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"Ohne mich"

Bundeswehr: Jahresbericht der Jugendoffiziere feiert erfolgreiche Schülerindoktrination. Lust am Dienen bleibt dennoch aus

Von Frank Brendle *

Die Jugendoffiziere der Bundeswehr freuen sich über ungebrochene Nachfrage nach Auftritten in Schulen und werben verstärkt in Form mehrtägiger Seminare. Nach ihrem Jahresbericht für 2010, der vergangene Woche vom militärkritischen Blog »Bundeswehr Monitoring« veröffentlicht wurde, haben sie in diesem Zeitraum insgesamt 176862 Menschen erreicht, darunter rund 151000 Schüler und fast 15000 Lehrer. Die Zahlen sind nur wenig niedriger als 2009, was am bundesweiten Rückgang der Schülerzahlen liegen dürfte.

Ihre Auftritte im Unterricht verschaffen der Bundeswehr einen klaren Vorteil bei der Meinungsbildung unter Jugendlichen. Jugendoffiziere seien häufig »die erste und scheinbar einzige Quelle für Informationen« über die Bundeswehr, heißt es in dem Bericht. Das wird ausgenutzt: So konnten die Offiziere nach dem Luftangriff bei Kunduz, dem über 100 Menschen zum Opfer gefallen waren, gegen »negative Einschätzungen« des Afghanistan-Einsatzes vorgehen. Diese seien »nach Vorträgen und Berichten von Soldaten, die im Einsatz waren, oft überdacht und relativiert« worden. Generell bewirke der Einsatz von Jugendoffizieren, daß Jugendliche – die kaum über Vorkenntnisse verfügen – »schnell Einsicht in die Notwendigkeit von Streitkräften und deren Aufgaben« gewönnen. Offenbar mit Blick auf die Berichterstattung über Gewaltrituale bei der Bundeswehr heißt es, persönliche Schilderungen des Alltags beim Militär würden helfen, die »negativen Bilder« zu relativieren, die von den Medien verbreitet würden.

Rund 102000 Schüler erreichte die Bundeswehr im Rahmen von 90minütigen Vorträgen, etwa im Sozialkundeunterricht. Die Teilnehmerzahlen bei mittlerweile verstärkt angebotenen mehrtägigen Seminaren stiegen von rund 25000 auf 33000. Besonders beliebt ist weiterhin die Simulation »POL§IS«, die das Abenteuer eines Beherrsche-die-Welt-Spiels mit erwünschten sicherheitspolitischen Lektionen verbindet. Außerdem wurden 7100 »Multiplikatoren« geschult, ebenfalls knapp ein Drittel mehr als im Vorjahr, die meisten von ihnen Lehrer. Erläuternd heißt es, Seminare wirkten »nachhaltiger« als einzelne Vorträge. Die Landesschulbehörden werden gelobt, weil sie dem Militär »grundsätzlich aufgeschlossen und positiv« gegenüberstünden.

Proteste und »mediale Gegenkampagnen« gegen den Wehrunterricht gebe es nur vereinzelt. Dennoch dürfte dieser Protest dazu beitragen, daß die Jugendoffiziere wiederholt ihr Interesse daran beteuern, »gemeinsam mit militärkritischen Organisationen« in einen »offenen Diskurs« zu treten. Unterricht müsse kontrovers erfolgen, damit er zu belastbaren Einsichten führe, heißt es dazu. Allerdings versuchten die meisten Lehrer gar nicht erst, Vertreter der Friedensbewegung hinzuzuziehen. Die meisten Friedensgruppen lehnten dies ohnehin ab, da sie finanziell und personell nicht mit der Bundeswehr gleichziehen können und deren Werben an Schulen nicht noch Legitimität verschaffen wollen.

Widersprüchlich äußert sich der Bericht über das Interesse von Jugendlichen am »Arbeitgeber« Bundeswehr: Einerseits zeigten gerade Absolventen von Haupt- und Realschulen ein großes Interesse daran, andererseits sei oftmals die Einstellung: »Bundeswehr ja – aber ohne mich« feststellbar. Das, bilanzieren die Offiziere, liege auch an den Berichten über hohe »Gefallenen«-Zahlen: Die Einstellung zum Soldatenberuf habe sich insoweit gewandelt, als er nicht mehr als gutbezahlter Beamtenjob wahrgenommen werde. »Der Soldatenberuf wird mit Auslandseinsätzen und Gefahr für Leib und Leben assoziiert.« Dem kommt die Propaganda nicht bei.

* Aus: junge Welt, 8. August 2011

Dokumentiert: Die zusammengefassten Ergebnisse des Jahresberichts 2010 der Jugendoffiziere


Zusammenfassung und Ausblick

Der Jugendoffizier wird als festes Bindeglied zwischen der Gesellschaft und der Bundeswehr wahrgenommen. Für Multiplikatoren und Jugendliche ist er aufgrund der wahrgenommenen Reduzierung der Bundeswehr in der Fläche oft die einzige und unmittelbar direkt ansprechbare Kontaktperson der Streitkräfte. Gerade in der Funktion als zielgruppengerechter und kompetenter Experte in Sachen Sicherheitspolitik wird seine sachliche und kommunikative Kompetenz geschätzt.

Die Zusammenarbeit der Jugendoffiziere mit Lehrerinnen und Lehrer, Schulen und Schulbehörden ist von Vertrauen geprägt und gestaltet sich in der Praxis sehr positiv. Gerade Lehrerinnen und Lehrer, zu denen ein persönlicher Kontakt aufgebaut wurde, laden diese immer wieder ein und geben ihre Erfahrungen und das vielfältige Angebot der Jugendoffiziere auch gerne an das Kollegium weiter.

2010 war bundesweit eine ungebrochene Nachfrage an Einsätzen und Veranstaltungen der Jugendoffiziere feststellbar. Diese überstieg oftmals sogar die terminlichen Möglichkeiten für die Durchführung. Schulvorträge in der gymnasialen Sekundarstufe II und in Realschulen bildeten wie in den Vorjahren den Schwerpunkt der Jugendoffiziereinsätze. Aufgrund der Nachhaltigkeit und der intensiven Wissensvermittlung in zielgruppenorientierter Form haben die Jugendoffiziere deutlich mehr sicherheitspolitische Seminare und Planspiele POL&IS durchgeführt. Diese binden die Jugendoffiziere zwar zeitintensiv ein, es wird jedoch durch die Lehrkräfte ein nachhaltiger Wissenszuwachs bei den teilnehmenden Jugendlichen festgestellt. Die Nachfrage nach diesem Planspiel ist unverändert hoch und die Jahreskapazitäten überschreitend. Die beispielhafte E-Mail einer Teilnehmerin zeigt die Attraktivität von POL&IS für Jugendliche deutlich auf: „Also wenn es von der Schule her nicht möglich ist, noch einmal an diesem POL&IS-Projekt teilzunehmen, könnte dann eventuell auch in den Ferien eine Simulation stattfinden?“

Die Grundstimmung der erreichten Öffentlichkeit zu den Streitkräften ist durchweg positiv, die Bundeswehr wird als legitimes Instrument der Politik zur Krisenbewältigung und Konfliktverhütung anerkannt, akzeptiert und genießt großen Respekt. Ein Einsatz im Innern wird abgelehnt.

Das allgemeinpolitische Basiswissen Jugendlicher hat sich im Vergleich zu den Vorjahren nicht verändert, Lehrkräfte bestätigen das Desinteresse an staatsbürgerlichen Themen und Fragestellungen. Dies liegt wohl vor allem daran, dass fundamentale Kenntnisse über Zusammenhänge und Abhängigkeiten in der Politik fehlen. Jugendliche sind erst bereit, sich intensiver und sensibler mit Fragen der inneren und äußeren Sicherheitsvorsorge zu beschäftigten, wenn ihnen die Bezugspunkte von Sicherheit zur eigenen Lebenswirklichkeit verdeutlicht werden. Die Diskussionsbereitschaft in den Schulklassen hat bis auf die gymnasiale Oberstufe erneut nachgelassen. Der Staat wird als Vollkaskogesellschaft zur Befriedigung eigener Bedürfnisse in Wohlfahrt und garantierter Sicherheit durch Andere angesehen und wie selbstverständlich erwartet.

Seit Ankündigung der Aussetzung der Wehrpflicht wird dieses Thema nicht mehr nachgefragt. Die Aussetzung selbst wird von den Jugendlichen begrüßt. Sie wird primär als logische Konsequenz des Wandels hin zu einer professionelleren und effizienteren „Armee in Alltagseinsatz“ gesehen. Staatlich verordnete Verpflichtungen oder Dienste seitens der männlichen und weiblichen Jugendlichen sind nicht erwünscht. Das langjährige Motto: „Bundeswehr ja – aber ohne mich!“ gilt weiter und spiegelt die inhaltliche Entfernung und das Desinteresse vieler Jugendlichen gegenüber Staat und Gesellschaft wider, Verpflichtungen einzugehen. Es ist zu erwarten, dass der künftig fehlende persönliche Bezug der Jugendlichen zu den Streitkräften als Instrument zur Sicherheitsvorsorge und Friedenserhaltung zu wachsendem Desinteresse und weniger Kenntnissen über die Bundeswehr bei den Jugendlichen führen wird.

Für Haupt-, Real-, Werkreal- und Mittelschüler bleibt die Bundeswehr als Arbeitgeber grundsätzlich von hohem Interesse. Die Jugendoffiziere beobachten, dass durch die Aussetzung der Wehrpflicht, die spürbar abnehmende Präsenz der Streitkräfte in der Fläche sowie die mediale Berichterstattung über die bevorstehende Umstrukturierung der Streitkräfte die Chance, einen sicheren Arbeits- oder Ausbildungsplatz mit anerkanntem Abschluss zu erhalten, geringer eingeschätzt wird.

Besuche bei der Truppe oder Tage der offenen Tür sind daher ausgezeichnete Möglichkeiten der bürgernahen Information über die Bundeswehr vor Ort. Dabei angebotene Gesprächsmöglichkeiten mit den Soldatinnen und Soldaten können dazu beitragen, das geschilderte Defizit abzubauen. Dazu werden zielgruppenorientierte Projekte wie ein „Tag der Schulen“ initiiert. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr - insbesondere der Afghanistaneinsatz ISAF - stellen einen wesentlichen Themenschwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit Sicherheitspolitik durch die Jugendlichen dar. Die durch abnehmende Flächenpräsenz und Einsatzbelastung einhergehenden Einschränkungen für diese Diskussionen und Gespräche müssen unter Berücksichtigung der Belange der Truppe möglichst klein gehalten werden.

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden grundsätzlich akzeptiert. Eine große Ausnahme bildet der Einsatz in Afghanistan. Jugendliche begründen dies mit der negativen medialen Berichterstattung in Fernsehen und Internet. Gefallene Soldaten, der in 2009 erfolgte Luftangriff bei Kunduz mit seinen Nachwirkungen, die Diskussion um die Begriffe „Krieg oder Einsatz“ sowie Filmprojekte über Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) wurden als Hauptthemen zum Afghanistaneinsatz wahrgenommen. Die erzielten Erfolge im Rahmen von Projekten der Vernetzten Sicherheit sind medial bei Weitem nicht so präsent wie Berichte über Gefechte und politische Grundsatzdiskussionen.

In der Kommunikation zu sicherheitspolitischen Themen kommt den Onlinemedien die wichtigste Bedeutung zu. Jugendliche konsumieren per Mobiltelefon und Smartphone stetig Inhalte des Internets. Web 2.0 wird real gelebt, aber nur attraktive und zielgruppengerechte Informationen werden aufgenommen und weitergegeben. Facebook, YouTube und möglichst interaktive Onlineseiten stehen dabei im Fokus. Eine erste Beteiligung auch der Bundeswehr in diesen alltäglichen Kommunikationsformen wird begrüßt, in weiten Teilen aber noch vermisst. Deutlich werden zielgruppengerechte Informationen eingefordert.

In ihren Einsätzen sind die Jugendoffiziere im Jahr 2010 mit weit über 175.000 Bürgern aktiv in Kontakt getreten. Als kompetente und vertrauenswürdige Referenten für Sicherheitspolitik haben sie ihren Zuhörern die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands und der internationalen Bündnissysteme zielgruppenorientiert nähergebracht und dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit über die Bundeswehr und deren Aufträge und Aufgaben qualifiziert informiert werden konnte. Authentizität, offen-verständliche Kommunikation und sachliche Information ergeben ein Angebot für Multiplikatoren und Jugendliche, das als einzigartig in Sachen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bezeichnet werden kann. Ein Schüler in einer E-Mail an einen Jugendoffizier fasst dies abschließend so zusammen: „Ihr Vortrag am Freitag war echt interessant und ich wollte mich dafür noch mal bedanken. Ich fand es gut, zum Thema Afghanistan etwas zu hören, das nicht nur von Zeitungsberichten kommt. Unsere Lehrer erzählen zwar viel, aber keiner von denen war in Afghanistan und kann wirklich von der ’Realität’ dort erzählen.“

Quelle: Jahresbericht der Jugendoffiziere der Bundeswehr 2010, Berlin, Juni 2011, S. 21-23; www.bundeswehr-monitoring.de; oder hier! (pdf-Datei)




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