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Ein großer Wurf

Frank Deppes zweibändige Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert

Im Folgenden dokumentieren wir eine Rezension des vor kurzem erschienenen zweibändigen Werkes des Marburger Politikwissenschaftlers Frank Deppe zum Politischen Denken des 20. Jahrhunderts. Die Rezension (Autor: Karl Unger) erschien in der Tageszeitung "junge Welt".


Von Karl Unger

Da die Menschen Wesen sind, die das Resultat ihres Handelns im Kopf vorwegnehmen, steht ihre Willensbildung in engem Zusammenhang mit politischen Theorien. In denen setzen sie sich Ziele, wobei es relativ gleichgültig ist, ob diese die Realität treffen oder sie als bloße Ideologien verfehlen, denn das politische System besitzt ohnehin seine eigene Logik: »Es gehorcht den Regeln der Akkumulation von Macht, um für die Gesellschaft verbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Diese Macht ist erforderlich, um das ›Gewaltmonopol des Staates‹ (Max Weber) sowohl für die Sicherung des inneren Friedens als auch für die Machtkämpfe im internationalen Staatensystem zu sichern. Allerdings funktioniert diese Logik nicht als isolierter Mechanismus der Selbststeuerung des politischen Systems, sondern immer nur in Verbindung mit den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und den Kräftekonstellationen von Klassen und Klassenfraktionen, die sich über die öffentliche Auseinandersetzung artikulieren und um die Beherrschung der Staatsmacht konkurrieren.« (1/64)

Diese Feststellung von Frank Deppe deutet an, was unter marxistischer Politikwissenschaft zu verstehen ist, und was sie zu leisten hat. Mit seiner Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert hat der in Marburg lehrende Politologe ein Werk vorgelegt, das die Theoriegeschichte auf dem Hintergrund und als vermittelten Reflex realgeschichtlicher Entwicklung darstellt. Im ersten Band, der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt und bis zur Oktoberrevolution reicht, werden u. a. so unterschiedliche Theoretiker wie Max Weber, Georges Sorel, Lenin und John Dewey vorgestellt. Der zweite Band beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und endet mit dem Zweiten. In ihm werden die Theorien und das Wirken u. a. von Carl Schmitt, Rudolf Hilferding, Antonio Gramsci und Walter Lippmann analysiert. Das entscheidende Datum ist der Erste Weltkrieg, den Deppe als »Weltenwende« bezeichnet, weil der August 1914 das Ende der Welt brachte, die von der Bourgeoisie für die Bourgeoisie geschaffen worden war. Bis heute werden politisches Denken und praktische Politik davon beeinflußt, und die moderne kapitalistische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts brachte einen grundlegenden Wandel: »Anstelle der traditionellen Identifikation des Politischen mit dem Staat und dessen Ordnungsfunktionen wird nunmehr die Gesellschaft selbst zum Terrain der Politik. Die Klassenstruktur der Gesellschaft, das System der ökonomischen Verteilungsverhältnisse und die Entwicklungswidersprüche der kapitalistischen Wirtschaft (z. B. die Folgen von Wirtschaftskrisen) werden zu Räumen des politischen Kampfes. Die ›Zivilgesellschaft‹ zwischen Staat (im engeren Sinne) und Ökonomie (Arbeit, Wirtschaft) wird – in der ›Massengesellschaft‹ und besonders vermittels der neuen Rolle der ›Massenmedien‹ – zum Felde des ideologischen und politischen Kampfes um Hegemonie, um die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und den Herrschaftsblöcken«. (2/45)

Wie heute mischten sich schon im Übergang zum 20. Jahrhundert im Denken und der Kultur der herrschenden Klasse optimistische und pessimistische Prognosen für die Zukunft. Für die Optimisten stand die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Vordergrund, für die Pessimisten die Auflösung der traditionellen Werte und Verhaltensformen. Was in diesen Übergangsjahren an politischen Theorien formuliert wurde, wirkt bis heute, weil, wie Frank Deppe deutlich macht, so unterschiedlichen Denkern wie Max Weber, Vilfredo Pareto und Georges Herbert Mead das zentrale Problem gemeinsam ist: Welches sind die optimalen Formen der Machterhaltung der Bourgeoisie unter den strukturell neuen Bedingungen des Monopolkapitalismus?

Von liberal zu neoliberal

Zu dem, was heute systematisch vergessen gemacht wird, gehört, daß das Demokratieverständnis des Liberalismus nie sehr ausgeprägt war bzw., daß Liberalismus und Demokratie in der geschichtlichen Entwicklung Gegner waren. Deshalb entsteht, wie Deppe betont, die Krise des Liberalismus nicht wirklich durch den Druck autoritären Denkens. Die wechselseitige Durchdringung von Wirtschaft und Staat sowie der Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft ließen in den zwanziger Jahren die Strukturen eines »organisierten« Kapitalismus entstehen, d. h. einer Verbindung von technokratischer Planung und »Sozialpartnerschaft«. Dieser Prozeß hatte auch politische Konsequenzen: »In der modernen Massendemokratie hat das Individuum ebenso an Bedeutung verloren wie im System der fordistischen Massenproduktion und in den Lebensräumen der Massengesellschaft. Demokratie wird fortan als institutionalisiertes Verfahren des ›Konkurrenzkampfes um die politische Führung‹ bestimmt: Die Wahlen geben dem Volk die Gelegenheit, die politische Klasse bzw. Führung – unter unterschiedlichen Angeboten – auszuwählen und durch Mehrheitsentscheid eine ... Regierung hervorzubringen«. (2/143)

Damit dieses Spiel, bei dem diverse Gruppen des herrschenden Blocks mit unterschiedlichen Theorien und Programmen gegeneinander antreten, relativ reibungslos funktioniert, galt es, das Krisen- und Stagnationspotential der kapitalistischen Wirtschaft, wie es in der großen Depression zum Ausdruck gekommen war, zu überwinden. Zudem war nach 1917 der Druck der nationalen und internationalen Klassenkämpfe sehr viel stärker geworden: »Diese lehrten die Eliten der bürgerlichen Welt, daß der Frieden nach innen und nach außen nur unter der Voraussetzung innerer Sozialreformen, d. h. eines wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromisses zu haben war. Schon während des Krieges verkündeten führende Politiker der westlichen Welt, daß das Programm für den Wiederaufbau nach dem Kriege durch eine bedeutende Rolle des Staates in der Wirtschaft (z. B. durch die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und von Banken) sowie durch umfassende Sozialreformen bestimmt werde (...) Winston Churchill, der erzkonservative Premierminister des Kriegskabinetts, versprach der britischen Nation im März 1943, ›daß nach dem Krieg die Arbeitslosigkeit abgeschafft, das Staatseigentum ausgeweitet und Pflichtversicherungen für alle eingeführt würden – für alle Zwecke und von der Wiege bis zum Grab. Es gibt keine bessere Investition, als Babies mit Milch zu versorgen‹«. (2/154)

Modell der Elitenherrschaft

Die »Keynessche Revolution« war ihrem Wesen nach eine konservative, wollte sie doch das alte System mit neuen Mitteln bewahren. Deshalb konnten sich unter ihrem Dach die unterschiedlichsten Gruppen der Gesellschaft vereinen: von den herzensfrommen Sozialreformern bis zu den Bossen des militärisch-industriellen Komplexes, die die wahren Gewinner des von der Hegemonialmacht USA praktizierten Bastard-Keynesianismus wurden. In der Weltwirtschaftskrise nach 1973 platzte dieser ohnehin schon lange Zeit brüchige Konsens endgültig. Die neoliberale Offensive, die theoretisch von Friedrich A. von Hayek sowie von Milton Friedman, politisch von Margaret Thatcher in Großbritannien und von Ronald Reagan in den USA vertreten wurde, forderte eine Rückkehr zu den Prinzipien des freien Marktes und das Primat der Inflationsbekämpfung. Vollbeschäftigung war nicht länger ein wichtiges, geschweige denn das oberste Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik.

Für den größten Teil der Menschheit ist die Konsequenz dieser Politik Hunger, Elend, Krankheit und früher Tod. Das ist den Ideologen und Politikern durchaus bewußt. Deshalb erfordert diese ökonomische Konzeption eine spezifische Organisation von Staat und Gesellschaft: »Hayek (und die Neoliberalen) wollen die Politik den spontanen Ordnungen des Marktes anpassen bzw. unterordnen. Dabei plädieren sie für eine starke politische Führung (gegebenenfalls auch für eine Diktatur), die diejenigen Kräfte ausschaltet, die angeblich solche spontanen Ordnungen stören (in der Regel Organisationen der politischen und gewerkschaftlichen Linken) (...) Die Verteidigung von Positionen des wirtschaftlichen Liberalismus scheint nur möglich, wenn auf Grundpositionen des politischen Liberalismus verzichtet wird – wenn das Konzept der Selbstregierung des mündigen Volkes ersetzt wird durch ein Modell der Elitenherrschaft«. (2/465) Und das scheint mit der die Grundprinzipien der Demokratie außer Kraft setzenden Konstruktion der Europäischen Union im Europa des 21. Jahrhunderts Wirklichkeit zu werden.

Klasse und Zivilgesellschaft

Die objektive Realität ist für Unterdrücker und Unterdrückte die gleiche, die Aufgabenstellung für ihre jeweiligen politischen Denker natürlich eine unterschiedliche. Die theoretischen Köpfe der subalternen Klassen müssen die hinter dem subjektiven Handeln und den Ideologien bzw. dem gesunden Menschenverstand verborgenen Prozesse erkennen, analysieren und aus der aktuellen Gestalt der Widersprüche die strategischen Konzepte zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung entwerfen. (Die Idiotie der PDS-Reformer Brie/ Klein/Brie ist deshalb so grenzenlos, weil sie genau das nicht machen, sondern die Worte der Politiker und den Schein der Verhältnisse für die Realität nehmen.)

Bei der Darstellung der Imperialismustheorie betont Deppe, daß der von Lenin erkannte Funktionszusammenhang zwischen der inneren Entwicklung des Kapitalismus (Monopolbildung) und der Herausbildung eines kapitalistischen Weltsystems die zentrale Achse ist, auf der die vielgestaltigen Formen zwischenimperialistischer Konkurrenz sich entwickeln, die vorerst auch das 21. Jahrhundert bestimmen werden. Gleichzeitig hebt er als einen schwerwiegenden Fehler der drei klassischen Theorien (Hilferding, Luxemburg, Lenin) hervor, daß sie von einer absoluten Akkumulationsschwäche auf dem nationalen Binnenmarkt ausgehen und daraus das ökonomische und politische Krisenpotential des Kapitalismus ableiten. »Die klassischen Imperialismustheorien unterschätzen freilich nicht allein die ökonomischen Entwicklungspotentiale in den Metropolen des Kapitals, sondern zugleich die politische Relevanz jener Strukturveränderungen der Gesellschaft, die einerseits durch die ›innere Landnahme‹ (z. B. durch die Automobilisierung, durch das Wachstum des Dienstleistungssektors und insbesondere der modernen ›Kulturindustrien‹), andererseits durch die Resultate des Klassenkampfes und hier wiederum besonders durch den Einfluß der reformistischen Arbeiterbewegung auf die Staatsverfassungen und die Herausbildung des modernen Wohlfahrtsstaates vorangetrieben wurden.« (1/315).

Korsch, Lukás, Gramsci ...

Bevor dieser jedoch das Licht der Welt erblickte, kam es in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einem Höhepunkt marxistischer Theoriediskussion und Gesellschaftsanalyse. Dafür stehen Namen wie Karl Korsch, Georg Lukács und Antonio Gramsci, aber auch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse. Das gravierende intellektuelle Problem, mit dem sich diese Denker konfrontiert sahen, lag in der Notwendigkeit zu erklären, warum die bürgerliche Gesellschaft die revolutionäre Krise von 1914 bis 1919 überstanden hatte. Mehr noch, warum die revolutionäre Bewegung trotz der Tatsache gescheitert war, daß die objektiven Bedingungen für den Zusammenbruch des Kapitalismus (wie Gramsci im Einklang mit vielen anderen bemerkte) schon seit Jahrzehnten erfüllt gewesen waren.

Als die westeuropäischen Marxisten über dieses Problem nachdachten, wurden sie sich der Grenzen eines rein objektiven Marxismus bewußt. Der europäischen Gesellschaft schienen die subjektiven Bedingungen für eine soziale Revolution zu fehlen; daher war nur ein Marxismus, der die Fähigkeit besaß, Subjektivität zu analysieren (statt sie lediglich aus den ökonomischen Gesetzen zu deduzieren), in der Lage, die Krise der »modernen« Gesellschaft zu erschließen. Diese Einsicht ließ in der Folge ein Interesse an Kultur und Ideologie hervortreten, führte zur Wiederentdeckung des frühen Marx, zu neuer Aufmerksamkeit gegenüber den hegelianischen Wurzeln des Marxismus und allgemein zu dem Versuch, in einer marxistischen Tradition, die dem Positivismus (Kautsky) und dem Kantianismus (Austromarxisten) nachgegeben hatte, das dialektische Moment wiederzubeleben.

Senso commune

Bei Gramsci wird, im Gegensatz etwa zur Frankfurter Schule, das Leninsche Erbe mit den neuen Erfahrungen und Fragen der revolutionären Bewegungen in den zwanziger Jahren konfrontiert. Ein Schlüsselbegriff Gramscis ist die heute dem herrschenden Block als Propagandaformel so lieb gewordene »Zivilgesellschaft«. Der italienische Kommunist unterscheidet zwar zwischen »Zivilgesellschaft« und »politischer Gesellschaft«, rechnet aber beide den »Superstrukturen« zu. D. h. sie sind durch die kapitalistischen Produktions- und Klassenverhältnisse bestimmt und nicht durch die ethischen Anwandlungen der Dreifaltigkeit von Philosophen, Pfaffen und Politiker: »Die Kämpfe der Arbeiterklasse entwickeln sich zuerst in der Zivilgesellschaft: in den Wohnbezirken, in den Betrieben, auf der lokalen Ebene, insgesamt also auf der Ebene des ›senso commune‹, des Alltagsverstandes. Erst wenn diese Kämpfe ein bestimmtes Niveau erreicht haben, also Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verändert haben und zugleich ein höherer gewerkschaftlicher und politischer Organisationsgrad sich durchgesetzt hat, erst dann greifen diese Kämpfe auf die Ebene der ›politischen Gesellschaft‹ auf den Staat, auf die Veränderung des Systems der Klassenherrschaft insgesamt, über.« (2/246).

Was Gramsci von den Kominternvorstellungen unterscheidet, ist, daß er den Staat nicht mehr allein als Repressions- oder Zwangsapparat begreift, sondern als ein komplexes Herrschaftssystem. Am Beispiel der USA konnte Gramsci das Modell einer bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft studieren, die – auf den ersten Blick – mit sehr viel weniger politischer Gewalt auskam als die faschistischen Staaten und Diktaturen in Europa. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen faßt Deppe so zusammen: »Das amerikanische Modell des ›Fordismus‹ demonstrierte die Elastizität der inneren und äußeren Grenzen der Kapitalakkumulation: Massenproduktion und Massenkonsum eröffneten neue Investitions- und Wachstumspotentiale. Gleichzeitig wurden neue Sphären der Kapitalverwertung erschlossen: vor allem in den sogenannten Freizeitindustrien, also Filme aus Hollywood, Radioshows, Musicals und Jazzmusik, dazu eine kommerzielle Medienlandschaft, die sich mehr und mehr auf solche Bedürfnisse einstellte (...) Gleichzeitig nehmen die Filme und die Filmstars aus Hollywood und die Radioshows eine Funktion der Ersatzbefriedigung wahr, die in letzter Instanz der ›Regulierung‹ der ›sexuellen Triebe‹ dienen. Daß die Psychoanalyse gerade in den USA kommerziell verwertet wird, erscheint ihm (Gramsci – K.U.) als Beleg für die Erweiterung von Herrschaftsfunktionen, die den Menschen nicht nur als ›Arbeitstier‹, sondern auch außerhalb der Arbeit (in der Sphäre von Freizeit und Konsum) als biologisches Wesen disziplinieren und verschiedene Formen subjektiver Zufriedenheit – bei fortbestehender Ausbeutung und Entfremdung – erzeugen.« (2/263 f.).

Die Aktualität Gramscis

Die von Gramsci entwickelte komplexe Untersuchungsmethode, in der objektive und subjektive Faktoren in einem Vermittlungszusammenhang gesehen werden, und Überbauelementen (Politik, Ideologie, Kultur, Institutionen etc.) eine relative Eigenständigkeit zuerkannt wird, bietet – wie Deppe zeigt – ein Instrumentarium zur Analyse aktueller Probleme und Tendenzen: »Die Krise der kommunistischen Parteien im Westen ist – neben dem Niedergang des ›Realsozialismus‹ – auch darauf zurückzuführen, daß sich mit den Veränderungen im Produktionsprozeß und der Zusammensetzung der Arbeiterklasse, aber auch mit der wachsenden Bedeutung der Medien – und insbesondere des Fernsehens – die Strukturen der Zivilgesellschaft, die einst durch den Klassenkampf selbst geschaffen worden waren (z. B. die starke Repräsentanz der Gewerkschaften im Betrieb und die ebenso starke Repräsentanz der Partei und ihrer Kulturorganisationen im Wohnviertel, in den Bildungsinstitutionen usw.), verändert und die klassischen Subjekte der Repräsentation sich weitgehend aufgelöst haben.« (2/270) Die bürgerliche Form von Individualität ist eben nicht auf die Bourgeoisie beschränkt, sondern dringt vielmehr ins Proletariat ein und lähmt den Prozeß, in dem sich das Proletariat als historisches Subjekt zu konstituieren sucht. Das heißt, dem Monopolkapitalismus wohnt die Tendenz inne, die besonderen und einzigartigen Qualitäten des Proletariats auszulöschen, die die Vorbedingung für Klassenbewußtsein zu sein scheinen. Insofern ist Deppe der Überzeugung, »daß die Fundamentalkritik kapitalistischer Vergesellschaftung auch heute (...) unabdingbare Voraussetzung nicht nur für die Selbstbehauptung kritischen Denkens in der Tradition der Aufklärung, sondern auch für die Organisation von Widerstand und den Kampf um die Möglichkeit einer ›anderen Welt‹ bildet.« (2/365)

Abschließend sei auf einen anderen Aspekt hingewiesen. Weil Frank Deppes Marxismusverständnis nicht nur »westlich«, sondern auch »leninistisch« geprägt ist, mißt er der »Kolonialfrage« große Bedeutung bei. Und zwar nicht im Sinne der Überwindung des von den Gutmenschen immer beklagten Eurozentrismus, sondern weil sozialistische Bewegung und antiimperialistischer Kampf eine Einheit darstellen: Deshalb stellt er in eigenen Kapiteln unterschiedliche Konzeptionen des antiimperialistischen Befreiungskampfes vor: Sun Yat-sen, Gandhi, und Mao Zedong.

Wie bei jedem großen Wurf ist die eine oder andere Kritik im Detail sehr angebracht, entscheidend aber ist: Frank Deppe hat eine gut geschriebene Darstellung des politischen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen. Sie zu lesen bereitet intellektuelles Vergnügen und hilft in der politischen Arbeit, weil sie Einsichten und Argumente gegen den Mainstream liefert.

Frank Deppe: Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Die Anfänge. VSA Verlag, Hamburg 1999. 398 Seiten, ISBN 3-87975-747-X

Frank Deppe: Politisches Denken zwischen den Weltkriegen. VSA-Verlag, Hamburg 2003, 551 Seiten, ISBN 3-89965-001-8, zusammen 45 Euro



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