, der »Rückwärtsgang des Klassenbewußtseins in Großbetrieben« das Praktischwerden längst gewonnener Erkenntnisse verhindern. 90 Prozent der Kollegen, so eine Erfahrung, unterschreiben heute ohne Debatte einen Vertrag über Arbeitszeitverlängerung.

Mit der Reaktion auf die Zustände am anderen gesellschaftlichen Pol befaßte sich der Ökonom und Finanz­experte Lucas Zeise (Frankfurt am Main) unter dem Titel »Die Reaktion der herrschenden Klasse auf die von ihr verursachte Krise«. Letztere sei zurück am Ausgangspunkt, der Bankenrettung von 2008, gleiches gelte für die Konjunktur. Die herrschende Klasse sei verunsichert, es herrschten Unklarheit und Uneinigkeit über den einzuschlagenden Kurs, sie sitze in der Falle, nachdem sie sich in den vergangenen mehr als drei Jahrzehnten »zum Teil dem Finanzkapital ausgeliefert« habe. Angesichts der Gefahr eines allgemeinen Bankrotts bleibe nur eine »geordnete Pleite« möglich, d. h. eine Halbierung der Staatsschulden. Daran allerdings sei wiederum das Industriekapital nicht interessiert.

Die extrem widersprüchliche Lage der deutschen Bourgeoisie in diesem Zusammenhang machte die Wirtschaftswissenschaftlerin Beate Landefeld (Essen) mit ihrem Referat über die »Struktur der herrschenden Klasse« deutlich. Diese herrsche nicht uneingeschränkt und unterliege in ihrer Zusammensetzung deutlichen Verschiebungen. Sie legte anhand von statistischen Erhebungen dar, in welcher Weise sich die entscheidenden Kontrollgruppen in deutschen Konzernen in den letzten 30 Jahren verändert haben: Das Gewicht der »Clans«, d.h. familiärer Gruppen, habe deutlich zugenommen. So seien von den gut 120 bundesdeutschen Milliardären 83 Eigentümer oder Großaktionäre der 100 wichtigsten deutschen Unternehmen. Dies sei ein Resultat der »Profitabilitätsbeschleunigung« durch neoliberale Wirtschaftspolitik, die mit der von Helmut Schmidt in den 70er Jahren proklamierten »Stabilitätspolitik« eingesetzt habe. Die parasitären Aspekte des gegenwärtigen Kapitalismus hätten sich so nicht nur in der Bundesrepublik, sondern international »potenziert«.

Welche Strategie können in dieser Situation linke Kräfte verfolgen, lautete das Generalthema der Diskussion. Der Gewerkschafter Achim Bigus (Osnabrück) steuerte abschließend in seinem Referat eigene Erfahrungen zu der Frage nach den Ursachen des langen Weges der Lohnabhängigen von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich selbst« bei. »Konfliktbereitschaft« (Seppmann) lautete eine der Antworten, die deutlich macht, welch weiter Weg aus der Defensive heraus zurückzulegen ist.

* Aus: junge Welt, 12. Oktober 2011


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