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Militarisierung als Staatsräson

Bundespräsident: Armee muß an Schulen und Unis mehr Präsenz zeigen

Von Frank Brendle *

Bundespräsident Christian Wulff (CDU) sorgt sich darum, mit dem Ende der Wehrpflicht könne die Bundeswehr in der deutschen Gesellschaft an Boden verlieren. In seiner Ansprache beim Rekrutengelöbnis vor dem Berliner Reichstag forderte Wulff am Mittwoch abend, die Bundeswehr müsse verstärkt in die Öffentlichkeit vordringen.

Den 470 Soldaten, bei denen es sich erstmals ausschließlich um freiwillig Wehrdienstleistende handelte, sagte der Präsident, der »Geist der Bundeswehr« werde sich mit der Aussetzung der Wehrpflicht nicht verändern. »Was sich aber auch nicht ändern darf, ist der Geist, in dem wir als Bürger der Bundeswehr gegenübertreten. Sie gehört in unsere Mitte, in unsere Schulen und Hochschulen, auf öffentliche Plätze«, so Wulffs Ruf nach einer Militarisierung der Gesellschaft. Ansonsten drohe die Freiwilligkeit des Dienens mit einer Gleichgültigkeit in der Gesellschaft einherzugehen. »Hier mache ich mir durchaus Sorgen«, bekannte der Präsident, dessen zurückgetretener Vorgänger Horst Köhler (CDU) vor rund einem Jahr noch eingestanden hatte, die Auslandseinsätze der Bundeswehr dienten vorrangig den Interessen der Wirtschaftskonzerne.

Die deutsche Bevölkerung müsse sich, mahnte ihr Oberhaupt, um die Soldaten »mehr kümmern«, insbesondere um die Verwundeten, und »Anteil nehmen an den Leistungen und Zweifeln der Soldaten.

Die Abordnung vor dem Reichstag stehe, so Wulff, stellvertretend für die 3400 Freiwilligen, die am 4. Juli ihren Dienst angetreten hatten. Diese Zahlen sind allerdings nicht mehr aktuell: Wie sowohl der Hessische als auch der Norddeutsche Rundfunk berichteten, haben zwischen 15 und 20 Prozent dieser Rekruten schon wieder ihren Dienst quittiert. Das ist ihnen in den ersten sechs Monaten jederzeit möglich. Die genannten Gründe lassen erkennen, daß sich diese Frauen und Männer vor Dienstantritt kaum mit dem Militär beschäftigt haben: Man müsse zu früh aufstehen, der »Kasernenhofton« gefalle nicht, und die Grundausbildung sei zu strapaziös. Einige haben inzwischen auch zivile Ausbildungs- oder Arbeitsplätze ergattert.

Auch mit dem von Wulff geforderten Vormarsch in die Öffentlichkeit war es am Mittwoch nicht weit her: Wie gewohnt war der Reichstag weiträumig abgeriegelt, Zutritt erhielten nur geladene Gäste. Darunter waren auch 40 Bundestagsabgeordnete – von insgesamt 620.

Die antimilitaristische Szene legte ihre »GelöbNIX«-Aktion diesmal neu auf und veranstaltete eine Videokundgebung in Kreuzberg. Polizei und Gerichte untersagten es ohnehin, den Protest in wahrnehmbarer Nähe zum Reichstag zu äußern. Man wolle die Zeremonie der Bundeswehr nicht durch eine »Simulation von Pluralismus« aufwerten, erklärte die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG-VK). Zudem wolle man der Gefahr einer »Selbstritualisierung des Protests« entgehen. Auf der Kundgebung wurde der Bundeswehr vorgeworfen, bei ihren Auslandseinsätzen auch Kriegsverbrechen zu begehen. In satirischen Videos wurde das Militär verspottet. An der Veranstaltung nahmen mehrere hundert Menschen teil, darunter auch etliche Passanten.

* Aus: junge Welt, 22. Juli 2011

Im Wortlaut

Bundespräsident Christian Wulff: Festrede beim feierlichen Gelöbnis der Bundeswehr vor dem Reichstagsgebäude am 20. Juli 2011

Ich empfange andere Staatsoberhäupter regelmäßig mit militärischen Ehren. Jedes Mal, wenn die Soldatinnen und Soldaten des Wachbataillons und des Stabsmusikkorps – so wie Sie aus Heer, Luftwaffe und Marine – dem Gast Ihre Reverenz erweisen, fühle ich, wie stolz wir sein können: auf Sie, Soldatinnen und Soldaten. Auf diese Bundeswehr. Und auf unser Land, dem Sie heute Ihr Gelöbnis ablegen, und das Sie gegen seine äußeren Feinde zu verteidigen geloben.

In meinem ersten Amtsjahr habe ich bei einer ganzen Reihe von Bundeswehrbesuchen Soldatinnen und Soldaten gesprochen. Ich bin stets tief beeindruckt von ihrem Ernst und ihrem Selbstbewusstsein, von ihrem Pflichtgefühl und ihrer Verbundenheit mit unserem Land und seinen Werten, auch von ihrer Gelassenheit in Kenntnis aller Gefährdungen. Sie sind ohne Illusionen über die Gefahren ihres Dienstes, dabei voller Mut und Zuversicht.

All das gibt uns die Gewissheit: Wir können uns auf Sie verlassen. Auch nach der Aussetzung der Wehrpflicht bleibt unsere Bundeswehr die Bundeswehr, die wir schätzen gelernt haben und die zu einem hohen Ansehen Deutschlands in der Welt beiträgt. Ich danke den anwesenden Botschaftern und Verteidigungsattachés aus über 50 Nationen, dass Sie heute gekommen sind und damit Ihre Wertschätzung ausdrücken.

Der Geist der Bundeswehr wird sich mit Aussetzung der Wehrpflicht nicht verändern. Sie als freiwillig Wehrdienstleistende haben sich bewusst mit unserer Werteordnung auseinandergesetzt. Was sich aber auch nicht ändern darf, ist der Geist, in dem wir als Bürger der Bundeswehr gegenübertreten. Sie gehört in unsere Mitte, in unsere Schulen und Hochschulen, auf öffentliche Plätze. Ihre Freiwilligkeit darf nicht zu Gleichgültigkeit in der Gesellschaft führen. Hier mache ich mir durchaus Sorgen.

„Unsere Soldatinnen und Soldaten“ – das sagt sich leicht. Aber das heißt auch: Wir müssen Anteil nehmen an Ihren Leistungen, an Ihren Ängsten, an Ihren Zweifeln. Öffentliche Debatten führen über Einsätze der Bundeswehr. Und uns mehr kümmern – gerade um die, die in ihrem Einsatz innerlich oder äußerlich verwundet wurden. Um die Angehörigen, die diesen besonderen Dienst an unserem Land auf ihre Weise mittragen. Auch zu meinem Sommerfest habe ich ganz bewusst im Einsatz verwundete Soldaten mit ihren Angehörigen eingeladen. Ich wollte ihnen danken, und ich wollte ihnen zeigen: Sie gehören hierher! Die Gespräche haben mich beeindruckt.

Sie, liebe Rekrutinnen und Rekruten, wollen unserem Land treu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer verteidigen.

Dieses Versprechen geben Sie gleich aus freiem Willen ab. Sie tun dies am 20. Juli: Am 20. Juli 1944 haben Angehörige der Wehrmacht aus innerer Überzeugung und aus Sehnsucht nach einem besseren Deutschland versucht, einen menschenverachtenden Diktator zu töten und der Herrschaft des Rechts wieder Geltung zu verschaffen.

Die Bundeswehr steht in dieser Tradition und ist ihrer würdig geblieben bis heute – eine Tradition, die nicht nur die widerständigen Soldaten und Zivilisten im Umfeld des 20. Juli umfasst, sondern alle Männer und Frauen, die den Mut hatten, der grenzenlosen Willkür der Nationalsozialisten entgegenzutreten. Sie haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem wir heute in Frieden und Freiheit leben.

Wenn wir uns die letzten 100 Jahre Geschichte unseres Kontinents Europa vor Augen führen, dann sehen wir: Die erste Hälfte war geprägt von zwei Weltkriegen und Unfreiheit, von unvorstellbarem Leid und großer, vor allem auch deutscher, Schuld. In der zweiten Hälfte aber haben wir die Lehren daraus gezogen. Wir haben den Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs erlebt. Wir erkennen zu selten: Welch ein Glück, heute in Deutschland mitten im freien Europa zu leben! Welch große Leistung, dass Frieden und Freiheit in Europa errungen und so lange erhalten wurden! Wie dankbar dürfen wir jenen sein, die Deutschland nach dem Krieg in den Kreis der zivilisierten Völker zurückgeführt haben, und wie dankbar jenen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die vor 22 Jahren auch für den Osten unseres Vaterlandes die Freiheit und die Einheit unserer Nation erkämpften. Wir genießen all die Freiheiten, für die andere in der Welt bis heute, und buchstäblich heute – wenn wir an Nordafrika, den Mittleren Osten oder Syrien denken –, ihr Leben einsetzen.

Unser wiedervereinigtes Deutschland ist ein großartiges Land. Es ist Ihren Einsatz wert, liebe Rekrutinnen und Rekruten. Und es bedarf Ihres Einsatzes.

Gefahren und Risiken für Deutschland und seine Verbündeten sind nicht verschwunden: Internationaler Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Zerfall von Staaten bedrohen auch unsere Sicherheit. Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit.

„Die Anforderungen der explosiven Welt von heute sind andere, aber sie sind nicht geringer.“ Das hat Freya von Moltke aus dem Kreisauer Kreis des Widerstandes vor einigen Jahren gesagt. Sie erinnerte daran, „wie schnell die Ergebnisse eines langen und zivilisierten Zusammenlebens verspielt werden können“. Und weiter: „Was die Deutschen verloren hatten, war das Gefühl dafür, dass sie für ihre eigene Gesellschaft verantwortlich sind.“

Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen, angefangen in den „kleinen Gemeinschaften“, wie Helmuth von Moltke es nannte. Sich um das Allgemeine verdient zu machen und sich nicht nur um sich selbst zu kümmern. Sie, Rekrutinnen und Rekruten, verteidigen, wofür die Menschen des Widerstandes gekämpft, gelitten und viele mit ihrem Leben bezahlt haben: Mitmenschlichkeit und Anstand, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, eine offene und menschenwürdige Gesellschaft.

Auch in dieser Welt neuartiger Gefahren bleibt es aber dabei: Ihr Einsatz als Soldatinnen und Soldaten ist immer ultima ratio.

Unsere Soldatinnen und Soldaten kennen aus eigener, manchmal auch bitterer, Erfahrung die Grenzen militärischer Einsätze. Daher ist es so wichtig, dass die Politik auf Ihren Rat besonders hört, bevor ein Einsatzbefehl ergeht. Allein militärisch ist nicht zu gewinnen – weder der Frieden, noch kann man damit stabile Demokratien schaffen. Im Zusammenwirken von Politik, zivilem Engagement, Entwicklungszusammenarbeit, militärischem Schutz und dem Dialog der Kulturen liegt der Erfolg.

Wir wollen offen sein für Fremde und Fremdes und anderen mit Respekt begegnen. Krisen und Konflikte sollen gar nicht erst entstehen oder frühzeitig eingedämmt werden. Wir wollen mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen und Wandel hin zu mehr Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bestärken. Vor allem muss Europa mit einer Stimme sprechen, damit es als Friedensmacht in der Welt Einfluss nehmen kann.

Ich betrachte es als eine besondere Errungenschaft in unserem Land und als ein hohes Gut, dass nicht die Regierung, sondern das Parlament – das Herz unserer Demokratie – vor dessen Sitz wir hier stehen, über Einsätze entscheidet. Ich freue mich über die Anwesenheit von über 40 Parlamentariern hier heute Abend. Andere mögen der Auffassung sein, dass der Parlamentsvorbehalt unsere außenpolitische Handlungsfähigkeit einschränkt. Für mich ist er der eindrucksvolle Beweis dafür, dass unsere Bundeswehr im Auftrag des deutschen Volkes handelt. Es ist daher auch Aufgabe des Parlaments und der von ihm getragenen Regierung, die Notwendigkeit dieser Einsätze immer und immer wieder glaubhaft zu vermitteln.

Unsere Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger wie Sie: Die sich für die Freiheit einsetzen und bereit sind, sie zu verteidigen – ob in Zivil oder in Uniform.

Ihre Entscheidung, der Bundesrepublik freiwillig zu dienen, verlangt unsere ganz besondere Achtung und Dankbarkeit. Freiwilliger Wehrdienst, Bundesfreiwilligendienst, die vielfältigen Freiwilligenprogramme auf Länderebene: Deutschland ist auf diese Kultur der Freiwilligkeit stärker denn je angewiesen. Sie dient dem Zusammenhalt in Deutschland.

Sie stehen stellvertretend für die 3.400 freiwillig Wehrdienstleistenden, die unserem Land seit dem 4. Juli dienen. Ihre Angehörigen und Freunde können stolz auf Sie sein.

In den nächsten Monaten wird viel von Ihnen verlangt werden. Sie werden Neues lernen, Sie werden sich in eine soldatische Gemeinschaft einleben und in eine militärische Hierarchie einfügen. Sie werden Kameradschaft üben und in mancher Hinsicht als Persönlichkeit über sich hinauswachsen. Diese Zeit wird prägend für Sie sein.

Sie werden Ihren Ausbildern anvertraut. Diesen ist die Verantwortung, die sie damit übernehmen, bewusst. Ihr Ziel ist es, Sie fair und umsichtig auszubilden, in Ihnen Begeisterung zu wecken für Ihre Aufgabe, Ihnen Vorbild zu sein.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie aus Ihrem freiwilligen Wehrdienst Erfüllung und persönliche Zufriedenheit gewinnen. Im Namen unseres, Ihres Landes danke ich Ihnen für Ihre Bereitschaft, Deutschland zu dienen.

Unser Land ist Ihren Einsatz wert!

Quelle: Website des Bundespräsidenten; www.bundespraesident.de




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