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Die Rückkehr der Kapitalismuskritik

Über den Zustand der Gewerkschaften, den Kampf um den Wohlfahrtsstaat und die Chancen solidarischer Ökonomie

Von Hans-Jürgen Urban *

Um die Gewerkschaften, einst Hauptträger der Sozialkritik, scheint es nicht gut bestellt. Für eine Debatte über linke Alternativen zur Krisenpolitik ist es höchste Zeit.

»Wohin man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden.« Diese Worte leiten einen Diskussionsband der Jenaer Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa ein, der der Rückkehr bzw. der Rückholung des Kapitalismus und seiner Kritik in die deutsche Soziologie gewidmet ist. In der Tat: Selbst in den Eliten und Medien wird nicht mit Kritik am Finanzmarkt-Kapitalismus nicht hinter dem Berg gehalten. Vielfältige Belege ließen sich heranschaffen.

Doch den medialen Kapitalismusschelten fehlt es offenkundig an Wirkungskraft gegenüber einer Politik- und Finanzelite, die sich in ihrer realen Politik weitgehend unbeeindruckt zeigt. Und dies, obwohl die Rechtfertigungslücke des Finanzmarkt-Kapitalismus kaum größer und die Ansatzpunkte ideologischer Gegenwehr kaum zahlreicher sein könnten. Einen Erklärungshinweis liefert Colin Crouchs Neoliberalismusanalyse. Der Keynesianismus ging unter, so Crouch, weil sich die Arbeiterschaft, deren Interessen er zum Ausdruck brachte, in einem historischen Niedergang befand und an gesellschaftlicher Macht verlor. Im Gegensatz dazu gingen die sozialen Träger des Neoliberalismus, insbesondere die Konzerne des Finanzsektors, aus der Krise des Kapitalismus nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt hervor. Demnach korreliert die Durchsetzungsfähigkeit einer Ideologie vor allem mit der Macht jener Schicht oder Klasse, deren Interessen sie repräsentiert. Gleiches dürfte für die Kritik einer hegemonialen Ideologie gelten. Auch sie bedarf eines handlungswilligen und handlungsfähigen Akteurs, der vorhandene Kritikgelegenheiten nicht verstreichen lässt. Daran hapert es gegenwärtig.

Sozialkritik und Gewerkschaften

Welche Rolle könnten die Gewerkschaften in dieser Konstellation spielen? Könnten sie als Interessenorganisationen derer, die zu Opfern der Finanzmarktkrise geworden sind, Träger einer neuen Kapitalismuskritik sein? Versuche, diese Frage zu beantworten, münden in neuer Skepsis. Denn um die Gewerkschaften, einst Hauptträger der Sozialkritik, scheint es nicht gut bestellt. Auch die deutschen Gewerkschaften konnten (oder wollten?) keinen markanten Beitrag zur Stabilisierung oder gar Reaktivierung einer dezidierten Kapitalismuskritik leisten. Vielmehr spricht einiges dafür, dass Gewerkschaften und Sozialkritik nicht passive Opfer des Übergangs zum Finanzmarkt-Kapitalismus wurden, sondern dass das Verstummen der Sozialkritik und die schwindende Organisationsmacht der Gewerkschaften einander verstärkten und ihre versiegende Bereitschaft, sich als Träger einer prägnanten Kapitalismuskritik zu profilieren, dem Finanzmarkt-Kapitalismus den Durchbruch erleichterte.

Grosso modo stellt die internationale Gewerkschaftsforschung fest, dass die Gewerkschaften im Übergang zum Finanzmarkt-Kapitalismus in eine äußerst schwierige Problemkonstellation geraten sind. Auch hinsichtlich der Auswirkungen der Großen Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus auf Organisations- und Durchsetzungsmacht der Gewerkschaften sind eher pessimistische Einschätzungen vorgetragen worden. Demnach gelang es nicht, aus der offenkundigen Blamage neoliberaler und marktgläubiger Theorien einen strategischen Vorteil zu ziehen. Offenbar war die Erosion ihrer Machtressourcen zu umfassend, als dass die Gewerkschaften mit pro-aktiven Interventionen ihre Organisationsmacht stärken und Einfluss auf den Krisenverlauf hätten nehmen können.

Dabei ist der Befund bemerkenswert, dass sich die Entwicklung der Gewerkschaften während der Krise im Rahmen eines institutionellen Wandels abspielte. Dieser führte in einigen Ländern des krisengeschüttelten Europas zu einer neuen Form tripartistischer Bündnisse. Für den deutschen Fall ist dafür der Begriff des »Krisen-Korporatismus« in die Debatte eingebracht worden. Innerhalb dieses Rahmens wurden Zugeständnisse mit Blick auf Beschäftigung und bei der Einkommenssicherung (bzw. der Moderation von Einkommenseinbußen) gegen den Verzicht auf systemoppositionellen Widerstand und soziale und politische Militanz getauscht. Dabei gerieten Staat, Gewerkschaften und Unternehmen der Realwirtschaft unter dem Druck der Schockkrise 2008/2009 gemeinsam in eine machtpolitische Defensive gegenüber den Mechanismen der Finanzmärkte und der Lobbymacht ihrer Schlüsselakteure. Vor diesem Hintergrund stellte der Krisen-Korporatismus eine Allianz der Schwachen dar, wobei die betrieblichen und politischen Sozialpakte als Notgemeinschaften und akute Antwort auf die Schockkrise verstanden werden.

Im hier diskutierten Kontext führt zugleich kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die Logik korporatistischer Aushandlungsprozesse mit ihren Kompromisserfordernissen gegenüber Kapital und Staat weniger als Treiber denn als Bremser einer dezidiert kapitalismuskritischen Sozialkritik wirkt. Dass auch in der zugespitzten Funktions- und Hegemoniekrise des Finanzmarktkapitalismus kapitalismuskritische Sozialkritik eher im Flüsterton zu vernehmen war, ist nicht nur, wohl aber auch der Krisenpolitik der Gewerkschaften geschuldet.

Neue Wirtschaftsdemokratie – ein Revitalisierungsprojekt

Gleichwohl befinden sich Gewerkschaften auch im Finanzmarkt-Kapitalismus in einer offenen, nicht determinierten Situation. Die ökonomischen, sozialen sowie politisch-kulturellen Kontexte strukturieren einen neuen Möglichkeitsraum mit unterschiedlichen strategischen Optionen.

In diesem Zusammenhang ist die langsam in Gang kommende Debatte über eine »neue Wirtschaftsdemokratie« von Interesse. Von ihr könnten Revitalisierungsimpulse im Sinne einer Reaktualisierung kapitalismuskritischer Sozialkritik und zugleich einer machtpolitischen Stärkung der Gewerkschaften ausgehen. Wirtschaftsdemokratie zielt auf eine grundlegende Veränderung der Kräfte- und Machtverhältnis zwischen den Akteuren Staat, (Finanz-)Kapital und Arbeit und zielt auf eine systematische Einflussnahme demokratischer Politik auf wirtschaftliche Entscheidungen und private Eigentumsrechte. Das ruft Gegenreaktionen bei Staat und Kapital hervor und überführt wirtschaftsdemokratische Diskurse schnell in gesellschaftliche Machtkonflikte.

Im Konzept einer neuen öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie bündeln sich unterschiedliche Argumentationsstränge. Als Instrument der Krisenbewältigung und der Restabilisierung von Ökonomie und Sozialstaat wirkt es als Sozialkritik in korrektiver Absicht. Zugleich weisen die Einschränkung privatkapitalistischer Eigentumsrechte durch expansive Mitbestimmung und Elemente der politischen Wirtschaftssteuerung sowie der Vorrang gesellschaftlicher Problemlösung vor privater Profitproduktion über die Regeln kapitalistischen Wirtschaftens hinaus. Hier wirken Kräfte einer transformatorischen Radikalkritik. Und indem die Demokratisierung von Produktions- und Verteilungsentscheidungen die Produzenten aus der Rolle (mehr oder weniger) passiver Objekte der kapitalistischen Akkumulation befreit, sie gegenüber Marktimperativen und Shareholder-Value-Denken stärkt und sie zu Subjekten der Wirtschaftssteuerung macht, enthält die wirtschaftsdemokratische Reforminitiative Elemente gesellschaftlicher Künstlerkritik.

Eine solche Reformalternative könnte zunächst auf eine drastische Aufwertung nicht-privaten Eigentums und ein nach gesellschaftlichen Bedarfen gesteuertes Marktsystem hinauslaufen. Und eine aktivierte und intervenierende Zivilgesellschaft könnte die Kolonialisierung von Gesellschaft und Politik durch die Ökonomie umkehren und durch die Implementierung gesellschaftlicher und politischer Ziele einen Prozess der »Kolonialisierung der Ökonomie« in Gang setzten. Organisiert als ein Kooperationsprojekt zwischen Gewerkschaften, Politik, kritischer Wissenschaft und anderen könnten von der gemeinsamen Arbeit an der neuen Wirtschaftsdemokratie belebende Impulse für Sozialwissenschaft und Gewerkschaftspolitik zugleich ausgehen.

Gewerkschaftliche Autonomie

Eine wirtschaftsdemokratische Orientierung würde eine intensivierte gewerkschaftliche Strategiedebatte erfordern, die auch das gewerkschaftliche Politik- und Selbstverständnis einzuschließen hätte. Auf eine solche liefe die Reformulierung des gewerkschaftlichen Autonomiebegriffs hinaus. Im traditionellen Sinne bestand der Kern einer klassenautonomen Gewerkschaftspolitik in einer konfliktorientierten Interessenpolitik, die die umfassenden Reproduktionsinteressen der Lohnabhängigen gegenüber ökonomischen Akkumulationszwängen und politischen Integrationszwängen zur Geltung brachte. Sie war politökonomische Klassenpolitik mit kapitalismuskritischen Ambitionen gegenüber Staat und Kapital. Ein zeitgemäßer Autonomiebegriff im mosaiklinken Kontext hätte diese Konzeption nicht zu dementieren, wohl aber zu erweitern. Dies wäre durch einen erweiterten Interessenbegriff zu unterlegen.

Zweifelsohne gewinnt eine klassenorientierte Interessenpolitik der Lohnabhängigen im Finanzmarkt-Kapitalismus eher an Bedeutung, als dass sie Wichtigkeit verlöre. Doch in mosaiklinken Zusammenhängen werden nicht nur klassenpolitische Projekte im engeren Sinne, sondern auch Themen und Politikziele allgemeinen Zuschnitts zu verhandeln sein. Das dürfte den Gewerkschaften eine neue Form der Einbeziehung von Interessenlagen und Präferenzen außerhalb des unmittelbaren Kontexts der abhängigen Arbeit abverlangen. Auf jeden Fall drängt diese Konstellation in Richtung einer Aufwertung des politischen Mandats der Gewerkschaften und der allgemein-politischen gewerkschaftlichen Interessenpolitik.

Doch nicht nur die gewerkschaftliche Strategie, auch die Gewerkschaftsforschung ist gefordert. Der Krisen-Korporatismus stellt ein weites Forschungsfeld dar. Zunächst gilt es, die wissenschaftliche Tauglichkeit des Krisen-Korporatismus-Konzeptes zu prüfen und die Arbeit am Begriff fortzusetzen. Ziel sollte eine analytische Terminologie sein, die die Spezifika des makro-ökonomischen Kontextes sowie der Akteurskonstellationen mit seinen Interessenlagen und Machtausstattungen im deutschen Finanzmarkt-Kapitalismus adäquat erfasst. Diese Anstrengungen sollten Anschluss an die Debatte über die neue Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten suchen. Sollte sich die Skepsis gegenüber der Thesen von der Rückkehr handlungsmächtiger Staaten in der Krise erhärten, dürfte dies nicht ohne Auswirkungen auf die Verlässlichkeit staatlicher Zusagen und die Erfolgschancen krisenkorporatistischer Bündnisse bleiben. Wünschenswert wäre zugleich, den nicht trivialen Implikationen korporatistischer Einbindung der Gewerkschaften für die innerorganisatorische Entscheidungsfindung nachzuspüren. Auch der Krisen-Korporatismus wird durch den Konflikt zwischen einer politikorientierten Einfluss- und einer widerstreitenden Mitgliederlogik unter Spannung gehalten. Eine zu intensive Einbindung in Sozialpakte, die Krisengewinne und Krisenkosten eklatant ungleich verteilen, könnte zum Risiko für die demokratische Binnenstruktur der Gewerkschaften werden. Je enger die Einbindung der Gewerkschaften in die korporatistischen Arrangements und je höher die zu entrichtenden interessenpolitischen Preise, desto stärker könnte die Neigung der Verbandsführungen ausfallen, auf interne Diskussions- und Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, um Konflikte zwischen der internen Meinungsbildung und den Erfordernissen korporatistischer Bündnisse gering und die gewerkschaftliche Verpflichtungsfähigkeit hoch zu halten. Eine solche interne Formierung könnte schnell in Restriktionen einer authentische Artikulation der Mitgliederinteressen und damit in Schäden an der innerorganisatorischen Demokratie münden.

Werden die Gewerkschaften einen Beitrag für die Verständigung über neue wirtschaftsdemokratische Ansätze leisten wollen und können? Darüber werden die Debatten der nahen Zukunft und die Bereitschaft der gewerkschaftlichen Führungsgruppen zu einer problemgerechten Strategiedebatte entscheiden. Entscheidend wird sein, ob sich die gewerkschaftliche Mitgliederbasis, Belegschaften und gewerkschaftliche Aktivisten das Thema aneignen und welche Relevanz sie dem Projekt einer neuen öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie beimessen. Ob es angesichts der realen Kräfteverhältnisse in Betrieb und Gesellschaft als Luxus- oder Utopiethema zurückgewiesen und in die ferne Zukunft verschoben wird. Oder ob es als Voraussetzung der Möglichkeit begriffen wird, der demokratieunverträglichen Anmaßung der Finanzeliten Einhalt zu gebieten und die Perspektive auf eine solidarischere Ökonomie und Gesellschaft offen zu halten. Es ist höchste Zeit, die Debatte zu beginnen.

* Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und gehört schon länger zu den wichtigen Exponenten einer Debatte über den Kampf um den Wohlfahrtsstaat, öko-soziale Wirtschaftsdemokratie und linke Alternativen zum herrschenden Krisenkurs. Urban hat Politologie, Volkswirtschaftslehre und Philosophie in Bonn, Gießen und Marburg studiert, war Gewerkschaftssekretär und Leiter der Abteilungen Sozialpolitik sowie später der Grundsatzabteilung der IG Metall tätig.

Aus: neues deutschland, Montag, 25. November 2013



Hans-Jürgen Urban: Der Tiger und seine Dompteure. Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaften im Gegenwartskapitalismus, 304 S., VSA Verlag Hamburg, 19,80 Euro.




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