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Kinder im Visier

Bundeswehr wirbt an Schulen und missachtet dabei die Kinderrechte

Die Bundeswehr benötigt jährlich 23.000 neue Rekruten und hat die Werbemaßnahmen deswegen stark ausgeweitet. Besonders an Schulen versucht sie, ihr Image aufzubessern und Nachwuchs zu werben. Im Jahr 2009 erreichten alleine die Jugendoffiziere und Wehrdienstberater der Bundeswehr 700.000 Schüler, darunter auch Kinder von gerade einmal elf Jahren. Viele Mädchen und Jungen interessieren sich anschließend für eine militärische Laufbahn, die sie in gefährliche Auslandseinsätze führen kann. Die Werbung für Militäreinsätze widerspricht den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, die Bundeswehr stellt ihre eigenen Interessen über die Kinderrechte. Doch dagegen regt sich bei Schülern, Eltern und Lehrern immer mehr Widerstand.

An sogenannten »Soldatentagen« turnen Zehnjährige auf Panzern und zielen durchs Visier des Maschinengewehrs. Schulklassen dürfen bei Kasernenbesuchen in den Schießsimulator, der als »tausendmal besser als jede Play-Station« angepriesen wird. Bundeswehrsoldaten machen Reklame auf Jobmessen, im Arbeitsamt und bei Jugendsportevents. Regelmäßig wird im Internet, in Schülerzeitungen und in Jugendzeitschriften wie »Spießer« und »Bravo« mit Anzeigen geworben, ebenso im eigenen Jugend-Webportal treff.bundeswehr. Rund 100 hauptamtliche und 300 nebenamtliche »Jugendoffiziere« treten in ganz Deutschland systematisch bei Lehrerfortbildungen und in Schulklassen auf und erreichen dabei jährlich rund 400.000 Schüler und Lehrer.

Gute Militäreinsätze?

Bei ihren Vorträgen legen die Jugendoffiziere nach eigenen Angaben den Schwerpunkt auf die Auslandseinsätze und die Gefahren des internationalen Terrorismus. Ziel ist es, bei der jüngeren Generation und den Lehrern ein gutes Bild der Truppe zu vermitteln und eine höhere Akzeptanz der Auslandseinsätze zu erreichen. Die Bundeswehr wertet regelmäßig aus, wie viele Schüler sich nach Schulbesuchen und anderen Werbeaktivitäten für eine Laufbahn in der Bundeswehr interessieren. Interessenten werden an die Wehrdienstberater vermittelt. Die sind direkt für die Rekrutierung zuständig und machten nach Angaben der Bundesregierung 2009 bundesweit mehr als 10.000 Schulbesuche mit 300.000 Schülern. Zusammen mit den Jugendoffizieren erreichten sie 700.000 Jugendliche. Viele Eltern haben die Befürchtung, dass ihr Kind sich durch die systematische Werbung überzeugen lässt, zur Bundeswehr zu gehen und später in lebensgefährliche Auslandseinsätze abkommandiert wird. »Bundeswehrwerbung bei Minderjährigen verstößt gegen die Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland und 192 weitere Länder unterschrieben haben«, so Danuta Sacher, Geschäftsführerin von terre des hommes. Denn die darin verbrieften Kinderrechte gelten für alle unter 18-Jährigen, darunter das Recht auf Leben und freie Entwicklung (Art. 6), auf körperliche Unversehrtheit und Schutz vor Gewalt (Art. 19) und auf eine Erziehung im Geiste von Frieden und Verständigung zwischen den Völkern (Art. 29). »Die Werbung Minderjähriger für lebensgefährliche militärische Einsätze ist mit diesen Rechten nicht vereinbar«, so Sacher. Daher lehnt terre des hommes Militärwerbung an Schulen generell ab.

Minderjährige Rekruten

Trotz der Gefahren lassen sich viele Jugendliche von guten Gehältern, festem Job, kostenlosem Studium und anderen Vergünstigungen der Bundeswehr locken – auch aus Angst vor Arbeitslosigkeit und fehlenden Alternativen. Rund 1.000 17-jährige Jungen und Mädchen lassen sich jedes Jahr freiwillig von der Bundeswehr verpflichten, mustern lassen kann man sich schon mit 16. Dies ist formal erlaubt, da es im Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention von 2002 eine Lücke gibt. Zwar wird dort die freiwillige und zwangsweise Rekrutierung von unter 18-Jährigen für Armeen und bewaffnete Gruppen ausdrücklich verboten. Doch eine Ausnahmeregelung erlaubt staatlichen Streitkräften die Rekrutierung von Freiwilligen über 16 Jahren. Dies hatten Deutschland, Großbritannien, die USA und andere Länder auf Drängen ihrer Militärs gegen den Widerstand von Kinder- und Menschenrechtsgruppen durchgesetzt. In Gesprächen mit terre des hommes und anderen Organisationen zeigte sich die Bundesregierung bisher nicht bereit, das Rekrutierungsalter für die Bundeswehr auf 18 Jahre anzuheben – obwohl auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der die Einhaltung der Kinderrechtskonvention und der Zusatzprotokolle kontrolliert, der Bundesregierung zuletzt 2008 empfahl, »das Mindestalter für die Rekrutierung auf 18 Jahre zu erhöhen, um den Schutz des Kindes durch insgesamt höhere gesetzliche Standards zu fördern«. Außer Deutschland rekrutieren nur 25 Länder weltweit unter 18-Jährige in ihre staatlichen Armeen.

Der Widerstand wächst

Immer mehr Eltern, Schüler und Lehrer schließen sich zu lokalen und überregionalen Bündnissen gegen die Bundeswehr-Werbeoffensive an Schulen zusammen, darunter auch terre des hommes-Mitglieder. terre des hommes und andere Organisationen wie die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) fordern eine »Schule ohne Militär!«. Ein wichtiges Ziel dabei ist es, Schulen durch Initiativen von Schülern, Eltern und Lehrern dazu zu bewegen, auf die Einladung von Bundeswehrsoldaten zu verzichten, denn darüber kann jede Schule autonom entscheiden. Ein zweites wichtiges Ziel ist die Auflösung der bestehenden Kooperationsvereinbarungen zwischen Bundeswehr und Kultusministerien in sechs Bundesländern. Neben der Nachwuchswerbung an Schulen kritisiert terre des hommes auch die einseitige Darstellung der Themen Internationale Beziehungen, Sicherheit und Friedenserhaltung durch Soldaten im Unterricht. Beispielsweise spielten die Jugendoffiziere 2009 mit über 16.000 Schülern und Lehrern das Bundeswehr-Strategiespiel »Politik & Internationale Sicherheit«, in dem militärische Gewalt bis hin zu Atombomben eingesetzt werden kann. terre des hommes setzt sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche stattdessen auch gewaltfreie Wege der Konfliktlösung kennenlernen. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind außerdem ein stark kontroverses Thema in unserer Gesellschaft. Kinder und Jugendliche haben das Recht zur Teilnahme an dieser Debatte und auf Zugang zu den unterschiedlichen Positionen und Hintergründen. Deshalb gehören auch Entwicklungs-, Menschenrechts- und Friedensorganisationen an die Schulen. terre des hommes Deutschland ist seit über 40 Jahren in Konfliktgebieten weltweit aktiv, unter anderem in Kolumbien, Burma oder den Philippinen. Einer der Schwerpunkte ist die Friedensarbeit für gewaltfreie Konfliktlösungen. Die Unterstützung von waffenlosen Friedensgemeinden zum Schutz von Bauern und Familien in Kolumbien oder die erfolgreichen Verhandlungen mit bewaffneten Gruppen in Burma über das Ende des Missbrauchs von Kindern als Soldaten sind nur zwei Beispiele dafür. So wird eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit gefördert, die eine Grundvoraussetzung für den Schutz und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist. Diese Prinzipien gilt es auch in deutschen Schulen bekannt zu machen. »Es hieße, das Bildungsziel Frieden und Völkerverständigung der Kinderrechtskonvention ad absurdum zu führen, wenn die Bundeswehr dieses Feld allein besetzen würde«, sagte terre des hommes-Geschäftsführerin Danuta Sacher auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum Antikriegstag in Mannheim. Die Bundeswehr müsse deshalb das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre hochsetzen und auf Werbemaßnahmen jeder Art bei Minderjährigen verzichten – auch wenn sie als Sport, Abenteuer, politische Bildung oder Berufsberatung getarnt sind.

Zahlen und Fakten

  • 700.000 Jugendliche erreichte die Bundeswehr 2009 alleine durch Werbeveranstaltungen von Jugendoffizieren und Wehrdienstberatern an Schulen, viele weitere bei Kasernenbesuchen, in Arbeitsämtern, bei Sportveranstaltungen, Messen und öffentlichen Festen.
  • 23.000 neue Rekruten brauchte die Bundeswehr 2009, sie konnte aber nur 21.000 rekrutieren, davon waren 7.800 Wehrdienstleistende. Der Druck zur Nachwuchswerbung würde folglich weiter stark steigen, wenn die Wehrpflicht wie geplant wegfallen sollte.
  • Rund 1.000 freiwillige 17-Jährige werden jedes Jahr von der Bundeswehr rekrutiert.
  • 91 tote und 157 verwundete Bundeswehrsoldaten gab es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr seit 1998, darunter viele unter 25 Jahren. Viele mehr sind psychisch traumatisiert: Allein 2009 wurde bei 418 Rückkehrern die sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
  • Sechs Landeskultusministerien (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland) haben seit 2008 Kooperationsabkommen mit der Bundeswehr geschlossen, die den Zugang von Jugendoffizieren in die Klassenzimmer erleichtern. Die Entscheidung über die Einladung von Soldaten liegt aber »uneingeschränkt bei der einzelnen Schule« (Kultusministerium Baden-Württemberg).
  • Auch bei der Lehrerausbildung steigt die Einflussnahme der Bundeswehr: 1.100 Referendare haben 2009 an Lehrveranstaltungen von Bundeswehrsoldaten teilgenommen, 3.300 Lehrer haben Fortbildungen der Bundeswehr besucht.
  • Die Haushaltsmittel für die Nachwuchswerbung der Bundeswehr sollen von neun Millionen Euro (1998) auf 27 Millionen Euro (2010) steigen.


Quelle: Website von terre des hommes, www.tdh.de


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