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Schutzengel nötig

Kurt Pätzolds Buch über zeitgenössische Geschichtsdoktrinen

Von Arnold Schölzel *

Mit dem Namen Clio verbinde sich für viele heute nichts als die Bezeichnung eines französischen Automobils, konstatiert Kurt Pätzold auf der ersten Seite seines Buches »Der Vergangenheit entgeht niemand«. Es trägt den Untertitel »Vergnügen mit Clio? Nicht nur. Über die Muse der Geschichtsschreibung und den Umgang mit der Vergangenheit durch die Historiker«, widmet sich also der Patronin von Heldensagen und Historiographie auf der einen Seite und dem, was einige mit Geschichte befaßte Zeitgenossen mit ihrem Gegenstand veranstalten, auf der anderen.

Der Autor interessiert sich für Bizarres nicht nur am Rande (dazu gehört z. B. die Darstellung der Deutschen, einschließlich Hitlers und seiner Bunkerbesatzung, in zahlreichen Filmen der letzten Jahre als Kriegsopfer), widmet sich aber vor allem der politischen Einflußnahme auf historische Deutungen. Das liefert zumeist Stoff für Grotesken wie die Bezeichnung der am 15. Mai 2009 vom damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew eingesetzten Kommission, die »Verfälschungen der Geschichte zum Nachteil der Interessen Rußlands« ermitteln und deren Einfluß zurückdrängen soll. Das legt nahe, daß Verfälschungen zum Vorteil der Interessen Rußlands zulässig sind. Solch ein Lapsus komme »in eingespielten bürgerlichen Demokratien« nicht vor, meint Pätzold, da gehe es allein um »Wahrheit, Demokratie und Pluralismus«. Dennoch werde auch in der Bundesrepublik Staatsgefährdendes aus Schulbüchern und Unterricht ferngehalten. Dazu gehört zwar derzeit nicht das Gespenst des Kommunismus, wohl aber das der Kapitalismuskritik, was die Gedanken nolens volens auf die Geschichte der DDR bringe. Kryptokommunistische Kreise bis hin in SPD und Grüne werden regelmäßig dafür verantwortlich gemacht – jüngst von einem bayerischen Gymnasialdirektor –, daß die DDR »mit Glacéhandschuhen« angefaßt wird - ein Sprachbild, kommentiert Pätzold, »das etwas über seine Art des Umgangs mit unwillkommener Geschichte aussagt«. Dazu paßt die Warnung jenes Herrn, der einen Lehrerverband leitet und fast einmal Bildungsminister geworden wäre, vor einem Zuviel an Beschäftigung mit der Geschichte des »Nationalsozialismus«.

Im zentralen Kapitel des Buches setzt sich der Autor mit Begriffen auseinander, die auf solcher höchst unpluralistischen Manipulation aufbauen, z. B. »Mauer« oder »Fall der Mauer«: Sie liefern nicht den geringsten Hinweis auf geschichtliche Tatbestände, in diesem Fall die »Durchsetzung strikter Kontrolle und Limitierung des Personen- und Warenverkehrs an einer Staatsgrenze, eingeführt in einer Hochphase des Kalten Krieges mit dem Ziel, das Überleben des schwächeren ostdeutschen Staates zu sichern«. Ähnliches gelte für Vokabeln wie »Siedlungsbau« für das israelische Besatzungsregime, für den Begriff »Nationalsozialismus« selbst, aber auch für »Vernichtungskrieg«, den das faschistische Deutschland gegen die Sowjetunion geführt habe: Er war in erster Linie ein imperialistischer Interessen- und Raubkrieg, der die kalkulierte Massenvernichtung von Menschen einschloß. Das staatliche Interesse daran, keinen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus an Schulen und Hochschulen herstellen zu lassen, liegt auf der Hand. Wer ihn darstelle, wie z.B. der westdeutsche Historiker Fritz Fischer mit seinen Arbeiten zur deutschen Anzettelung des Ersten Weltkriegs, bekommt es mit Weißwäschern zu tun. Pätzold resümiert verschiedene Geschichtskontroversen der Bundesrepublik und stellt heraus, mit welchen nicht unbeträchtlichen Mitteln dafür gesorgt wird, die DDR »als einzigen geschichtlichen Irr- und Abweg darzustellen«. Was Politik, Publizistik und Journalistik dazu hervorbrächten, erfülle »den Tatbestand einer geistigen Bankrotterklärung«.

Der Historikerzunft, die sich davon weitgehend fernhalte, kreidet Pätzold an, daß sie »Pfuschern und Schmutzkonkurrenten« nicht das Handwerk lege. Hierzulande existierten aber Wissenschaft und politisch intendierte Scharlatanerie friedlich nebeneinander. Wer sich allerdings in Polen, der Ukraine, in Kroatien, Ungarn und in baltischen Republiken dem »tobenden antikommunistischen Furor« als Historiker entgegenstelle, brauche »mehr als einen Schutzengel«.

Pätzolds Buch enthält so ein ironisch gebrochenes, vernichtendes Fazit: Für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wird statt Wissenschaft eine Doktrin verbreitet, die beim Faschismus Entscheidendes umgeht, bei der DDR die Historie auf wenige Vokabeln reduziert – Mauerbau, Schießbefehl, Mauertote, Todesstreifen etc. Von Clio kaum noch eine Spur.

Kurt Pätzold: Der Vergangenheit entgeht niemand. Spotless im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012, 94 Seiten, 5,95 Euro * (12 Ausgaben pro Jahr im Abo 59,50 Euro)

* Aus: junge Welt, Montag, 6. August 2012


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