Ein Stück Identität
Notizen zu einem Kulturkampf
Ist es angebracht, das "Kopftuch" moslemischer Frauen als "Flagge des islamischen Kreuzzuges" zu bezeichnen? Dieser Frage geht im folgenden Beitrag Mohssen Massarrat, Professor für Politik und Wirtschaft an der Universität Osnabrueck, nach. Seine Antwort: eindeutig Nein. Wir dokumentieren im Folgenden den Artikel, der in der kritischen Wochenzeitung "Freitag" erschien, leicht gekürzt.
Von Mohssen Massarrat
(...)
Das Thema eignet sich hervorragend, die Ängste der Menschen gegen
fremde Kulturen zu mobilisieren und bei Bedarf auch zu
Wahlkampfzwecken zu instrumentalisieren. Die Stichworte für den neuen
Kulturkampf liefert die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, die im Namen von Frauenemanzipation, Freiheit und Gleichheit die Kampagne anführt. In
zahlreichen Zeitungstexten und Talkshows bezeichnet sie das Kopftuch als
"Flagge des islamistischen Kreuzzuges" und als Symbol der islamischen
Fundamentalisten, die "die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren"
wollten. (...) Die Behauptung, das Kopftuch sei ein Symbol des islamischen
Fundamentalismus, ist genauso ein Unfug wie die Behauptung,
Freikörperkultur sei der Höhepunkt geistlicher Freiheit. Wer Hunderte von
Millionen moslemischer Frauen weltweit und Hunderttausende von
Mosleminnen in Deutschland im Handumdrehen als Fundamentalistinnen
stigmatisiert, strotzt nicht nur vor Ahnungslosigkeit, der handelt auch
fahrlässig. Besonders gilt dies gegenüber den moslemischen Frauen, die in
einer fremden Kultur trotz großer Anpassungslasten keine Mühe scheuen,
Anschluss an das öffentliche Leben in ihrer neuen Heimat zu finden. Nun
aber - gewissermaßen mit dem fundamentalistischen Stigma auf der Stirn -
werden sie es mit Kopftuch fortan erheblich schwerer haben, sich in die
Arbeitswelt hinaus zu wagen. Sie müssen damit rechnen, als
Fundamentalistinnen gebrandmarkt und diskriminiert zu werden. Welcher
Behördenchef, welcher Filialleiter einer Bank, welcher Personalchef eines
Industrieunternehmens wäre auch darauf erpicht, sich durch die
Beschäftigung von "Fundamentalistinnen" Ärger einzuhandeln. Die
Tragweite des Streits geht weit über die Frage der staatlichen Neutralität
gegenüber Religion in der Schule hinaus. Das Anliegen von Fereshta Ludin,
die das Bundesverfassungsgericht angerufen hatte, weil sie weder auf ihren
Beruf als Lehrerin noch das Tragen des Kopftuchs im Unterricht verzichten
wollte, ist das Anliegen vieler gläubiger moslemischer Frauen in
Deutschland. Es geht darum, allen - nicht nur den Lehrerinnen - entweder
die Chance zu eröffnen, trotz ihres für die Mehrheitskultur fremden
Erscheinungsbildes im öffentlichen Leben akzeptiert zu werden oder auf
ihren bisherigen Lebenskreis beschränkt zu bleiben. Ein Kopftuchverbot
wäre daher auch ein Rückschlag für die Integration der Moslems in
Deutschland. Seine Botschaft ist im Klartext: entweder ihr assimiliert euch
oder ihr haut ab.
Kehrseite der Moderne
Warum legen Millionen moslemischer Frauen in der ganzen Welt so
großen Wert auf ihren Schleier? (...) Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich einfach: die überwältigende Mehrheit von ihnen tun es aus Gewohnheit, weil sie sich
den traditionellen Konventionen ihrer Kulturen verpflichtet fühlen. Sie tragen
das Kopftuch oder den Schleier, weil sie sich so subjektiv besser
geschützt fühlen und dieses Stück Stoff - ob andere dies gut oder schlecht
finden - ein Stück ihrer persönlichen Identität geworden ist. Meine
Schwester etwa, die mich oft in Deutschland besucht, sagt mir, ohne
Kopftuch fühle sie sich einfach unangezogen. Frauen aus meiner
Verwandtschaft in Iran lehnen - wie 80 Prozent der Iraner - das
Mullah-Regime ab. Ihnen würde jedoch nie in den Sinn kommen, deshalb
ihren Schleier abzulegen. Sie haben den Schleier auch schon vor diesem
Regime getragen. Der Schleier hat eine unvergleichbar längere Geschichte
als der islamische Fundamentalismus, den wir kennen. Dieser
Fundamentalismus ist nicht zuletzt auch eine Reaktion auf unsägliche
Versuche, die westliche Moderne in den traditionsorientierten islamischen
Gesellschaften von oben verordnen oder gar gewaltsam einführen zu
wollen. Reza Schah, der Gründer der Pahlawie-Dynastie in Iran, glaubte
nach der Machtübernahme 1925, durch ein gewaltsames Schleierverbot
und die erzwungene Einführung westlicher Kleidung für beide Geschlechter
den Weg Irans in die Moderne ebenen zu können. Das Ergebnis ist
bekannt: ein halbes Jahrhundert nach Reza Schahs gewaltsamer
Modernisierung erlebte Iran 1979 eine islamische Revolution und die
Gründung des ersten islamischen Gottesstaates. Dieser
Fundamentalismus war die Kehrseite einer falsch verstandenen Moderne -
er ist insofern ein Bestandteil von uns, mehr als uns lieb ist. In Iran führten
die Mullahs den Schleierzwang wieder ein und verletzten dadurch die
Würde und Identität derjenigen Frauen, die keinen Schleier tragen wollten,
sie eröffneten jedoch zugleich der großen Mehrheit von traditionalistisch
erzogenen Mädchen und Frauen den Zugang zu höheren Schulen und zum
öffentlichen Leben, von dem sie bis dato gänzlich ausgeschlossen waren.
Inzwischen liegt der Anteil der Frauen an iranischen Hochschulen bei 60
Prozent. In der Türkei beispielsweise, wo dagegen nach wie vor ein
Schleierverbot in öffentlichen Einrichtungen besteht, bleibt der Zugang zu
höherer Bildung und zum öffentlichen Leben der übergroßen Mehrheit jener
türkischer Frauen versperrt, die dem traditionellen Segment der
Gesellschaft angehören. Daraus folgt nicht, der Türkei die "iranische
Lösung" zu empfehlen. Vielmehr ist es höchste Zeit, dass sowohl die
Türkei das Kopftuchverbot und der Iran den Schleierzwang aufheben und
dem Unrecht der Diskriminierung türkischer Frauen, die das Kopftuch
tragen wollen, und iranischer Frauen, die den Schleier nur gegen ihren
Willen tragen, ein Ende setzen. Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen
ist in beiden Ländern ein Gradmesser der Demokratisierung, die allein eine
Grundlage für Meinungsvielfalt wie die friedliche Koexistenz verschiedener
Lebensweisen ist. Mit einem Kopftuchverbot würde sich Deutschland ein
Stück weit den Gepflogenheiten der Türkei und Irans annähern.
Es geht um Menschenwürde
Die Lebensweise der Menschen ist Bestandteil ihrer Identität und ihrer
Würde, die in Deutschland durch das Grundgesetz geschützt ist. "Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Grundgesetz, Art. 1, Abs. 1). Ein
Kopftuch-Verbot für Fereshta Ludin verletzt ihre Menschenwürde und
konnte auch aus diesem Grunde durch das Bundesverfassungsgericht
nicht verhängt werden. Dass die Karlsruher Richter diese Dimension des
Falles übersahen, ist ihnen vorzuwerfen. Auch Ludin war offenkundig falsch
beraten, sich allein auf den Artikel 4 GG zu berufen, der die
Religionsfreiheit garantiert. Der Schutz der Menschenwürde wiegt in
diesem Streit unvergleichlich schwerer als der Schutz der Religionsfreiheit.
Und genau um die - wohlgemerkt subjektiv empfundene - Würde geht es
bei mehreren hundert Millionen moslemischer Frauen, die es vorziehen,
ihren Körper mehr oder weniger stark zu verhüllen. Was veranlasst Frau
Schwarzer dazu, durch das Kopftuch von Frau Ludin so leichtfertig auf
deren fundamentalistische Gesinnung zu schließen? Liegt diesem
intellektuellen Kurzschluss nicht eine ebenso weitverbreitete wie
oberflächliche Annahme zugrunde, dass der Schleier und das Kopftuch für
die Frauendiskriminierung und -unterdrückung in der islamischen
Gesellschaft stehen? Die auf den ersten Blick einleuchtende Behauptung -
Schleier gleich Frauenunterdrückung - wie sie durch den Mainstream
westlicher Frauenbewegungen unermüdlich aufgestellt wird, ist irreführend
und lenkt davon ab, dass in den islamischen Gesellschaften wie in der
westlichen Welt das Patriarchat die eigentliche Ursache der
Frauendiskriminierung ist. Historisch gesehen hat es das Patriarchat in
den islamischen Gesellschaften verstanden, den schon vor dem Islam
existierenden männlichen Besitzanspruch auf das weibliche Geschlecht
religiös zu untermauern und die wenigen vagen Hinweise im Koran zur
Verhüllung des weiblichen Körpers vor männlichen Blicken für eine
systematische Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben zu
instrumentalisieren. Die afghanische Burka und die saudische
Totalverhüllung sind in der Tat manifeste Beispiele für die religiös
legitimierte Verewigung einer archaischen Vorherrschaft des männlichen
Geschlechts. In anderen islamischen Gesellschaften haben moslemische
Frauen es trotz des Schleiers geschafft, in allen Bereichen Positionen und
Einfluss zu erlangen. In dieser Hinsicht stehen sie den Frauen in den
westlichen Gesellschaften in nichts nach und sind dort genau so wie hier
bestrebt, ihre vollständige Emanzipation gegen die männliche Vorherrschaft
durchzusetzen. Statt des Islamrates hätten eigentlich
Frauenorganisationen Fereshta Ludin gegen das drohende Kopftuch- und
Berufsverbot unterstützen müssen. Aber deutsche Frauenrechtlerinnen
sind offenbar noch weit davon entfernt, Frauenrechte als Kultur
übergreifende universale Rechte zu begreifen.
Aus: Freitag 04, 16. Januar 2004
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