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"Marx hatte keine Blaupause für den Sozialismus"

Der ägyptische Ökonom Samir Amin über die Krisen des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Alternative

Der am 4. September 1931 in Kairo geborene Samir Amin gehört zu den bedeutendsten und einflussreichsten Intellektuellen der sogenannten Dritten Welt. Der emeritierte Wirtschaftsprofessor lehrte an der Universität Dakar in Senegal und in Paris (Paris VIII-Vincennes). Amin hat rund 50 Bücher über entwicklungspolitische und entwicklungstheoretische Themen publiziert. Als sein bedeutendstes Werk gilt »L'accumulation à l'échelle mondiale« (Die Akkumulation auf globaler Ebene). Seit 1980 leitet er das Dritte Welt Forum in Senegals Hauptstadt Dakar. Am 3. Dezember wurde er in Berlin mit dem Ibn Rushd Preis 2009 für die Freiheit des Denkens ausgezeichnet. Über die Krise des Kapitalismus und Alternativen sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling.

ND: Die Welt befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise. Handelt es sich um eine »normale« zyklische Krise des kapitalistischen Systems oder um mehr als das?

Amin: Es handelt sich fraglos um weit mehr als um eine zyklische Krise oder eine Finanzkrise. Es handelt sich um eine Etappe in einer langen strukturellen Krise des Kapitalismus. Diese Krise nahm ihren Ausgang bereits 1971 mit der Aufgabe der Golddeckung des US-Dollars. Wir sind schätzungsweise mitten drin in dieser Etappe.

Was sind die Charakteristika dieser Krise?

Wir kennen die Merkmale dieser Krise schon aus Zeiten weit vor der Finanzkrise – Energie-, Ernährungs- und Umweltkrise sowie den Klimawandel. Wir haben eine Liste aller dieser Aspekte und Krisenphänomene, die alle miteinander zusammenhängen. Summa summarum handelt es sich um eine Krise des Kapitalismus als Gesamtsystem. Es handelt sich um eine Krise des Spätkapitalismus und des Imperialismus, was nicht voneinander getrennt werden kann.

Spätkapitalismus bedeutet, dass der Kapitalismus einen Punkt erreicht hat, wo die Fortsetzung der Kapitalakkumulation sich immer gewalttätiger und destruktiver vollzieht. Die Bilanz zwischen dem Guten und dem Schlechten, die zu Beginn des Kapitalismus zugunsten des Guten ausfiel, hat sich inzwischen hin zu einem klaren Übergewicht des Schlechten entwickelt.

Der gegenwärtige Kapitalismus ist zuerst und vor allem ein Kapitalismus der Oligopole (wenige, den Markt kontrollierende Unternehmen, d.Red.), die die Produktion des Wirtschaftssystems beherrschen. Die Oligopole sind insofern »finanzialisiert«, als nur sie allein Zugang zu den Kapitalmärkten haben. Die zweite Welle oligopolitischer Konzentration, die in den 70er Jahren begann, bildete sich im Rahmen jenes Systems, das ich als den »kollektiven Imperialismus« der Triade (USA, Europa, Japan) bezeichnet habe. Eine Handvoll, zwischen 500 bis 5000 multinationale Unternehmen, kontrolliert inzwischen das gesamte Wirtschaftsgeschehen und auch das politische Geschehen. Sowohl die parteipolitische Rechte als leider auch die Linke handeln als Diener dieses Systems. Das ist qualitativ neu. Monopole und Oligopole gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert, eine solche Machtfülle wie jetzt hatten sie jedoch noch nie.

Durch ihren exklusiven Zugang zum Kapitalmarkt haben die Oligopole den Finanzmarkt in der Hierarchie der Märkte nach ganz oben gebracht, heute dominiert er den Handel, den Arbeitsmarkt und alle anderen Märkte.

Wie hat sich die Krise seit den siebziger Jahren entwickelt?

Nach der Aufgabe des Golddevisenstandards beim Dollar brachen sowohl Investitions- als auch Wachstumsraten massiv ein – in der Triade haben sie sich fast halbiert im Vergleich zu den Raten von 1945 bis 1975. Seitdem sind sie nie mehr auf ihr damaliges Niveau gestiegen. Man kann also mit Fug und Recht von einer kontinuierlichen Krise der Akkumulation sprechen. Das Kapital reagierte darauf auf zweierlei Weise, nämlich mit Konzentration und Globalisierung, ähnlich wie schon in der sogenannten belle époque (Schönen Epoche) der Jahre 1890 bis 1914. Es schuf Strukturen, die die zweite »belle époque«, die der Finanzglobalisierung, von 1990 bis 2008 prägten und es oligopolistischen Gruppen erlaubten, ihre Monopolrente abzuschöpfen. Die Vertiefung der Globalisierung ging vor allem mit einer verschärften Liberalisierung aller Märkte, vom Kapitalmarkt über die Waren- bis hin zu den Arbeitsmärkten, einher.

Dass die zweite »belle époque« in eine tiefe Krise mündete, war wie bei der ersten nur eine Frage der Zeit.

Ja. Ich gehörte zu den wenigen, auch innerhalb der Linken und selbst unter den Marxisten, die gesagt und geschrieben haben, die »belle époque« ist nicht dauerhaft und wird in eine Finanzkrise münden. Denn die Finanzialisierung, die Dominanz der Finanzmärkte und der in diesen Märkten entstehenden Erwirtschaftungsmaßstäbe gegenüber der Wirtschaft insgesamt ist die Achillesferse des Systems. Und so ist es gekommen.

Wenn wir Ihrer Schätzung nach mitten in der Krisenetappe sind, was lässt sich über den weiteren Verlauf prognostizieren?

Dafür ist ein Rückblick auf die vergangene lange Krise erhellend. Sie begann 1873, kurz nach dem Aufstand der Pariser Kommune und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches. Auch damals reagierte das Kapital auf die fallenden Profitraten mit Konzentration und weltweiter Expansion. Es entstand die erste Welle der Mono- und Oligopole. Die Expansion erfolgte über die Kolonialisierung Afrikas, Südostasiens und die Unterordnung von China und Lateinamerika über den Hebel der Auslandsverschuldung. Die Finanzialisierung nahm damals mit der Gründung der Wall Street und der Londoner City ihren Anfang. Das war die erste Welle der Finanzialisierung. Es war der Ausgangspunkt für die erste »belle époque«, die bekanntlich im ersten Weltkrieg endete und in der russischen Revolution. Darauf folgten die Krisen der 20er Jahre, die Nazis, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 andauerten. Das waren keine kleinen historischen Ereignisse wie ein Regierungswechsel, das waren tiefe geschichtliche Einschnitte. Gelöst wurde die Krise aus Sicht des Kapitals unter anderem mit einer neuen Weltwirtschaftsordnung, dem Bretton-Woods-System von Internationalem Währungsfonds und Weltbank, dem allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT, dem Dollar als Leitwährung und den USA als Weltkonjunkturlokomotive. Verglichen mit damals sind wir heute quasi im Jahre 1940.

Das heißt mitten im Krieg ...

Ja. Die globalen Kriege sind im Gange: in Irak, in Afghanistan, ich würde Palästina hinzufügen, die Bedrohung von Iran, die Bedrohung von China und Russland durch US-Militärbasen in der Region und so weiter. Deshalb steuern wir auf alles andere als auf ein Ende der Krise zu, wie es von vielen Politikern allenthalben behauptet wird. Wir sind mitten in einer Periode des Chaos, deren Ende und deren Ergebnisse nicht absehbar sind. Alles ist möglich – eine Entwicklung zum Guten ebenso wie eine zum Schlechten.

In den letzten Jahren haben sich Südländer zu bedeutenden Wirtschaftsmächten entwickelt, zum Beispiel die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China. Ist das ein Anzeichen für eine neue multilaterale Weltordnung?

Ja, aber wir müssen auf diese Entwicklung einen kritischen Blick werfen. Die erste Krise infolge des Niedergangs der »belle époque« hat auch zu einem Erwachen des Südens geführt, die sogenannte Bandung-Periode nach 1955, in der sich afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten für ein Ende des Kolonialismus, den Kampf gegen die Rassendiskriminierung und die kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit stark machten. Für diese Periode war die chinesische Revolution 1949 ein Vorläufer, die vietnamesische und kubanische Revolution waren Höhepunkte und auch die nationalpopulistischen Bewegungen von Nasser in Ägypten und Boumedienne in Algerien und andere fallen in diese Phase.

Das war die erste Welle des Erwachens mit all ihren Begrenzungen und Widersprüchen. Nun sind wir mitten in der zweiten Welle. Es ist die Rede von sogenannten Emerging Nations (Auftauchenden Nationen), die in der Mainstream-Ökonomie als Emerging Markets bezeichnet werden, Märkte für eine weitere Expansion des globalen Kapitalismus – selbstverständlich einschließlich Allianzen mit lokalen Kapitalisten. Dabei handelt es sich faktisch um ein Wiederauftauchen, denn China, Indien und Ägypten gehören zu den ältesten Nationen überhaupt, von neuen Nationen kann keine Rede sein.

Haben die Emerging Nations überhaupt eine entwicklungsorientierte Führung?

Das wird sich noch zeigen müssen. Die Herausforderung ist folgende: Ich habe kein Problem damit festzustellen, dass der größte wachsende Widerspruch derzeit zwischen den herrschenden Klassen in den Staaten des Südens und den globalen Imperien besteht. Wenn man auf die Bandung-Periode, die sich unter anderen Bedingungen vollzogen hat, zurückblickt, stellt sich in diesem Kontext die Frage: Wer wird von diesem Kampf profitieren und wer wird ihn im Süden anführen? Ist es die Bourgeoisie, die das kapitalistische Modell, Verhalten und Denken übernommen hat, oder ist es ein anderer historischer Block, ein nationaler, demokratischer und populärer Block auf dem langen Weg zum Sozialismus, der die Führung im Süden übernimmt?

Die revolutionären Projekte mit Verwurzelung in der Bevölkerung in den 50er Jahren wurden sehr schnell von den herrschenden Klassen gekapert, von Nehru in Indien, von Nasser in Ägypten und anderen. Die herrschenden Klassen ohne historische Bindung zur Arbeiterklasse haben es damals in kurzer Zeit geschafft, den revolutionären Projekten den Dampf zu nehmen und die Bedingungen für eine Gegenoffensive des globalen Kapitalismus zu schaffen. Wir müssen unter neuen Bedingungen die alten Fragen stellen. Wer führt die Projekte im Süden und in welchem Interesse?

In Südamerika sprechen einige Staatschefs wie Hugo Chávez in Venezuela, Rafael Correa in Ecuador und Evo Morales in Bolivien vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den sie aus der Praxis entwickeln wollen und für den sie, wie sie offen eingestehen, kein fertiges Konzept haben. Wie schätzen Sie diesen Block ein?

Vorab: Ich habe große Sympathien für alle diese Projekte in Lateinamerika von Chávez, von Morales, von Correa

Auch für Lula in Brasilien ?

Ja. Lulas Sieg bei den Wahlen 2002 war nach Chávez der erste große Sieg, der eine Linkswende in Lateinamerika bestärkt hat. Ich zähle auch die Kirchners in Argentinien, Lugo in Paraguay und Uruguay unter Vázquez und jetzt Mujica zu den Projekten, denen ich große Sympathie entgegenbringe. Aber: Auch wenn es dort überall Wandel gibt, handelt es sich nicht um Revolutionen. Was sich dort abspielt, bezeichne ich als revolutionäre Fortschritte. Es sind Schritte, die die Machtverhältnisse zum Nutzen der einfachen Bevölkerung verschieben. Sie sind nun mit wachsenden Problemen konfrontiert. Wird die politische Organisation der einfachen Bevölkerung sich in einer Form kristallisieren, die den revolutionären Prozess verstärkt und Schritte in die Zukunft vorbereitet, oder nicht?

Wir sollten diesen Prozess mit konstruktiver Kritik begleiten, das bedeutet, bescheiden auf die Schwächen hinweisen und nicht blind applaudieren, aber trotzdem mit aller Sympathie.

Was halten Sie vom Begriff Sozialismus des 21. Jahrhunderts?

Ich mag diesen Begriff nicht besonders. Im Moment sind sie nicht so weit von einem Sozialismus des 20. Jahrhunderts entfernt, zum Beispiel steht die Nationalisierung ganz oben. Die Verstaatlichungen sind zweifelsohne notwendig, sie definieren aber nicht Sozialismus. Sozialismus ist die Entwicklung zur höchsten Stufe der Zivilisation. Karl Marx war sehr bescheiden, er hat niemals gesagt, hier ist die Blaupause für Sozialismus. Sozialismus wird allmählich durch die sozialen Kämpfe der Menschen aufgebaut. Das dauert viele Jahrzehnte und mehr als das. Verstaatlichung ist nur der erste Schritt, der die Bedingungen für die Entwicklung des Sozialismus schafft.

Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts steckt somit noch in den Kinderschuhen?

Gewissermaßen. Auch die Entwicklung des Kapitalismus hat sich über Jahrhunderte in vielen Wellen vollzogen, angefangen von der Sung-Dynastie in China (960–1279). Erst die vierte Welle hat ihn nach Europa gebracht und in den letzten Jahrhunderten zu dem gemacht, was wir jetzt unter Kapitalismus verstehen. Ich denke, mit dem Sozialismus wird es genauso sein. Das, was wir im 20. Jahrhundert gesehen haben, war die erste sozialistische Welle, das, was wir jetzt in Lateinamerika sehen, ist der Beginn der zweiten. Wir müssen darauf bauen, dass die zweite Welle nicht die Fehler der ersten wiederholt: den Mangel an Demokratie, ein Übermaß an Bürokratie, das die Entscheidungsfreiheit einschränkt etc.

Das Erwachen des Südens muss jetzt in ein zweites, höheres Stadium eintreten. Eine der Voraussetzungen, dass der lange Weg zum Weltsozialismus mit Erfolg gekrönt wird, ist die kreative Erneuerung des marxistischen Denkens. Um es abschließend mit Antonio Gramsci zu sagen: »Ich bin Pessimist aufgrund der Einsicht, aber Optimist auf Grund des Willens.«

* Aus: Neues Deutschland, 16. Dezember 2009


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