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Lieber doof als zu tief im Terrorsumpf

Anmerkungen zu einem Zeugen im NSU-Prozess: Ex-Verfassungsschützer mit Rockerambitionen

Von René Heilig *

Der Münchner NSU-Prozess mühte sich mit einem ehemaligen Verfassungsschützer als Zeugen. Der versteht offenbar sein Handwerk besser, als es den Anschein hat.

Scheinbar geht es um sieben Minuten. Am 6. April 2006 um 17.01 Uhr loggte sich Andreas Temme in einen Internet-Flirt-Chat ein. War da Halit Yozgat, der Betreiber des Kasseler Internetcafés, noch am Leben? Ja, um 16.54 Uhr hatte ihn ein Zeuge noch im Eingangsraum sitzen sehen. Um 17.01 Uhr verließ Temme das Internet wieder, wollte bezahlen, sah Yozgat aber nicht mehr, schaute kurz auf der Straße nach ihm. Erfolglos. Also legte er 50 Cent auf dessen Tisch und ging. Um 17.03 Uhr kam Vater Yozgat ins Café und entdeckte seinen sterbenden Sohn. Halit Yozgat war, so sagen die Ankläger, von den NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen worden.

Das könnte auch schon die ganze Geschichte gewesen sein – wenn Andreas Temme nicht Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes gewesen wäre. Und wenn er nicht verdächtige Telefonate mit V-Leuten geführt hätte. Und wenn er nicht so nervös gewesen wäre, als ihn Tage danach der Informant GP389 auf den Mord ansprach. Und wenn Temme sich – wie andere Internetcafé-Besucher bei der Polizei gemeldet hätte. Und wenn die Verfassungsschutzchefs samt damaligem Innenminister Volker Bouffier (CDU) nicht verhindert hätten, dass Temme und seine V-Leute vernommen werden. Und wenn die Bundesanwaltschaft sich nicht noch immer weigern würde, die vollständigen Akten aus dem Ermittlungsverfahren gegen den dann doch erwischten Temme herauszugeben. Und ... und ... und ...

Das Ermittlungsverfahren gegen Temme ist längst eingestellt und der Beamte aus dem Geheimdienst entfernt worden. Seither gibt er den Mann ohne Erinnerung. Es hat ihn schon als Zeugen vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin nicht gestört, dass andere ihn für »doof« halten. Ausweichen statt Konfrontation – mit dieser Taktik brachte er diese Woche den Vorsitzenden im Münchner NSU-Verfahren zur Weißglut – und blieb selber ganz cool.

Temme, der einstige Postzusteller, der sich dann hinterm Schalter langweilte, las im Amtsblatt der Oberpostdirektion eine Anzeige, die ihn zum Geheimdienst lockte, wo er eine spezielle Ausbildung zum Observationsexperten absolvierte. Er blieb vor Gericht dabei – nichts gesehen, nichts gehört, nichts geahnt.

Temme hat nicht nur in seiner Jugend eine seltsame Affinität zum Rechtsextremismus gezeigt. Er tippte lange Passagen aus Hitlers »Mein Kampf« ab und schrieb das »Deutschlandlied« bis zu letzten Zeile auf. In seinem Dienstzimmer fand die Polizei neben Pornoheften ungewöhnliche Bücher, darunter den »Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS«.

Daheim sammelten die Beamten neben etwas Rauschgift auch Schrotpatronen ein. Temme wird eine Begeisterung für das Combat-Schießen nachgesagt. Kaum untersucht ist Temmes Verhältnis zu den »Hells Angels«. Mit dem Chef des Kasseler Rocker-Chapters war der so fade wirkende 1,90-Meter-Mann sogar befreundet.

Ganz zufällig habe sich das ergeben, denn seine Harley Davidson, Baujahr Ende 50er Jahre, war reparaturanfällig und der Angel-Chef hatte eine Werkstatt. Das erklärt aber nicht, wieso der Verfassungsschützer immer wieder zu Partys der Rocker gegangen ist. Schließlich ist die Truppe ja nicht gerade durch Abstinenz von Organisierter Kriminalität und Neonazi-Unwesen bekannt.

Die »Stuttgarter Nachrichten« verweisen nun auf die aktuelle Aussage eines Mannes beim Bundeskriminalamt. Der will den mutmaßlichen NSU-Mörder Mundlos zu Beginn der 2000er Jahre in einer Kneipe im hessischen Reinhardshagen mehrfach gesehen haben. Er habe dort Kontakt zu »Hells Angels« und Blood & Honour-Kameraden gesucht. In Reinhardshagen, nur Minuten von Temmes Geburtsort Trendelburg-Deisel entfernt, befindet sich ein Reservistenschießstand, auf dem der Verfassungsschützer übte. Von dort sind es rund 20 Kilometer zum Internetcafé.

Das alles beweist noch nichts, ist aber weitere Nachforschungen wert. So wie man auch Temmes Neonazi-V-Mann GP389 genauer auf den Zahn fühlen sollte. Benjamin G. war seit etwa 2000 in der rechtsradikalen Szene in Kassel aktiv. Dazu gehörte der »Sturm 18«. G. steht auf Platz 104 der sogenannten 129er-Liste, auf der das Bundesinnenministerium Leute aus dem Umfeld des NSU auflistet. Und: G.s Stiefbruder Christian W. spielte eine nicht unbedeutende Rolle in der inzwischen verbotenen Blood&Honour-Szene. Dabei hatte beste Beziehungen nach Sachsen, wo sich Böhnhardt, Mundlos und die in München angeklagte Beate Zschäpe niedergelassen hatten.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Dezember 2013


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