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Die Sünden anderer

Rolle des Verfassungsschützers "Klein Adolf" erneut Thema im NSU-Prozeß. Mutter eines Ermordeten bittet die Angeklagte Zschäpe um Aufklärung

Von Claudia Wangerin, München *

Der Tod des 21jährigen Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel war auch Mittwoch Thema der Beweisaufnahme im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU).

An die schweigende Hauptangeklagte Beate Zschäpe richtete die Mutter des Ermordeten zunächst einen bewegenden Appell. »Ich spreche als Mutter, als eine Geschädigte. Ich bitte Sie, daß Sie all diese Vorfälle aufklären«, sagte Ayse Yozgat auf Türkisch, ein Dolmetscher übersetzte. Sie denke, daß Frauen sich gegenseitig verstehen. Seit sieben Jahren könne sie nur zwei Stunden am Stück schlafen. Sie fühle sich beeinträchtigt, sagte die Nebenklägerin. »Ich bitte um Aufklärung. Nicht, daß Sie die Sünden anderer übernehmen.« Zschäpe, die aufmerksam zuhörte, ist als Mittäterin bei zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen angeklagt, die sie gleichberechtigt mit ihren inzwischen toten Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt geplant haben soll.

Im Zusammenhang mit dem Mord an Halit Yozgat ist auch die politische Gesinnung von Andreas Temme, ehemals Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, am Mittwoch vor Gericht erneut zur Sprache gekommen. Nach Aktenlage beschrieb sich der Zeuge Temme selbst als »konservativ ausgerichtet«, als er von der Polizei als Beschuldigter befragt wurde, weil er sich zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafé am Tatort befunden hatte. Ein Polizeibeamter, der am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht München zu den damaligen Ermittlungen aussagte, konnte sich nur erinnern, daß Temme damals erklärte, er habe »keine rechte Gesinnung«, hätte aber nach eigenen Worten möglicherweise diesen Weg eingeschlagen, wenn er in seiner Jugend »mit den falschen Leuten« in Kontakt geraten wäre. Als Temme nach Aufdeckung des NSU 2011 erneut in die Schlagzeilen gelangte, berichteten Nachbarn, er sei »Klein Adolf« genannt worden. Ein anderer Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz hatte Temme dagegen als »Mitte-links« beschrieben, zitierte ein Nebenklagevertreter am Mittwoch aus den Akten.

Daß Temme ausgerechnet als V-Mann-Führer für den Inlandsgeheimdienst arbeitete und neben fünf menschlichen Quellen im Bereich »Ausländerextremismus« auch eine aus der Neonaziszene führte, wußten die polizeilichen Ermittler nicht, als sie an einem der Rechner in dem Internetcafé, wo Halit Yozgat erschossen wurde, auf Temmes Handynummer stießen. Hinterlegt war sie auf dem Portal Ilove.de – von seinen Aktivitäten dort habe seine Frau nichts erfahren sollen, führte er zu seiner Entlastung an, als er kurzzeitig zum Hauptverdächtigen wurde, weil er sich nach dem Mord nicht als Zeuge bei der Polizei gemeldet hatte. Bemerkt habe Temme aber angeblich sowieso nichts. Weder die gedämpften Knallgeräusche, die andere Besucher des Internetcafés wahrnahmen, noch den jungen Mann, der mit zwei Kugeln im Kopf hinter der Theke lag, als er selbst das Café verließ.

Temme, der am Tag des Mordes mit seiner Quelle aus der Neonaziszene telefonierte und als Sportschütze auch den Schmauch hätte riechen können, hatte am Dienstag im ersten Teil seiner Zeugenvernehmung vor Gericht betont, ihm sei klar, daß seine Version schwer zu glauben sei. Unter anderem wegen der Sorge um seine junge Ehe habe er wohl die Fehleinschätzung »dankbar angenommen«, daß er nicht am Tag des Mordes, sondern 24 Stunden früher am Tatort gewesen sei. Das habe er auf der Dienststelle anhand seiner Stempelkarte rekonstruiert, als er aus der Zeitung von der Tat erfahren habe. Im Zuge der Polizeiermittlungen wurde aber ein Gespräch Temmes mit einem seiner Vorgesetzten aktenkundig, der ihm am 9. Mai 2006 sagte, er solle »so nah wie möglich an der Wahrheit« bleiben.

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. Oktober 2013


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