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Von den Zwecken des Handelns

Das philosophische und politische Vermächtnis des Hans Heinz Holz

Von Herbert Hörz *

In der 1844 entstandenen Arbeit »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« schrieb Karl Marx: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.« Dazu habe die Theorie die Sache an der Wurzel zu fassen, die für den Menschen der Mensch selbst sei. Diese Feststellung in dem erstmals 1927 in der Marx-Engels-Gesamtausgabe veröffentlichten Fragment war das Motto des marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz, der in eben jenem Jahr 1927 geboren wurde und am 11. Dezember vergangenen Jahres verstarb. Sein Werk und Wirken verdienen unseren Respekt, gerade weil er mit seinen oft provokativ zugespitzten Thesen immer wieder Diskussion herausforderte.

In den kurz vor seinem Tod erschienenen letzten beiden Bänden seiner Trilogie »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« debattiert Holz den Gedanken von der Theorie als materielle Gewalt. Im 2010 veröffentlichten ersten Band nannte er dafür drei Etappen. »Die erste Phase marxistischer Philosophie überführt, ausgehend von Hegel und ihn verkehrend, die Philosophie aus dem Status der Theorie in ihren neuen Status als Theorie-Praxis des revolutionären Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation.« In der zweiten Etappe werde die Philosophie »Moment und Instrument der gesellschaftlichen Praxis«. Der nun vorliegende zweite Band behandelt denn auch die praktisch wirksamen theoretischen Überlegungen der »Klassiker der III. Internationale«, der Komintern (KI): Wladimir Iljitsch Lenin, Antonio Gramsci, Josef Stalin und Mao Tse-tung. Ein Anhang ist Fidel Castro (»Der Sieg der Unbeugsamkeit«) gewidmet. »In der dritten Phase, in die wir nun eintreten«, so Holz weiter, »werden die Funktionen der Philosophie für die Ausarbeitung einer praxisorientierten wissenschaftlichen Weltanschauung entwickelt werden müssen.« Die theoretischen Integrale der Praxis werden im dritten Band dargelegt.

Hans Heinz Holz hat mit diesen drei Bänden sein politisches Bekenntnis bekräftigt und uns sein philosophisches Vermächtnis hinterlassen. Trotz Realisierungs-, Akzeptanz- und Theoriekrise des Marxismus verteidigt er den wissenschaftlichen Sozialismus, der als »politische Konsequenz« aus der allgemeinen Krise des Kapitalismus »die Perspektive der klassenlosen Gesellschaft als Inhalt des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse bestimmt«. Im dritten Band sind seine Vorstellungen zu den »philosophischen Konstanten« praktischer Tätigkeit dargestellt. Manches hätte er gern noch weiter bearbeitet, doch er wollte die Publikation des Werkes noch erleben. »Bei zunehmender Verschlechterung meines Gesundheitszustands ist die Zubereitung zum Druck unter größten Schmerzen erfolgt.«

Im Mittelpunkt der theoretischen Überlegungen von Holz stehen zwei philosophische Kategorien: »Hegemonie« und »Totalität«. Er bezieht sich hierbei auf Gramsci. Wenn die Macht der Obrigkeit nicht in einem Bewegungskrieg zu brechen ist, muss um das Bewusstsein der Menschen im Stellungskrieg zwischen Herrschenden und Beherrschten, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Unterdrückern und Unterdrückten gerungen werden. Revolutionäre Aktionen bedürfen der Vorbereitung. Erst wenn die neue Weltanschauung »die Massen ergreift und sie mit einem neuen Ethos erfüllt, ist die Situation auch für den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung reif«. Dazu bedarf es theoretisch begründeter und realisierbarer Ideale.

Leider werden, wie die Geschichte zeigt, auch wissenschaftsfeindliche, barbarische und menschenverachtende Theorien zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreifen. Völkermord und Kriegshysterie können angefacht werden. Opportunismus kann sich breit machen. Das Internet mit seiner Fülle von bewerteten Informationen verlangt bei der Wahrheitssuche nach der Aufdeckung von Widersprüchen in der Darstellung gleicher Ereignisse, nach Bewertung der Bewertungsinstanzen, um nicht im Informationsdschungel zu versinken. Es sind die Halbwahrheiten, die das Bild verstellen und zu einseitiger Sicht führen. Holz würde dazu, wie ich aus Debatten mit ihm weiß, da auf die Rolle dialektischen Denkens verweisen.

Der dialektische Materialismus stelle sich Fragen, die die Welt als Ganzes und der Stellung des Menschen in ihr betreffen, um handlungsleitend wirken zu können, betont der Philosoph. Es könne ein »System der Zwecke und gesellschaftlichen Perspektiven nicht ohne Vermittlung mit einem Konzept der Totalität entworfen werden«. Dabei sei Widerspieglung »konstitutiv für Wirklichkeit«. »Die Widerspieglung ist also der Modus, in dem sich der Gesamtzusammenhang als Totalität konstituiert.« Da Philosophie die Totalität in Gedanken zu erfassen habe, diese aber nicht in der Erfahrung gegeben sei, müsse sie transempirisch gedacht werden.

Holz leitete mit konstruierendem Deduktionismus aus der Totalität Zwecke des Handelns ab. Für meinen, aus der Analyse philosophischer Fragen der Wissenschaft abgeleiteten kreativen Induktionismus ist die Welt als Ganzes in ihrer Unerschöpflichkeit differenziert zu sehen. Unsere Welt ist die von uns beeinflussbare, experimentell erfassbare und theoretisch erklärte Wirklichkeit. Dabei sind unsere Gesellschaftstheorien schon deshalb irdische Unikate, weil wir nicht wissen, welche sozialen Strukturen mögliche vernunftbegabte Wesen in anderen habitablen Zonen ausgebildet haben. Mit Hypothesen suchen wir nach anderen Welten und Strukturen, wie etwa mit dem LHC nach den Higgs-Teilchen. Über die Welt als Ganzes können wir aus unseren Erkenntnissen nur ganz allgemeine philosophische Aussagen über ihre Unerschöpflichkeit, Strukturiertheit, Determiniertheit und Entwicklung machen, die wir im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen zu präzisieren haben.

Es gibt keinen Endzustand gesellschaftlicher Entwicklung. Solange Menschen existieren, werden sie in ihrer Arbeitsteilung und sozialen Bindung mit dialektischen Widersprüchen konfrontiert sein. Theoretisch begründbar ist jedoch das Ideal einer zukünftigen humanen Gesellschaft als Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten, die ihre Konflikte friedlich löst und die Erhöhung der Lebensqualität aller Glieder einer soziokulturellen Einheit als soziale Zielsetzung verwirklicht. Eine differenzierte Sicht auf die Totalität, die stets eine historische Totalität ist, erfordert eine Bestimmung dessen, was materialistische Dialektiker unter der Welt als Ganzes verstehen. Ihre Abgrenzung vom Kreationismus, vom Idealismus, Empirismus und Positivismus, die Holz konstruktiv führt, ist bis zu einer differenzierten Ansicht über die von ihm betonte Einheit von Philosophie und Praxis weiterzuführen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Analyse der Klassiker der KI, die Holz im zweiten Band vornimmt. Die theoretischen Differenzen und politischen Debatten um strategische Zielsetzungen, Restriktionen und Repressionen ordnet Holz konkret-historisch ein. Verbrechen und Verfälschungen der marxistischen Theorie spart Holz nicht aus. Stagnation und Regression in der Sowjetunion seien jedoch nicht auf eine Person zu schieben. Wer Holz kennt, wird sich nicht wundern, dass er den Revisionismus von Chruschtschow geißelt.

Gern hätte man mit Holz, der am kommenden Sonntag 85 geworden wäre, weiter debattiert. Er stellte sich selbst gern Diskussionen. Die von der Leibniz-Sozietät zu seinem 80. Geburtstag veranstaltete Tagung hatte den Titel »Die Lust am Widerspruch. Theorie der Dialektik - Dialektik der Theorie«.

Hans Heinz Holz: Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie. Aurora Verlag, Berlin.

Band 2: Theorie als materielle Gewalt. Die Klassiker der III. Internationale. 272 S., br., 24,95 €.

Band 3: Integrale der Praxis. Aurora und die Eule der Minerva. 350 S., br., 24,95 €.


* Aus: neues deutschland, 23. Februar 2012


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