Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Regierung vertuscht Versagen

Aktivismus statt Abwehr von Nazi-Terrorismus / Fast 100 Spitzel in der NPD

Von René Heilig *

Nach immer neuen Berichten über »Ermittlungspannen« bei der Aufklärung rechtsextremistischen Terrors berief die Bundesregierung einen Krisengipfel ein. Innen- und Justizminister aus Bund und Ländern treffen sich heute mit den Spitzen der Sicherheitsbehörden.

Bayerische Ermittler haben aufgrund von Täterprofilen bereits relativ früh einen rechtsextremistischen Hintergrund der Serienmorde vermutet. Beamte der Ermittlungsgruppe »Bosporus« haben deshalb bereits 2006 alle deutschen Verfassungsschutzämter um Hinweise gebeten. Zur Ergreifung der Täter waren 300 000 Euro ausgelobt und die Bevölkerung via TV-Sendung »Aktenzeichen XY« zur Mithilfe aufgefordert worden. 2006 hatte es in Kassel sogar eine Großkundgebung gegeben, auf der Aufklärung gefordert wurde.

Die Bundesregierung hielt sich aus allem heraus. Die »ungeklärten Mordfälle an Gewerbetreibenden türkischer bzw. griechischer Herkunft« seien Angelegenheit der Staatsanwaltschaften in Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Dazu nehme man »nicht Stellung«, hieß es auf eine Anfrage der Linksfraktion. Sie ist mit dem 20. April 2007 datiert. Die Abgeordneten wollten wissen, was zur Aufklärung unternommen wurde und welche Behörden auf Bundes- und Landesebene daran beteiligt sind. Keine Antwort. Auch nicht auf die Frage nach möglichen Tatmotiven. Dazu, warum die Mordserie in deutschen Medien kaum Aufmerksamkeit erweckte, lagen der Bundesregierung »keine Informationen vor«.

Nach dem Weggucken nun der Versuch des Vertuschens. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) will eilig ein gemeinsames Abwehrzentrum gegen rechtsextremistische Gewalt von Bund, Ländern, Polizei und Geheimdiensten aufbauen.

Wozu? Es gibt seit 2004 ein gemeinsames Terror-Abwehrzentrum in Berlin. Doch das kümmert sich - kurzsichtig - nur um mögliche islamistische Gefahren. Seit Ende 1992 existiert auf Beschluss der Innenminister von Bund und Ländern eine spezielle »Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer, insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte«. Die IGR sollte neue Beobachtungs- und Bekämpfungskonzepte entwickeln und den Erkenntnisaustausch sichern. 2003 beriet das Gremium darüber, ob es im Bereich des Rechtsextremismus Gruppierungen gibt, von denen eine Gefahr der Entstehung terroristischer Strukturen ausgeht. Noch im Sommer 2011 bestritt Friedrich eine solche Gefahr.

Dass auch der Bundestag weit davon entfernt ist, Ermittlungen gegen die »Zwickauer Zelle« und nationale oder internationale Nazi-Netzwerke voranzubringen, zeigte sich diese Woche im geheimen Parlamentarischen Kontrollgremium. Es soll die Arbeit der Dienste beaufsichtigen. Die geladenen Experten aus Thüringen und Hessen erschienen nicht. In der kommenden Woche ist eine neue Sondersitzung geplant. Dann nehmen (hoffentlich) auch die Vertreter von LINKE und FDP daran teil.

* Aus: neues deutschland, 18. November 2011


V-Mann-Strategie gescheitert

Fast 100 Spitzel in der NPD

Von René Heilig **


Nach der rechtsextremistischen Mordserie wird abermals über ein Verbot der NPD debattiert. Die sei Nährboden, heißt es. Doch da entsteht die Frage: Was ist mit den V-Leuten? An diesen vom Staat bezahlten Neonazis war der Verbotsantrag 2003 gescheitert.

Die NPD hat rund 6600 Mitglieder. Rund 100 davon sind V-Leute des Verfassungsschutzes. Die Zahl liege »im oberen zweistelligen Bereich« und damit noch höher als 2003, als bis zu 15 Prozent der Mitglieder in Landes- und Bundesvorständen der Nationaldemokraten für den Staat spitzelten, berichtet der »Kölner Stadt-Anzeiger«.

Die Vertrauensleute des Bundesamtes und der Landesverfassungsämter gelten offiziell als Haupthindernis eines NPD-Verbotsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht hatte ihren Einsatz zum Anlass genommen, das Parteiverbot nicht einmal zu prüfen.

Neonazis bezeichnen seither V-Leute als »Schutzschirm«. Verfassungsschützer argumentieren, dass man die Spitzel nicht abziehen könne, weil man dann nichts über die braunen Machenschaften der NPD und mit ihr kooperierender Kameradschaften erfahren würde. Dabei beachtet kaum jemand den Wert der Insider-Informationen. Der ist zweifelhaft. Denn die Spitzel sind und bleiben Neonazis, die entweder Wichtiges verschweigen oder sich nur wichtig machen, um den Staat abzocken. Nachweislich wurden Geheimdiensthonorare zum Aufbau sogenannter Freier Kräfte genutzt.

Rechtswissenschaftler Günter Frankenberg kritisierte in der ARD-Sendung »Panorama«, das Geld fließe »vom Staat über den Verfassungsschutz und die V-Leute in solche Organisationen hinein, die entweder kriminell sind oder ausländerfeindlich oder rassistisch, antisemitisch oder alles zusammen«. »Steuernde Einflussnahme« ist per Gesetz für V-Leute tabu, die Realität aber eine andere. Zudem wird schon lange nicht mehr garantiert, dass V-Leute keine Straftaten begehen.

Ein weiteres, aktuelles Argument dafür, dass die V-Leute-Strategie des Verfassungsschutzes gescheitert ist, liegt in den terroristischen Strukturen begründet. In die nur wenige Mitglieder umfassenden Zellen kann man keine zusätzlichen V-Leute einschleusen. Der Generalbundesanwalt sieht auch deshalb keine Verbindungen zwischen Verfassungsschutz und »Zwickauer Zelle«. Effektiver als V-Leute wären andere nachrichtendienstliche Mittel, samt Telefon- und PC-Überwachung. Die jedoch wurde bislang noch nie gefordert, wenn es gegen Rechtsaußen ging. Der Grundfehler bisheriger staatlicher Rechtsextremismus-Bekämpfung sei simpel, meint der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele: »Man wollte einfach, dass es nur pathologische Einzeltäter mit rechtsextremistischer Gesinnung gibt, und ordnete sie verharmlosend der allgemeinen Kriminalität zu.«

** Aus: neues deutschland, 18. November 2011


Schutzschirm für Nazis

Von Claudia Wangerin ***

Der Personenkreis, gegen den wegen der Mordserie der kürzlich in Sachsen und Thüringen aufgeflogenen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) ermittelt wird, weitet sich aus. Bisher wurden der Gruppe drei Personen zugerechnet: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die am 4.November tot in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden wurden, sowie die in Untersuchungshaft sitzende Beate Zschäpe. Auch der mutmaßliche Unterstützer Holger G. ist in Haft. Ein weiterer Mann, Matthias D., wird verdächtigt, in Zwickau Wohnungen für das untergetauchte Trio angemietet zu haben. Gegen die beiden Männer werde wegen Unterstützung ermittelt, bestätigte Generalbundesanwalt Harald Range am Freitag in Berlin. Zwei weitere Verdächtige wurden nicht namentlich genannt. Zschäpe will zunächst weiter zu den Vorwürfen schweigen.

Darüber hinaus wurde bekannt, daß die drei Hauptverdächtigen 1998 kurz nach ihrem Untertauchen von Zielfahndern aufgespürt worden waren. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei habe die Möglichkeit zum Zugriff gehabt, sei aber im letzten Moment zurückgepfiffen worden, berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) am Freitag unter Berufung auf das Thüringer Landeskriminalamt. Demnach soll es nach dem abgebrochenen Zugriff massive Beschwerden von seiten der Einsatzkräfte gegeben haben.

Bei einem »Krisengipfel« in Berlin einigten sich die Innen- und Justizminister von Bund und Ländern am Freitag auf Maßnahmen im Bereich Rechtsextremismus. Was es auf polizeilicher Ebene schon seit zehn Jahren gibt, nämlich eine zentrale Datei für politisch rechts motivierte Gewalttäter, stellte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) bei dieser Gelegenheit als Neuheit vor, denn nun sollen auch geheimdienstlich erhobene Daten mit einfließen. Neben einem »Abwehrzentrum Rechts« soll eine neue Verbunddatei geschaffen werden, in der die bestehenden Dateien der Polizeibehörden und Verfassungsschutzämter zusammengefaßt werden. Letztere sind in der 2001 angelegten »Remo«-Datei nicht enthalten. Das Kürzel steht für »rechts motiviert«; in der »Limo«-Datei werden analog dazu Linke gespeichert; die »Aumo«-Datei erfaßt »Straftäter politisch motivierter Ausländerkriminalität«. Für die drei Präventivdateien verliehen Bürgerrechtler dem Bundes­kriminalamt im Jahr 2002 den Negativ-Preis »Big Brother Award«.

Dadurch konnte jedoch weder die 2000 begonnene Mordserie an neun Kleinunternehmern türkischer und griechischer Herkunft gestoppt noch der Mord an einer jungen Polizistin in Heilbronn im Jahr 2007 verhindert werden. Die drei mutmaßlichen Haupttäter Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt waren seit den frühen 90er Jahren in der rechten Szene aktiv, wurden bereits 1998 wegen Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags gesucht und sollen sich nach Ablauf der Verjährungsfrist im Jahr 2003 bei der Staatsanwaltschaft Gera gemeldet haben. Im »Thüringer Heimatschutz« waren sie vor ihrem Abtauchen von einem Führungskader angeleitet worden, der sich später als V-Mann des Verfassungsschutzes entpuppte.

Am Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos gibt es inzwischen erhebliche Zweifel. »Solche Tätertypen bringen sich in der Regel nicht selbst um«, sagte Hamburgs ehemaliger Innensenator und Expolizeipräsident Udo Nagel in Bild (Freitagausgabe), nachdem er für eine Sondersendung des TV-Senders RTL2 (»Ungeklärte Morde Spezial«) zahlreiche Ermittler und Zeugen befragt hatte. Augenzeugen hätten von einem lauten Streit zwischen mindestens zwei Personen in dem Wohnmobil gesprochen, so der ehemalige Polizeichef.

*** Aus: junge Welt, 19. November 2011


Zur Seite "Rassismus, Rechtsradikalismus, Neofaschismus"

Zur Verfassungsschutz-Seite

Zurück zur Homepage