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Nazi-Terror als "Kriegsfolgeschaden"

Nun beginnt angeblich das große Gegensteuern

Von René Heilig *

Das »Runterrechnen« der rechtsextremen Gewalt hat Tradition in der Bundesrepublik Deutschland. 182 Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt sind seit 1990 zu beklagen. Die Regierung anerkennt lediglich 59. Sieben Jahre lang konnten Neonazi-Terroristen morden und rauben, die Sicherheitsbehörden waren unfähig, sie zu stoppen. Nur unfähig?

Nein, um seinen Job mache er sich keine Sorgen, sagt Thomas Sippel. Der Thüringer Verfassungsschutzchef räumte dieser Tage - auch weil die Veröffentlichung des hier empfohlenen Buches anstand - erstmals öffentlich Fehler seiner Behörde bei der Suche nach dem sogenannten Terror-Trio aus Jena ein. Er war sogar bereit, zu konstatieren, dass es keine »Kunstfehler« gewesen seien. Die »Defizite« betreffen vor allem die Steuerung von Informationen und die fachliche Koordinierung bei der Suche nach den rechtsextremen Terroristen Sippel bezog sich darauf, dass der Thüringer Verfassungsschutz und das Landeskriminalamt parallel nach dem untergetauchten Trio gesucht haben und schlussfolgerte: »Hier muss gegengesteuert werden.«

Oh ja, so sagen mehrere Autoren des vorliegenden Bandes und fordern schlichtweg die Auflösung des Landesamtes. Ihr wichtigstes Argument ist nachvollziehbar: Wenn der Inlandsgeheimdienst mit all seinen Agenten, Analytikern und V-Leuten nicht in der Lage ist, zu erkennen, dass sich ein rechtsterroristisches Netzwerk namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bildet, dessen Zellenspeerspitze bundesweit zehn rassistische Morde, zwei Bombenanschläge und mindestens 14 Banküberfälle begehen kann, dann ist er überflüssig.

Sippel hält dagegen. Man könne den Wert des Thüringer Verfassungsschutzes nicht alleine an dem Fall NSU bemessen. Objektive Kritiker müssen ihm da zustimmen. Doch das macht die Forderung nach Auflösung nur umso dringender.

Rudolf van Hüllen kennt den Verfassungsschutz, war selbst zwei Jahrzehnte unter anderem Mitarbeiter der Abteilung 2 (Deutscher Links- / Rechtsextremismus, -terrorismus). Der einstige Referatsleiter schreckt bisweilen aber durch seine »saloppe« Ausdrucksweise. So betrachtet er die Versäumnisse des Binnengeheimdienstes in der Abwehr des rechtsextremistischen Terrors unter anderem als Teil der »Kriegsfolgenbeseitigung« nach 1989. Folgt man seinen Bewertungen, so ist man inmitten des Kalten Krieges gefangen, der für manche zumindest ideologisch noch immer nicht beendet ist. Van Hüllen ist zuzustimmen, wenn er betont: Der psychologische Transformationsprozess, dem die Menschen vor allem im Osten Deutschlands unterworfen waren, war gigantisch. Die SED-Diktatur wurde von westlicher Demokratie und Marktwirtschaft abgelöst, dazu wuchs das Diktat der Globalisierung.


Die nach Ende des Zweiten Weltkriegs über viele Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden personellen Kontinuitäten aufgrund niemals belangter NS-Täter haben dazu geführt, das rassistische Weltbild der Nationalsozialisten, dass sich dezidiert gegen Sinti und Roma und Juden richtet, zu erhalten und eine breite gesellschaftliche Ächtung nationalsozialistischen Gedankenguts zu verhindern. Auch diese unmittelbaren Folgen des Nationalsozialismus dürfen in dem nun stattfindenden gesellschaftlichen Diskurs nicht vernachlässigt werden. (Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma)



Thüringen rühmt sich, in »Neufünfland« als erstes einen Verfassungsschutz aufgebaut zu haben. Das entsprechende Gesetz stammt aus dem November 1991. Der Geheimdienst bestand zunächst aus 13 Figuren, dann kamen sechs hinzu, die Behörde zählte bald 40 Beamte. »Allesamt Westimporte mit keinerlei Osterfahrung«, betont van Hüllen. Die Leute von der Stasi und aus den K1-Polizei-Kommissariaten, die wussten, welch rechtsextremistisches Potenzial sich schon zu DDR-Zeiten zusammengefunden hatte, wurden als das Böse schlechthin gegeißelt. Als Feinde eben. So verließen sich die neuen Hüter der Demokratie beim Verfassungs- und beim Staatsschutz - was Rechtsextremismus betraf - auf ihr geschöntes »Westbild« von nahezu bedeutungslosen Parteien, die nach einer klaren Struktur funktionierten. Die allgemeine Kriminalität wucherte, die Grenzen zur politischen Kriminalität waren fließend. Die Justiz mit all den buschzulagengeilen Emporkömmlingen war überfordert.


Rassismus ist nicht nur ein Randproblem oder nur in der Gewalt der Neonazis verortet, wie das leider oft verharmlosend von Teilen der Berichterstattung wahrgenommen wird. Dies führt nur zur Entlastung, ist aber falsch und verschließt die Augen vor dem Alltagsrassismus und strukturellem Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft. Denn längst sind Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in die Mitte der Gesellschaft eingedrungen. (Aiman A. Myzyk, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland)



Die Neonazihorden forderten: »Straße frei!«. Das Gewaltmonopol wechselte die Seiten. Als »Jugendliche« bei Sonnenwendfeiern das »Tagebuch der Anne Frank« verbrannten, »hielten Ex-Vopos das für persönliche Aufzeichnungen von irgendwem«, erinnert man sich heute noch schenkelklopfend in rechtsradikalen Kreisen. Zu viele der übernommenen Polizisten ersetzten Kämpfen durch Kuschen, daraus wurde nur zu oft ein Kuscheln mit den neuen Nazistrukturen. Noch heute schaut man in leere Gesichter, will man mit Thüringer Ordnungshütern über das Prinzip des »Führerlosen Widerstandes« reden, das der NSU relativ perfekt umgesetzt hat.


So sehr wie wir uns wünschen, dass die Vergangenheit nicht wie ein Alp auf die Geschicke der Lebenden drückt und mehr lähmt als beflügelt, ist es doch immer wieder die Erkenntnis, dass es ohne Erinnerung keine befreiende Zukunft geben kann. In der jüdischen Tradition besteht das absolute Gebot, sich zu erinnern. Erinnerung kann jedoch nicht in einem Vakuum stattfinden, sie ist verbunden mit dem moralischen Imperativ, dass Erinnerung zum Handeln führen muss. (Wolfgang Nossen, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Thüringen)



Doch der Geheimdienst - Ende des Jahrtausends in Thüringen auf 120 Agenten angewachsen - sollte der es nicht besser wissen? Selbst wenn man die Behauptung für zutreffend hält, dass die Hälfte einer deutschen Behörde immer mit der Verwaltung der anderen Hälfte ausgelastet ist. Roewer war's, hört man heute vielerorts. Auch van Hutten nennt den einen »exzentrischen Amtschef«.

Helmut Roewer alias Stephan Seeberg, von 1994 bis 2001 Chef des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz, war - wie die linke Innenexpertin Martina Renner sagt - »der Ludwig II. der Geheimdienste«. Mal radelte er als Observant am Rande einer Demonstration mit, mal »profilierte« er sich als General Ludendorff mit Pickelhaube. Stets ließ der Provinz-007 eine besondere Affinität nach Rechtsaußen erkennen.

Dabei war er nur Beamter. Alle seine Befugnisse hatten ihm die Regierenden eingeräumt. Der damalige Innenminister Richard Dewes (SPD) galt wie andere aus der Landesregierung über Jahre als Roewers Vertrauter. Was den Chefagenten nicht hinderte, auch eine Akte über Dewes & Co. anzulegen.


Es geht nicht darum, unser Entsetzen zu konservieren, sondern darum, Lehren zu ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung sind. Wir wissen, viele haben sich schuldig gemacht, aber die entscheidende Aufgabe ist es heute, eine Wiederholung, wo und in welcher Form auch immer, zu verhindern. Dazu gehört beides, die Kenntnis der Folgen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und die Kenntnis der Anfänge, die oft im Kleinen, ja sogar im Banalen liegen können. (Ottomar Rothmann, ehemaliger Buchenwald-Häftling, Kommunist)



Professionalität war zweitrangig, Antikommunismus war in Roewers Agentenhaufen Einstellungsbedingung. Beispiel: der Historiker Stefan Schäfer. Er kam 1996 ins Amt. Ende 1999 leitete er das »Referat 22 Rechtsextremismus« - das ist exakt jene Truppe, die nicht in der Lage war, die abgetauchten NSU-Mitglieder zu finden.

Gemeinsam mit der Geheimdienstfrau Claudia Timpel, zuständig für das »Referat 23 Ausländerextremismus«, veröffentlichte Schäfer im Heron-Verlag das geschichtsklitternde Buch »... dich brenn’ ich eigenhändig an... Buchenwald - Kristallisationspunkt für Extremisten?« Egal ob Himmlers KZ oder sowjetisches Speziallager - für Roewers »Nachzucht« ist Buchenwald »ein Symbol für zwei totalitäre Diktaturen auf deutschem Boden«.

Wenn der Dienst mit seiner Extremismusverblendung wenigstens nach links wie rechts geblickt hätte. Aber nein! Man bespitzelte die Linken, Abgeordnete der damaligen PDS, fertigte für den Wahlkampf der CDU Dossiers. Man schnüffelte in den Gewerkschaften, forschte Bürgerinitiativen aus. Der Bürgerrechtler Matthias Büchner, der in Erfurt die DDR-Staatssicherheit, das »Schild und Schwert« der SED, aufgelöst hatte, sprach bereits 1990 im Landtag davon, dass »heute ein Instrument namens Verfassungsschutz sich vielleicht Messer und Gabel der CDU oder noch ganz anders nennt«.

1995 hatte man eine Studie zur Wählerschaft der PDS gefertigt. Nicht nur unter der Hand kursierte sie. Das Papier gelangte auch auf den tisch von Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (CDU) . Der anempfahl dem »Meinungsforschungsinstitut« Mäßigung. Derweil erstarkte der rechtsextremistische »Thüringer Heimatschutz«, Verfassungsschützer leisteten Aufbauhilfe, finanzierten die rechten Horden über V-Leute und schrieben verharmlosende Berichte. Selbst in den Jahresberichten wiegelte man die Gefahr ab.

Es hatte seinen Grund, dass man Thomas Sippel, der so einen unscheinbaren Beamteneindruck macht bereits im Jahr 2000 von seinem Job beim NATO-Defence-College in Rom abberief und als Verfassungsschutzboss in die Erfurter Provinzhauptstadt versetzte. Sippel sollte die Scherben zusammenfegen und einen demokratischen Teppich über den Roewer-Laden ausbreiten. Doch den Versuch hat der noch immer amtierende Geheimdienstchef, der auch jetzt nicht um seinen Job fürchtet, nie unternommen.

Derweil erstarkte der »Thüringer Heimatschutz«, vernetzte sich mit »Kameradschaften« über Landes- und Bundesgrenzen hinweg und kooperierte mit Blood&Honour-Banden und Funktionären der NPD. Bald darauf folgte der NSU dem Motto »Taten statt Worte«. Unbehelligt. Bis zum November 2011. Seit dem zufällig anmutenden Ende der Terror-Zelle vor einem halben Jahr nach der Enttarnung bei einem Bankraub in Eisenach gibt es viele offene Fragen. Die mutmaßlichen Killer - Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - sind tot. Beate Zschäpe, die das Trio komplettierte, stellte sich und schweigt. Das Bundeskriminalamt spricht von einem Unterstützerkreis von bis zu 38 Personen, einige sitzen in U-Haft.

Es sind nicht die Geheimdienste - Verfassungsschutz, BND und MAD - die, obwohl in die NSU-Aufklärungsversäumnisse involviert, die versprochene »lückenlose Aufklärung« vorantreiben. Aufklärung kommt von Antifaschistischen Initiativen, von Journalisten, Abgeordneten. Das vorliegende Buch sammelt vieles und ordnet es in notwendiger Weise in die jüngste Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein.

[Zitate in den Kästen aus dem Buch: »Made in Thüringen? Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal«]

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Mai 2012


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