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Heute tagt der NSU-Untersuchungsausschuss - den Parlamentariern wird die Arbeit nicht gerade leicht gemacht

Von René Heilig *

In besonderen Situationen kann man Übermenschliches leisten. Doch dass ein Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses 2947 Aktenseiten in nur 40 Stunden durcharbeitet, um vorbereitet zur heutigen Zeugenbefragung zu erscheinen, ist dennoch ausgeschlossen. Das aber mutet man den Volksvertretern zu.

Dienstagabend gegen 18 Uhr - beim Bundestagsuntersuchungsausschuss zur Aufklärung der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) treffen die vor Monaten angeforderten Akten aus Hessen ein: 2947 Seiten. Den Abgeordneten und ihren Helfern bleiben - vorausgesetzt, sie verzichten auf Schlaf - 40 Stunden zum Lesen, um rechtliche Grundlagen und Zusammenhänge mit anderen Fällen zu prüfen sowie eigene Recherchen anzustellen. Zusätzlich sind weitere acht Aktenordner des hessischen Verfassungsschutzes avisiert, die - weil stinkgeheim - nicht elektronisch verfügbar sind.

Nur wenn die Abgeordneten das alles gründlich analysiert haben, können sie heute um 10 Uhr guten Gewissens zur Befragung des Chefs der Kasseler Mordkommission und von Hessens oberstem Verfassungsschützer erscheinen.

Der rotzige Umgang Hessens mit den Parlamentariern ist keine Ausnahme. Angesichts vergleichbarer Erfahrungen mit Zulieferungen aus Hamburg und Bayern haben die Abgeordneten in den vergangenen Wochen mehrfach eine korrekte Arbeitsweise angemahnt. Vergebens. Und wie es ausschaut, ist der Eifer der Behörden in Nordrhein-Westfalen, die sich am Dienstag der Befragung stellen müssen, nicht anders bemessen.

Zu alledem scheint die Konsensfähigkeit der Ausschuss-Abgeordneten geringer geworden zu sein. Zum ersten Mal seit Beginn der Untersuchungsarbeit gab es bei der Abstimmung zur Ladung von Zeugen Mehrheitsentscheidungen. Da der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) schon unmittelbar nach dem NSU-Bombenanschlag in der Kölner Kolbstraße 2001 verkündete, dass es keinen rechtsextremistischen Hintergrund gebe, wollten die Grünen ihn hören, wenn der Fall am Dienstag aufgerufen wird. Union und - halbherzig - die FDP votierten dagegen. Da auch Schilys Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU, jetzt Bundesfinanzminister) geladen werden muss, wollen Union wie SPD im Ausschuss einen »Ministertag« ansetzen. Haust du meinen, dann kann deiner was erleben?

Streit gibt es auch um die Ladung des V-Mann-Führers Andreas Temme vom hessischen Verfassungsschutz. Temme gilt als Waffennarr und trägt nicht von ungefähr den Spitznamen »kleiner Adolf«. Er saß am 6. April 2006 im Kasseler Internetcafé, als dessen Besitzer Halit Yozgat vermutlich von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos umgebracht wurde. Temme verschwieg seine Anwesenheit so lange es ging.

Auch diverse Telefonate mit seinem V-Mann Benjamin G. geben Anlass zur Nachfrage. Auffällig ist, dass die beiden zumindest an vier NSU-Mordtagen telefonischen Kontakt hatten. Über G.'s Bruder Christian W., der nicht nur in Kassel Feuerwehr-Wehrführer ist, sondern auch ein hohes Tier der nordhessischen Blood&Honour-Gruppe (B&H) war (oder ist?), gibt es Spuren ins Sächsische. Die dortigen B&H-Gruppierungen waren Hilfsmannschaften der Zwickauer NSU-Mörderzelle.

Nachdem die Anwesenheit von Temme am Tatort ermittelt war, wollte die Polizei ihn und seinen V-Mann vernehmen. Doch der Verfassungsschutz mauerte. Eine solche Vernehmung hätte den V-Mann enttarnen können. Was ist schon das Stoppen einer bundesweiten Mordserie gegenüber dem Verlust eines Nazi-Zuträgers ...

Doch diese ganzen Zusammenhänge sollte man eigentlich gar nicht wissen können. Denn der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU), heute Landeschef, hat offensichtlich Polizeirecherchen im Geheimdienstmilieu verhindert. Erst nach dem Tod der beiden Mordverdächtigen Böhnhardt und Mundlos im November 2011 hat man sich die Telefonverbindungsdaten des Beamten Temme angeschaut.

Union und SPD wollen Temme - zumindest jetzt - nicht vorladen. Womöglich weil der Generalbundesanwalt die Ermittlungen gegen den Verfassungsschützer wieder aufgenommen hat? Dass Hessen kein Interesse am Aufrollen des »Falles Temme« hat, wird durch die Aktenzulieferung des Verfassungsschutzes deutlich. Zur Erinnerung: Acht Ordner sollen vorgelegt werden - allein 35 gibt es, die sich mit Temme befassen.

»Stargast« im Ausschuss ist heute jedoch BKA-Chef Jörg Zierke. Der war wochenlang weitgehend abgetaucht. Seit einigen Tagen macht er jedoch wieder unter dem Stichwort NSU-Verfolgung Reklame für das Lieblingsthema der Union: Vorratsdatenspeicherung. Das ist unlauter, denn das BKA hätte schon damals alle notwendigen gesetzlichen Möglichkeiten gehabt, um die Fahndung in der zehnfachen Mordserie effektiv zu gestalten.

Zierke wird - ohne den beliebten Hinweis auf die unfähige Arbeitsebene - erklären müssen, warum das BKA bei den Ermittlungen 2004 lieber am Katzentisch blieb, sie 2006 übernehmen wollte und 2007 das wieder ablehnte. Und er wird sagen müssen, warum man die Ermittlungsblicke höchst selten und zumeist nur unwillig nach Rechtsaußen gewandt hat.

2000 bis 2003 entdeckte man bundesweit 87 Waffen- und Sprengstofflager bei Rechtsextremisten. Die seien eben »waffenaffin«, man konnte nicht damit rechnen, dass die Neonazis das Mordwerkzeug auch benutzen, heißt es aus verantwortlichen Sicherheitskreisen. Seltsam, denn von 1990 bis 2000 - also bereits bevor die grausame NSU-Mordserie anhob - hatten Rechtsextremisten 104 Menschen umgebracht. Diese Statistik ist dem BKA nicht unbekannt gewesen.

Ab in den Urlaub

Dem Untersuchungsausschuss rennt die Zeit weg. Nach grober Schätzung braucht man für das bisher bekannte Programm mindestens noch 25 Sitzungen. Eine Illusion! Denn im März 2013 ist vermutlich Schluss mit Ermitteln. Dann hebt der Bundestagswahlkampf an. Doch nun drängen erst einmal die Parlamentsferien. Daher werden im Eiltempo Zeugen befragt. Am heutigen Donnerstag geht es um BKA-Ermittlungen sowie um den »Mordfall Yozgat« in Kassel. Neben BKA-Chef Zierke sind der Leiter Mordkommission »Café«, Gerald Hoffmann, sowie Lutz Irrgang, Chef des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz geladen.

Am kommenden Dienstag stehen Befragungen zum Bombenanschlag in Köln und zum »Mordfall Kubasik« an. Am Donnerstag in einer Woche sind Verfassungsschützer aus dem NRW-Landesamt und der ehemalige Abteilungsleiter Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) geladen. Ihm folgen BfV-Chef Heinz Fromm sowie Oberst Hut, Abteilungsleiter Extremismus-/Terrorismusabwehr im Militärischen Abschirmdienst (MAD).

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Juni 2012


"Rennsteig"-Akten vernichtet

Von Renè Heilig *

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat am 11. November vergangenen Jahres sämtliche Akten zur Operation „Rennsteig" vernichtet. Die Reißwolf-Aktion, die nicht ohne Wissen der Behördenleitung geschehen ist, erfolgte nur sieben Tage nachdem die Terrorzelle des sogenannten Nationalsozialistischen Widerstandes (NSU) aufgedeckt worden war. Am 4. November 2011 waren die zwei männlichen Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Banküberfall in Eisenach tot in ihrem Wohnwagen aufgefunden worden. Kurz danach steckte Beate Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand, um Beweise zu vernichten und tauchte ab.

Unter dem Codenamen „Rennsteig" betrieb das Bundesamt gemeinsam mit dem Erfurter Landesamt für Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) zwischen 1997 und 2003 eine Operation gegen rechtsextremistische Zusammenschlüsse in Thüringen und Franken. Wichtigstes Zielobjekt war der "Thüringer Heimatschutz" (THS). Zu der rechtsextremen Gruppe mit rund 140 Mitgliedern gehörten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Im THS sollen die drei deutschen Geheimdienste insgesamt zwölf V-Leute geführt haben.

Die Vernichtung der Dokumente geschah im Zuge der NSU-„Aufklärung". Bei der Sichtung aller BfV-Dokumente, die dabei nützlich sein könnten, habe man entdeckt, das die Frist zur Aufbewahrung der „Rennsteig"-Akten bereits abgelaufen war. Daher wurde die Vernichtung angeordnet.

Am Donnerstag trifft sich der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zu einer weiteren Sitzung. Nach der Obleute-Besprechung zur Vorbereitung der Runde am Mittwoch war bekannt geworden, dass man den Chef des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, der als Zeuge geladen war, nicht hören werde. Grund: Die Akten waren erst Stunden zuvor und dazu auch nur unvollständig geliefert worden. Zur nächsten Ausschusssitzung in der kommenden Woche ist BfV-Chef Heinz Fromm als Zeuge geladen.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Juni 2012


Mein Name ist Ulbig, wir wussten von nichts

NSU: Sachsen schiebt die Verantwortung für Versäumnisse an Thüringen ab

Von Michael Bartsch, Dresden ***


Mit dem Bericht zum rechten »Nationalsozialistischen Untergrund« stellt sich das sächsische Innenministerium selbst einen Persilschein aus.

Der Abschlussbericht des sächsischen Innenministeriums zur rechten NSU-Terrorzelle ließe sich knapp mit Wilhelm Busch zusammenfassen: »So kommt es denn zum Schluss heraus, dass wir ein ganz famoses Haus!« Bei Innenminister Markus Ulbig klang es in der Journalistenrunde am Mittwoch so: »Es wurde von keiner Stelle festgestellt, dass wir Maßnahmen unterlassen haben, die zum Erfolg hätten führen können.« Der Schwarze Peter landet einmal mehr in Thüringen, das nach dem Untertauchen des Trios Anfang 1998 ja tatsächlich als zuständige Zielfahndungsbehörde federführend war.

Selbstkritik in einem Satz

An Mitverantwortung oder gar Aufklärung hatte da Sachsen nur ein »kleinstes Stück« beizutragen, so Ulbig. Schon quantitativ nehmen sich die 23 sächsischen Berichtsseiten gegen die 266 der Thüringer »Schäfer-Kommission« dürftig aus. Auf den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Berichten aber wies der Grünen-Landtagsabgeordnete Miro Jennerjahn hin: Hier stellt sich die Staatsregierung selbst einen Persilschein aus, während dem ehemaligen Bundesrichter Gerhard Schäfer und seinen beiden wichtigsten Mitarbeitern weitgehende Unabhängigkeit unterstellt werden darf. »Fehler sollten nicht von den Behörden untersucht werden, die sie gemacht haben«, kritisiert Jennerjahn.

Aber Sachsen hat ja fast keine Fehler gemacht, glaubt man dem Regierungsbericht. Das eingeräumte fehlende Gesamtlagebild und die mangelhafte Koordination von Maßnahmen erscheinen wiederum als ein Thüringer Versäumnis. Die Sachsen wussten angeblich nur, was ihnen die Thüringer sagten. Und wenn sie etwas wussten? Hier findet sich der einzige selbstkritische Satz des Berichts. »Allerdings sind auch diese Teilerkenntnisse im Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen nicht mit der gebotenen Systematik ausgewertet worden«, heißt es speziell über das erste Halbjahr 1998. Die im Detail aufgelisteten Observationen in Chemnitz und andere polizeiliche Beobachtungen der Jahre 1998 bis 2000 blieben ohne Erfolg. Danach schlief die Fahndung sozusagen ein.

Hier zeigte sich auch die CDU-FDP-Mehrheit in der fünfköpfigen Verfassungsschutz-Kontrollkommission des Landtages kritischer. In ihrem Bericht, dessen Forderungen Bestandteil des Innenminister-Papiers sind, werden Analyse-Defizite und strukturelle Kommunikationsprobleme beim sächsischen Verfassungsschutz weit deutlicher benannt. Erst recht im Minderheitenvotum der beiden LINKEN-Abgeordneten Kerstin Köditz und André Hahn. Sie wiesen unter anderem auf den verfehlten strategischen Ansatz im Landesamt hin, der auf der Extremismustheorie mit ihrer Gleichsetzung der rechten und linken Ränder beruhe.

Bei so viel regierungsamtlicher Selbstzufriedenheit fragt man sich, wie dennoch 14 Punkte unter der Rubrik »Konsequenzen« zustande kommen. Beim näheren Hinsehen entpuppen sie sich aber meist als Mitarbeit in Bundesvorhaben, so etwa beim Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus oder der Gemeinsamen Verbunddatei. Auch die sechs Zeilen, die einem Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus gewidmet sind, meinen die Bundesebene. Nicht neu, aber sächsisch ist die bereits im April eingerichtete Informations- und Analysestelle von Landeskriminalamt und Verfassungsschutz. Sachsen will nun auch das Internet verstärkt beobachten, Waffenbesitz überprüfen, ebenso kriminelle Altfälle auf ihren möglichen Terrorzusammenhang.

Viele offene Fragen

»Nichts Neues«, resümiert Kerstin Köditz und nennt den Bericht einen »Versuch der Vernebelung«. Von einem »Dokument der Peinlichkeit«, das mit Analyse nichts zu tun habe, spricht der Grüne Jennerjahn. Die meisten Fragen bleiben offen. Warum wurde in Sachsen, wo die meisten Raubüberfälle stattfanden, kein Zusammenhang zwischen diesen und der Mordserie an Kleinunternehmern gesehen? »Wir suchten anfangs nach Bombenbastlern«, erklärt Sachsens Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos den damaligen Fahndungshorizont. Warum konnten die Täter elf Jahre unbehelligt in Sachsen leben? Der Untersuchungsausschuss des Landtages erweise umso mehr seine Berechtigung, schlussfolgerte die SPD-Abgeordnete Sabine Friedel.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Juni 2012


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