"Der Verfassungsschutz ist gefährlich"
Politiker, Anwälte und Journalisten diskutierten in Nürnberg über NSU-Morde in Bayern und die Konsequenzen
Von Claudia Wangerin *
Als Landtagsabgeordnete aus Nürnberg sei sie immer froh gewesen, daß die Frankenmetropole nicht mehr den Ruf der Stadt der Reichsparteitage hatte, sagt Helga Schmitt-Bussinger (SPD). Auch deshalb sei es für sie ein Schock gewesen, im November 2011 den Hintergrund einer Verbrechensserie zu erfahren, die elf Jahre zuvor begonnen hatte. In Nürnberg starben der Blumenhändler Enver Simsek, der Änderungsschneider Abdurrahim Özüdogru und der Imbißbetreiber Ismail Yasar durch Pistolenkugeln des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU), dem insgesamt zehn Todesopfer zugeordnet werden. Neben den drei Nürnberger Morden zwischen September 2000 und Juni 2005 verübten die Rechtsterroristen zwei weitere im selben Bundesland: Der Gemüsehändler Habil Kilic und der Schlüsseldienstinhaber Theodoros Boulgarides starben 2001 und 2005 in München. »Fünf NSU-Morde in Bayern – und alles bleibt, wie es ist?« war der Titel einer Veranstaltung, zu der die nordbayerischen Bündnisse gegen rechts am Samstag Mitglieder der Untersuchungsausschüsse aus drei Bundesländern und Anwälte der Nebenklage sowie Journalisten und Beobachter nach Nürnberg eingeladen hatten.
»Hat der Inlandsgeheimdienst lediglich versagt, oder folgte er einer inneren Logik?«, stellte der seit den 1970er Jahren aktive Antifaschist Günter Pierdzig eine der Grundfragen. »Der Verfassungsschutz ist gefährlich«, so die Antwort von Yavuz Narin, der die Witwe und die Töchter des 2005 ermordeten Theodoros Boulgarides als Anwalt der Nebenklage vertritt. Narin erinnerte an die Verdächtigungen, denen seine Mandantinnen jahrelang ausgesetzt waren. Sie hätten nicht Opfer sein dürfen, sondern seien von den Sicherheitsbehörden zu Tätern gemacht worden. »Sie wollen auch gar nicht mehr Opfer sein, sie sind mündige Bürger dieses Landes«, stellte ihr Anwalt klar. Als »angreifbarstes Opfer« habe sich aber ein hessischer Verfassungsschützer bezeichnet, der 2006 am Tatort war, als in Kassel der NSU-Mord an Halit Yozgat begangen wurde. Narin sagte über Andreas Temme, der sich seinerzeit nicht bei der Polizei gemeldet hatte, er könne als Zeuge im bevorstehenden NSU-Prozeß »zur Abwechslung mal die Wahrheit sagen«.
Edith Lunnebach hat als Strafverteidigerin Erfahrung mit dem Antiterrorparagraphen 129a, nach dem auch die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe angeklagt ist. Allerdings vertrat Lunnebach linke Angeklagte. Nun vertritt sie eine iranische Familie, deren Tochter durch einen NSU-Sprengsatz schwer verletzt wurde. Lunnebach sagte in Nürnberg, sie lehne den Paragraphen 129a zwar ab, müsse aber einen Vergleich ziehen: Im Fall Zschäpe werde ständig nach deren Anwesenheit an den Tatorten gefragt. Aber ein Fingerabdruck von Stefan Wisniewski auf einem Umschlag mit einem Erpresserbrief der »Roten Armee Fraktion« (RAF) habe gereicht, um ihm »alles zuzurechnen«.
Auf Mängel der Anklageschrift gegen Zschäpe ging der Journalist Robert Andreasch, Mitarbeiter der Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e. V. (a.i.d.a.) ein. Die Polizistin Michèle Kiesewetter gelte darin als »zufällig ausgewähltes Opfer« des NSU, obwohl die mutmaßlichen Mörder von Zwickau nach Baden-Württemberg reisen mußten.
SPD-Frau Schmitt-Bussinger und die bayerische Grünen-Abgeordnete Susanna Tausendfreund zogen eine Zwischenbilanz für den dortigen Untersuchungsausschuß. Dieser habe trotz geschwärzter Akten und der »Erinnerungslücken« verantwortlicher Zeugen schon Kontakte zwischen bayerischen V-Leuten des Verfassungsschutzes und dem aus Thüringen stammenden NSU-Trio zutage gefördert. »Die fränkische Neonaziszene hätte anders ausgesehen, wenn Kai D. sich da nicht eingemischt hätte«, sagte Tausendfreund über den enttarnten V-Mann Kai Dalek, der in den 1990er Jahren Administrator des »Thule-Netzes« war, Gedenkmärsche für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß organisierte und 1998 auf einer Telefonliste des abgetauchten NSU-Terroristen Uwe Mundlos stand. »Nach unserer Einschätzung muß der Verfassungsschutz in seiner bisherigen Form abgeschafft werden«, sagte Schmitt-Bussinger. Der Inlandsgeheimdienst sei »ein Kampfinstrument der CSU«, sein Jahresbericht werde vom Innenminister abgesegnet. Die Devise »Links gleich rechts« sei der bayerischen Staatsregierung wichtig. Es müsse diskutiert werden, wie die Verfassung tatsächlich geschützt werden könne, sagte Schmitt-Bussinger und sprach von der Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen. Ähnlich äußerten sich die Thüringer Landtagsabgeordnete Martina Renner, die im dortigen Untersuchungsausschuß arbeitet, und ihre sächsische Kollegin Kerstin Köditz (beide Die Linke). Köditz bedankte sich für die Recherchen antifaschistischer Gruppen, die wertvolle Anregungen für Fragen im Ausschuß gegeben hätten.
* Aus: junge Welt, Dienstag, 5. Februar 2013
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