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Kants Projekt "zum ewigen Frieden" - "keine leere Idee, sondern eine Aufgabe"

Von Wolfgang Beutin*

Was er vorschlage, sei kein Hirngespinst, nicht eine blanke Illusion, sondern ein verwirklichbares Programm, erläuterte Immanuel Kant. Genau das meint sein Begriff "Aufgabe", und nicht mehr und nicht weniger als eine solche stellte er in seiner Schrift von 1795 mit dem Titel "Zum ewigen Frieden".

Diese umfaßt im Reclam-Bändchen nicht mehr als gerade einmal sechzig Seiten und ist doch in der deutschsprachigen Literatur zur Problematik von Krieg und Frieden die fundamentale. Ins laufende Jahr fällt ihres Verfassers 200. Todestag: er starb am 12. Februar 1804 (war geboren am 22. April 1724) - ein guter Anlaß, einmal in Kürze an seine Friedensphilosophie zu erinnern. In den zweihundert Jahren seit dem Tode Kants hat nicht die Stunde des ewigen Friedens geschlagen. Eher im Gegenteil. Wie es aussieht, will die derzeitige Regierung des mächtigsten, kriegerischsten, höchst gerüsteten Staats der Erde auf einen permanenten, zumindest aber langen Krieg hinaus, einen kostspieligen, viele Opfer fordernden, hat sich mithin auf das Gegenprogramm zu dem kantianischen festgelegt; und was wird die EU tun? ... Dagegen faßte Kant nicht das Ende bloß eines einzigen Krieges oder einer Sequenz mehrerer Kriege ins Auge, sondern die prinzipielle Beseitigung des Phänomens Krieg, die gründliche Austilgung des Kriegs vom Erdball. Eine Aufgabe, die immerhin von genügend Menschen als realistisch genug bewertet wurde, so daß sie den Weg, den er gebahnt hatte, beschritten. Zwanzig Jahre nach seiner Friedensschrift, etwas über ein Jahrzehnt nach seinem Tode, wurde die weltweit erste Friedensvereinigung gegründet, und viele andere seither. Dem 1. Weltkrieg folgte die Errichtung des Völkerbunds. Er konnte zwar den 2. Weltkrieg nicht verhindern, wendete jedoch, wie man in seiner Geschichte nachlesen kann, eine Reihe von Kriegen und kriegerischen Konflikten ab. Die letzten vergangenen sechzig Jahre sahen die Entstehung und Tätigkeit der UN und der OSZE (KSZE). Auch sie beide geeignet, das Leben der Menschen auf der Erde sicherer zu machen und Kriege zu verhindern ... Indes konnten und können sie nicht besser sein als die Nationen und Regierungen, von denen ihre Wirksamkeit (oder Unwirksamkeit) abhängt. Die notorisch ‚schlechte Presse', die sie zur Zeit haben (vor allem die UN) - sie ist ihnen nicht ohne das Zutun interessierter Staaten, Politiker, Medien zuteil geworden. Ihre faktische Schwäche resultiert auch nicht aus den Unterlassungen ihrer Gründungsväter, sowenig wie aus ihren Statuten, Satzungen, Proklamationen, Aktivitäten, sondern daraus, daß die Überzahl der großen und eine kleinere Zahl kleiner Staaten gegenwärtig ihren bellizistischen, imperialistisch-rassistischen, räuberisch-ökonomischen Ambitionen erneut ungehemmten Lauf lassen, ihrer Aggressivität dadurch Ausdruck verleihend, daß sie verstärkt für sich das Recht zum Kriege beanspruchen (ius ad bellum).

Demgegenüber gibt es keine wichtigere Pflicht, als die Friedensbewegungen in unserer Zeit zu stärken, oder wenn man die Einzahl bevorzugt: die globale Friedensbewegung. Zu den Bewegungen der Personen kommen noch diejenigen der Gedanken. Es ist seit der Friedensschrift von 1795 unleugbar eine immense Gedankenarbeit geleistet worden, um im Erdmaßstab des Problems von Krieg und Frieden Herr zu werden. Es spricht für die Qualität des Friedensdenkens von Kant, seine unveraltete Frische, daß seine Argumentation bis heute ihre Aktualität behalten hat. Daher bleibt "Zum ewigen Frieden" eine Grundschrift der Weltfriedensbewegung, und die Friedensbewegten tun gut daran, sie in ihren Köpfen stets mitzuführen.

Täuschte sich der Philosoph, als typisch weltabgewandter ‚Weiser' über der Welt der Fakten schwebend, ein Träumer, wie er im Buche steht? Nein, über die reale Geschichte, die Wirklichkeit der Staaten, das Treiben und die Charakterlosigkeit der ‚Staatsmänner', über die Menschengattung, deren Beschaffenheit, Tun und Lassen täuschte sich der Mann aus Königsberg zu keiner Zeit, auch nicht beim Abfassen seiner Friedensschrift. Am Anfang der Menschheitsgeschichte schon, sah er, galten nicht die sanftesten Methoden - die beginnende Vereinigung der Menschen in Staaten, die Einführung eines allgemeinen Rechts geschah durch Gewalt und ihren Zwang. Und es blieb im "Naturzustande" der Staatenwelt (d. h. vor Initiation eines rechtlich geregelten zwischenstaatlichen Verkehrs) dem einzelnen Staat oft nur der Krieg als "das traurige Notmittel ..., (wo kein Gerichtshof vorhanden ist, der rechtskräftig urteilen könnte) durch Gewalt sein Recht zu behaupten". Ohnehin erstreben Staaten, die zugleich "große Mächte" sind (und er hatte noch nicht die des 21. Jahrhunderts im Auge!), primär nichts anderes als die "Vergrößerung ihrer Macht". Wenn einer von diesen einen "dauernden Friedenszustand" erstrebt, dann nur so, indem er "die ganze Welt beherrscht". (Er dachte wohl an die Pax Romana; Zeitgenossen von heute könnten an die Pax Americana denken.) Die "Staatsoberhäupter" kennzeichnen sich dadurch, daß "sie des Krieges nie satt werden können", und die Repräsentanten "der Mächtigen der Erde", verlangte Kant, sollten endlich einmal gestehen, "daß es nicht das Recht, sondern die Gewalt sei, der sie zum Vorteil sprechen".

Kants Anthropologie mag dem modernen Leser altmodisch erscheinen, geht er doch davon aus, im Menschen gebe es Böses, "das böse Prinzip in ihm". Er sieht "eine gewisse in der menschlichen Natur gewurzelte Bösartigkeit von Menschen, die in einem Staat zusammen leben". Wiederkehr des theologischen Dogmas von der Erbsünde? Eine Frühform der Aggressionstrieb-Hypothese? Kant meint: Mit ihrer Beschaffenheit sei die Menschengattung selber, sind nicht einzig ihre Einrichtungen, ihre Staaten und Staatsmänner "ein großes Hindernis des ewigen Friedens". Es ist vor allem: "Diese Leichtigkeit Krieg zu führen, mit der Neigung der Machthabenden dazu, welche der menschlichen Natur eingeartet zu sein scheint, verbunden". Einen gewissen Hoffnungsschimmer läßt er seiner Leserschaft jedoch: Es sei "eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzutreffen ..., über das böse Prinzip in ihm (was er nicht ableugnen kann) doch einmal Meister zu werden". In bezug auf die Menschengattung ist dies - seine Vision, eine karge allerdings.

Auf der Folie einer so düsteren - oder realistischen? - Staats- wie Menschenlehre treten die Konturen seines Friedensprogramms um so schärfer hervor.

Eine Merkwürdigkeit, die nicht gerade die Lektüre des Texts erleichtert: Seinem Friedensprogramm gab Kant die (literarische) Form - eines Friedensvertrags!

In prägnanten Schritten, von der kleineren Einheit zur größeren aufsteigend, trug er in den sog. "Definitivartikeln" nicht mehr als drei Forderungen vor, nur drei, deren Erfüllung gleichbedeutend sei mit der Herbeiführung des ewigen Friedens. Sie lauten:
  • Jeder Einzelstaat soll eine republikanische Verfassung haben. Dies bedeutete nicht im heutigen Sinne: ‚keine Monarchie sein'. Kant, der Preuße, in einer Monarchie aufgewachsen und in einer Monarchie lebend, hielt es dem Ideal einer Republik für angemessen, daß das Personal der Staatsgewalt ("die Zahl der Herrscher") so klein wie möglich bliebe, was sich am günstigsten in einer Monarchie machen ließe, allerdings niemals in einer Demokratie ("weil alles da Herr sein will"). Er verstand also unter Demokratie die altertümliche, unmittelbare Volksherrschaft ohne Gewaltenteilung und ohne Repräsentation. Was konnte denn aber die von ihm konzipierte Republik sein? Die Republik konnte, nein mußte sein: Rechtsstaat, charakterisiert durch Gewaltenteilung und Repräsentation. (Heutiger Begriff: konstitutionelle Monarchie; etwa wie in Skandinavien.)
  • Die Staatenwelt soll in einem "Friedens- oder Völkerbund" zusammengefaßt werden. Im Unterschied zum Friedensvertrag, der einen singulären Krieg beendet, würde er "alle Kriege auf immer zu endigen" suchen. Hier wäre sein Ideal das der Weltrepublik, in der sich alle Völker Erde versammeln. Da nun die Völker diese gemäß ihrem (obsoleten) Verständnis vom Völkerrecht kaum akzeptieren, tritt nach Kants Lehre eine andere Lösung ein, lediglich die zweitbeste: "nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes". Hieraus ergibt sich eine Stufenfolge von vier Lösungen des Friedensproblems, von der wünschenswerten, weil besten, bis zur schlechtesten, absolut verwerflichen. Oder in aufsteigender Linie: Die absolut verwerfliche wäre die "Universalmonarchie", die weltumspannende Diktatur einer einzigen Großmacht; diese (hegemoniale) Lösung nennt ist ein Despotismus. Minder verwerflich, aber ebenfalls abzulehnen: der Krieg aller gegen alle oder der "Naturzustand", dessen Überwindung der Zweck seiner Schrift ist. Als geeignetes Mittel hierzu, ein realistisches, weil realisierbar, erblickt er den "Völkerbund", das ist: die Beendigung des "Naturzustands" durch Konstituierung einer Weltordnung, die rechtliche Beziehungen zwischen den Staaten vorsieht (niemals mehr Gewaltlösungen, sondern ausschließlich friedliche).
  • Es wird ein "Weltbürgerrecht" geben als Besuchsrecht. Wie es dem Völkerbund vorbehalten ist, negativ zu wirken, nämlich für alle Zukunft den Krieg aus dem Verkehr der Staaten zu entfernen, so das Besuchsrecht: es wirkt restriktiv (einschränkend). Der Fremde darf fremde Kontinente oder Länder darauf fortan lediglich noch besuchen - aber sie nicht länger als Eigentum nehmen (= das Verbot, Kolonien zu erwerben). Es schiebt dem überseeischen Ausgreifen der Europäer und den damit verbundenen fürchterlichen Verbrechen ohne Zahl, dem Genocid ohne Ende, der Eroberung fremder Weltteile einen Riegel vor.
Die Friedensphilosophie Kants besteht also im Kern aus drei Vorschlägen, die zu verwirklichen sind:
  1. Alle Staaten sollen rechtsstaatlich verfaßt sein.
  2. Sie sollen ihre auswärtigen Beziehungen ausschließlich rechtlich regeln (nach Maßstäben des Rechts).
  3. Auf fremden Kontinenten wie überhaupt im Ausland herrscht künftighin allein ein Besuchsrecht.
Mit diesem Programm erwies Kant sich als ein Autor, der die Gesamtdebatte über Krieg und Frieden auf dem Kontinent vertiefte und ausbreitete. Initiiert worden war sie längst, lange schon vor seiner Lebenszeit. Sie reichte zurück bis in die Antike (u. a. bis zu Augustinus, der die Formel "ewiger Friede" bereits benutzte).

Seine drei alles entscheidenden "Definitivartikel" sind Neuformulierungen von Lehren der Aufklärung, insbesondere der französischen Aufklärung.

Zunächst der dritte: In der Verurteilung des überseeischen Ausgreifens der Europäer, ihrer Raub- und Eroberungszüge seit dem späten Mittelalter, waren sich die meisten Aufklärer einig, von französischen über deutsche zu russischen. Die Nachweise, verbunden mit der Anklage der Kolonialverbrechen, stammten überwiegend von französischen Autoren (Raynal, Voltaire u. a.).

Der zweite: Der Hauptvertreter des Gedankens, den ewigen Frieden durch Gründung eines Staatenbunds zu schaffen, war in der Frühaufklärung der französische Autor Saint-Pierre (1658-1743). Über sein Projekt schrieb Friedrich II. von Preußen an Voltaire: "Die Sache wäre sehr brauchbar, wenn nur nicht die Zustimmung der Fürsten von Europa und noch einige andere Kleinigkeiten dazu fehlen würden."

Der erste: Die Fürsten förderten den ewigen Frieden also nicht? Daraus schlossen die Radikalen unter den Aufklärern (Rousseau, Mably u. a.): Dann ändern wir kühn die Gesamtverfassung der Staatenwelt und schaffen im Innern der Länder die Voraussetzungen, damit die Staatswesen lediglich noch den Gesetzen gehorchen (und nicht mehr einem Fürsten), und legen so die Grundlagen für die Verwirklichung des ewigen Friedens. - Diese Grundlage nannten sie: Demokratie.

Auf derselben Linie argumentierte auch Kant, mit Hinzusetzung weiterer Gründe. So z. B. prangerte er den Soldatenhandel an als Herabsetzung der Menschen zur Ware, einen Verstoß gegen die Menschenwürde, die Verletzung des Menschenrechts der Opfer. "Menschenrecht" ist ja kein moderner Begriff, den erst unsere Zeit gebraucht (und den, wie im Krieg gegen Jugoslawien, skrupellose Politiker als Vorwand für einen Angriffskrieg mißbrauchten ...). In seiner Friedensschrift berief er sich ausdrücklich auf die Menschenrechte, und er weiß, daß sie und Rechtsstaatlichkeit einen Zusammenhang bilden: "Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen" sei. Barsch tat er die Theoreme der Verfechter einer absolutistischen, das ist: nicht rechtsstaatlichen Regierungsform ab, "nach welcher der Mensch mit den übrigen lebenden Maschinen in eine Klasse geworfen wird" (mit den Tieren). Unter Berufung auf das Menschenrecht verdammte er zugleich jeglichen Militärdienst: "... daß zum Töten, oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt".

Seit Kants Schrift hörte die Gleichsetzung des Soldaten mit der Mordmaschine in der Tradition des Friedensdenkens niemals mehr auf; Tucholskys bekannter Satz ist ein Moment dieser Tradition. Ein Teilnehmer an der Debatte von ehemals, August von Hennings, begründete die Gleichsetzung mit der Einsicht, daß die Barbarei des Kriegs "sogar das moralische Gefühl verkehrt und die Stimme des Gewissens vernichtet" habe. Es ist die Einsicht, daß die militärische Ausbildung im Kern bedeutet: Aufhebung der Tötungshemmung.

An der Debatte um Kants Schrift beteiligten sich prominente deutsche Autoren mit Beiträgen. Viele Autoren ließen ihre Sympathie oder Ablehnung erkennen. Dabei sind, etwas vereinfachend gesehen, drei Positionen unterscheidbar:
  • Die rechtsstaatlich-liberale: vertreten durch Kant selber und einige seiner Schüler, ferner: Wieland, Klopstock, Herder, Jean Paul; in die Nähe gehörten auch Goethe, Schiller, W. v. Humboldt.
  • Die jakobinisch-demokratische: August von Hennings, Heynig; in die Nähe gehörten: der junge Görres, der junge F. Schlegel, der junge Fichte (die später allesamt diese Position verließen), Hölderlin, Seume,Knigge.
  • Diesen beiden feindlich gegenüber standen die Repräsentanten der konservativ-klerikalen Position (zu der allerdings zwei Autoren von Rang gehörten: Gentz, Novalis). Sie vertraten die Ansicht, daß Krieg ein ewiges Phänomen sei, das man niemals aus der Geschichte entfernen könne und auch nicht solle. Dafür benannten sie, wiederum in grober Unterteilung, etwa folgende Gründe:
    Einen anthropologischen: Friede sie mit der Natur des Menschen unvereinbar. Oder biologistisch variiert: nicht Friede, sondern Krieg sei das Prinzip des Lebens.
    Einen kulturtheoretischen: Nicht Friede, sondern Krieg sei der primäre Kulturfaktor.
    Staatsphilosophisch: Der Staat sei nicht um des Friedens willen da und um die Menschen vor Krieg zu schützen, sondern gegenteilig: er sei um des Krieges willen da, diesen habe er herbeizuführen und zu unterhalten.
In paradoxer Gestalt: Richtig sei es, den ewigen Frieden herzustellen. Doch bloß auf dem Wege des Krieges, allein durch Herausbildung einer Hegemonialmacht, die dann auf der Erde den ewigen Frieden organisieren würde (= Kants Terminus der "Universalmonarchie"); dem entsprach z. B. Hitlers Wahn vom "germanischen Großreich" und von dessen Errichtung und künftiger Wirksamkeit.

Im Zusammenhang der Disputation über Kants Friedensprogramm erschienen noch zahlreiche andere Fragen, darunter (im Anschluß an den 1. Definitivartikel) immer wieder die nach der richtigen Staatsverfassung. Man empfand sich vor die Alternative gestellt: Soll erst der Mensch sich bessern und dann eine verbesserte Staatsverfassung geschaffen werden, oder umgekehrt? Kant entschied mit unübertrefflicher Prägnanz, daß nicht von der Moralität "die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volkes zu erwarten ist". Damit wies er die Einwände derer ab, die behaupteten, eine Republik sei unmöglich, denn "es müsse ein Staat von Engeln sein". Dagegen setzte er: "Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar".

Es spricht für die Qualität des Friedensdenkens von Kant, seine unveraltete Frische, daß seine Argumentation bis heute ihre Aktualität behalten hat? - Es spricht aber auch gegen die Qualität des zur Zeit vorhandenen Weltzustands, daß das so ist - daß Kants Argumentation bis heute ihre Aktualität behalten hat!

Muß man ihm daher ruchlosen Optimismus bescheinigen, wenn er es sich so dachte, daß die Errichtung eines Staates, in dem die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet wäre, einem "Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)" gelingen müßte?

"Denk ich an Deutschland in der Nacht", oder denke ich an dasselbe bei Tage, fällt mir auf, daß hier die Rechtsstaatlichkeit gefährdet ist, inwiefern?

Insofern als die beiden vornehmsten Verfassungsgrundsätze - das Gebot der Sozialstaatlichkeit und der Verbot des Angriffskriegs - von den Fraktionen sämtlicher Bundestagsparteien ebenso wie von sämtlichen Verfassungsorganen als überhaupt nicht existent behandelt werden, so als seien sie alle, die Politiker und die Verfassungsorgane, zusammengenommen jenes "Volk von Teufeln", jedoch - schlimmer als in Kants Vorstellungswelt - ohne die Bedingung zu erfüllen: "wenn sie nur Verstand haben". "Etwas ist faul im Staate ... Deutschland"? Wohl nicht nur etwas.

Zu den Heilmitteln, die parat liegen, könnte auch Kants Friedensprojekt gehören. Es erneut heftig zu diskutieren, würde bedeuten, grundlegende kritische Fragen erneut zu stellen:

Was ist Rechtsstaatlichkeit, wie soll sie bewahrt (oder überhaupt einmal erst hergestellt) werden, inwiefern gehören dazu solche Gebote wie das der Sozialstaatlichkeit, Verbote wie das des Angriffskriegs? Wie steht es um die Demokratie in den großen Industriestaaten, ist sie - wie inzwischen manche Beobachter argwöhnen - zu nichts als einer Fassade verkommen, wohinter sich die Diktatur der Konzerne und der Reichen eingerichtet hat? Wie steht es um die rechtlichen Beziehungen zwischen den Völkern, wie können internationale Organe wie die UN und die OSZE gestärkt oder wieder in Kraft gesetzt werden?

Wie steht es um die Abwehr des Neo-Imperialismus, der, von den reichen Industriestaaten ausgehend, die übrigen Teile der Erde als sein Beutegut betrachtet?

Andere Probleme, die Kant in seiner kompakten, inhaltsreichen Schrift aufwirft, wären: Die Frage der richtigen Staatsverfassung, die Frage der Menschenrechte ... Die Frage, inwiefern Militärdienst prinzipiell unvereinbar ist mit dem Menschenrecht usw.

Und, als übergeordnete Frage: Wie weiter mit dem Bellizismus, wie kann es dem Friedensdenken und -willen gelingen, die kriegerische Furie von der Erde zu verbannen? Der ewige Friede, wenn keine "leere Idee", sondern "eine Aufgabe" - wie wird er Wirklichkeit, wann, durch wen?

* Wolfgang Beutin, Dozent an der Universität Bremen.

Buchhinweis:
Wolfgang Beutin: Zur Geschichte des Friedensgedankens seit Immanuel Kant, von Bockel Verlag: Hamburg 1996 (ISBN 3-928770-62-4)


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