Krude Mischung
Während in München Vernehmungsbeamte eines mutmaßlichen NSU-Terrorhelfers vor Gericht aussagen, stellte der Thüringer Verfassungsschutz seinen Jahresbericht vor
Von Claudia Wangerin *
Ende der 1990er Jahre mußte die Thüringer Neonaziszene noch Konzerte und »Balladenabende« organisieren, um die Geldnöte der untergetauchten »Kameraden« Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zu lindern, dies berichtete ein Beamter des Bundeskriminalamts (BKA) am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München. Dies habe der Angeklagte Holger Gerlach erzählt. Weil der mutmaßliche Terrorhelfer im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) keine Fragen beantworten will, müssen seine vorherigen Vernehmungen vor Gericht eingeführt werden. Am Dienstag war ein Beamter des Bundeskriminalamts (BKA) an der Reihe, vor dem Gerlach umfangreiche Unterstützunghandlungen für das mutmaßliche Kerntrio des NSU eingeräumt hatte. Dabei ging es zumindest um zwei beschaffte Reisepässe und einen übergebenen Führerschein. Gerlach habe sich die Haare abschneiden lassen, eine Brille aufgesetzt und einen Schnurrbart getragen, um für die Fotos dem mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt möglichst ähnlich zu sehen. Im Urlaub habe er sich regelmäßig zu »Systemchecks« mit Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe getroffen, die nun als einzige Überlebende des Trios vor Gericht steht. Um die Legende zu den Ausweispapieren aufrecht erhalten zu können, hätten sie sich bei diesen Treffen über seine Lebenssituation ausgetauscht. In einer vor Gericht verlesenen Erklärung hatte Gerlach dies relativiert: Es seien »ganz normale Treffen« gewesen, die er damals gar nicht als »Systemchecks« empfunden habe. Seine alten Freunde hätten stets beteuert, mit den Papieren »keinen Scheiß« zu machen; er habe sich auch nicht vorstellen können, daß sie zu Gewalt im hier vorgeworfenen Ausmaß fähig seien.
In der Erklärung, zu der Gerlach keine Fragen beantworten wollte, war außerdem Beate Zschäpe individuell deutlich weniger belastet worden als in der Aussage, die der am Dienstag vor Gericht vernommene BKA-Beamte ihm entlockt haben will. Demnach hatte die jetzige Hauptangeklagte nicht nur die Finanzen des Trios im Griff, sondern war auch bei der Übergabe einer Waffe dabei, die Gerlach den drei untergetauchten Neonazis in Zwickau übergab. Zschäpe soll Gerlach vom Bahnhof abgeholt und in die Wohnung des Trios in der Polenzstraße gebracht haben. Einer der »beiden Uwes« habe dort im Beisein von Zschäpe die Pistole durchgeladen. Es sei klar gewesen, daß es sich um eine scharfe Waffe handelte. In der Vernehmung durch das BKA soll Gerlach außerdem erklärt haben, Zschäpe sei aus seiner Sicht gleichberechtigt mit den beiden Männern gewesen.
In der später verfaßten Erklärung ging Gerlach weitaus weniger auf ihre Rolle ein. Nach Darstellung des Mitangeklagten hätten »alle drei Personen sozusagen ›im Chor‹ mit ihm gesprochen, und es waren jeweils ›sechs Hände‹, die ihm etwas übergeben oder etwas von ihm entgegengenommen haben«, erklärte Zschäpes Anwalt Wolfgang Stahl im Juni vor Gericht.
Auch Nebenklagevertreter äußern sich skeptisch zu den Einlassungen Gerlachs. Dessen Angaben seien »davon gekennzeichnet, daß er jeweils nur stückchenweise, teilweise erst nach der Konfrontation mit Widersprüchen seiner Aussagen zu entsprechenden Beweisergebnissen verschiedene Tathandlungen zugegeben hat«, erklärte am Dienstag Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der die Tochter des NSU-Mordopfers Mehmet Kubasik vertritt. »Er versucht, seinen eigenen Tatbeitrag herunterzuspielen«, so Scharmer. Gerlach stelle sich als »unwissendes Werkzeug« des Trios und des Mitangeklagten Ralf Wohlleben dar. Trotz aller Vorsicht, die bei der Bewertung dieser Aussagen angezeigt sei, belaste Gerlach sich selbst sowie Zschäpe und Wohlleben als Organisator des Kuriersystems erheblich.
Unterdessen stellte das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz am Dienstag seinen Jahresbericht für 2012 vor. Demnach ist die rechte Szene im Ursprungsland der Hauptbeschuldigten im NSU-Prozeß weiter gewachsen. Die Zahl der behördlich erfaßten Neonazis sei um rund 16 Prozent gestiegen, die neofaschistische Partei NPD um rund zehn Prozent gewachsen. Die Gründe seien teils schwer nachvollziehbar, sagte der amtierende Verfassungsschutzpräsident Roger Derichs. Es gebe eine »krude Mischung« von NSU-verharmlosenden Verschwörungstheorien bis hin zur öffentlichen Duldung.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 17. Juli 2013
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