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NSU-Verfahren: Aktenherausgabe verlangt

Nebenkläger haben die Nase voll von der Verschleierungstaktik des Verfassungsschutzes

Von René Heilig *

Hitzige Debatten im NSU-Prozess: Vertreter der Nebenkläger haben dem Gericht mangelnden Aufklärungswillen vorgeworfen. Es geht um die Rolle eines Ex-Verfassungsschützers im Fall Yozgat.

Der gestrige Dienstag war der 63. Verhandlungstag des Oberlandesgerichts in München gegen Mitglieder und Unterstützer der rechtsextremistischen Terrorgruppierung namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Erneut als Zeuge geladen war der ehemalige V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme. Am 6. April 2006 saß er exakt zu jenem Zeitpunkt in dem Kasseler Internetcafé, als dessen Betreiber, Halit Yozgat, erschossen wurde. Mörder, so sagt die Anklage, waren die NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.

Doch der Verfassungsschützer, der sich in ein Flirtportal eingeloggt hatte, beteuert hartnäckig, nichts Auffälliges gesehen oder gehört zu haben.

Temmes Anwesenheit in dem Laden ist Anlass für Spekulationen, zumal er sich nicht als Zeuge bei der Polizei meldete. Als sein Name dennoch ermittelt worden war und man wusste, dass der Beamte zumindest einen rechtsextremistischen V-Mann mit Beziehungen zu Blood&Honour-Kreisen nach Sachsen führte, schützte der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) – inzwischen Ministerpräsident des Landes – den Geheimdienstler und seinen Spitzel vor allzu viel polizeilicher »Neugier«.

Temme war bereits vor Wochen als Zeuge in München. Sein Lavieren erregte den Unmut des Vorsitzenden Manfred Götzl so sehr, dass er ihm Zeit gab, das Erinnerungsvermögen auf den notwendigen Stand zu heben. Zugleich hatten Nebenkläger die vollständige Herbeiziehung aller relevanten Dokumente aus einem Verfahren gegen den Ex-Verfassungsschützer Temme beantragt. Der Senat allerdings entsprach dem nur teilweise.

Diese Weigerung, alle Akten vorzulegen, mache deutlich, »dass auch dieses Gericht eine vollständige Aufklärung der Tat nicht wünscht«, protestierte Nebenklageanwalt Alexander Kienzle, der Angehörige des Opfers vertritt. »Der Senat darf jetzt nicht auf halber Stelle stehenbleiben«, appelliert er. Sein Mandant Ismail Yozgat, Vater des Ermordeten, merkte an: Erst wurden Akten von Behörden vernichtet, jetzt halte man Akten zurück. »Was ist in ihrem Land los, dass sie solche Entscheidungen treffen können?«, fragt er.

Auch andere Nebenkläger monierten, dass sie vom Generalbundesanwalt in Karlsruhe keine Kopien der Ermittlungsakten mehr bekämen. Die Nebenklageanwälte könnten alles lesen, widersprach Bundesanwalt Herbert Diemer, doch eine Herausgabe komme aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht infrage.

Persönlichkeitsschutz? Temme selbst hat unter Verzicht auf seinen Persönlichkeitsschutz ein TV-Interview gegeben. Dass Diemer also den Schutz von Temme oder seiner Familie meint, wird bezweifelt. Es gibt weithin die Vermutung, dass man in den Akten womöglich auf die Einflussnahme anderer Verfassungsschutzämter oder von Regierungsmitgliedern stoßen könnte. Eine fortgesetzte Weigerung, die Akten beizuziehen, berge »revisionsrechtlich ein hohes Risiko«, heißt es in dem Antrag von Nebenklägern. Sollte ein Revisionsantrag erfolgreich sein, müsste der gesamte NSU-Prozess neu aufgerollt werden.

Bei diesem Stand bliebe ihnen nichts anderes übrig, als gegen die Vernehmung Temmes zu sein, betonten Opferanwälte. Die Verteidiger von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben schlossen sich an. Damit attackierten Nebenklage und Verteidiger zum ersten Mal gemeinsam die Bundesanwaltschaft. Doch die Vorwürfe prallen am Vorsitzenden ab. Aus Sicht des Strafsenats bleibe der Verdacht, es gebe beim Mord an Halit Yozgat ein staatliches Mitverschulden, im »Bereich der Spekulation«. Nach der Mittagspause begann die Vernehmung des Zeugen, der wieder vieles nicht schlüssig erklären kann. Der Vorsitzende verschob die Vernehmung.

Seit Prozessbeginn im Mai tauchen immer wieder Kameraden der Angeklagten im Gerichtssaal auf. Nun, so meldet das Internetportal »Blick nach rechts«, bekomme der mutmaßliche NSU-Waffenbeschaffer Wohlleben sogar in der Haft entsprechenden Besuch. Es handele sich um Christian D., den einstigen Wirt der Szenekneipe »Heilberg« bei Saalfeld. Dort verkehrten Blood&Honour-Anhänger aus Zwickau ebenso wie fränkische Neonazis. D. kannte auch Mundlos und Böhnhardt. 1997 hatte man in der Kneipe ein umfangreiches Waffenarsenal entdeckt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013


Aufklärung behindert

NSU-Prozeß. Scharfer Konflikt in München: Eltern eines Ermordeten verlangen Beiziehung vollständiger Akten über Exgeheimdienstler Temme. Gericht lehnt ab

Von Claudia Wangerin, München **


Im Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) eskalierte der Streit um den ehemaligen Geheimdienstler Andreas Temme am Dienstag zur bisher schärfsten Konfrontation zwischen Anklägern, Gericht und Nebenklägern. Nach ihren Anwälten meldeten sich die Eltern des Kasseler NSU-Mordopfers Halit Yozgat zu Wort und verlangten, die vollständigen Ermittlungsakten zum früheren V-Mann-Führer des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz zu den Prozeßakten zu nehmen. Temme war am Tatort gewesen, will aber von den Schüssen auf Halit Yozgat in dessen Internetcafé im April 2006 nichts bemerkt haben. Gegen ihn hatte die Kasseler Polizei ermittelt. Ayse Yozgat nannte die Vorlage aller Akten »unser Recht als Vater und Mutter«. Die Anwälte der Familie äußerten den Verdacht, der Verfassungsschutz habe Einfluß auf die Akteneinsicht genommen und beantragten dazu dienstliche Erklärungen der Bundesanwaltschaft.

Der zuständige Senat des Oberlandesgerichts München hatte am Donnerstag letzter Woche die Beiziehung der Ermittlungsakten mit Ausnahme eines kleinen Teils abgelehnt und erneuerte nun diesen Beschluß. Temme war am Dienstag zum zweiten Mal als Zeuge geladen. Die Anwälte der Familie Yozgat und weiterer Betroffener der NSU-Mordserie widersprachen der Fortsetzung seiner Vernehmung, da ihnen Aktenteile fehlten. »Die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben Temmes gebietet die vollständige Beiziehung der Akten«, so Nebenklageanwalt Alexander Kienzle am Dienstag vor Gericht. Er bezog sich unter anderem auf das Verhältnis Temmes zu seinem V-Mann aus der Neonaziszene, mit dem der Quellenführer am Tag des Mordes telefoniert hatte: Polizeiliche Ermittler hatten anhand der Telefonüberwachung die Beziehung zwischen beiden als »vertraulich, fast freundschaftlich« eingeschätzt. Temme, dem frühere Nachbarn den Spitznamen »Klein-Adolf« verliehen hatten, gab dagegen vor dem Gericht an, er habe zu dem Mann nur oberflächlichen Kontakt gehabt. Der Eindruck der Ermittler könne nur anhand der vollständigen Unterlagen nachvollzogen werden, so Kienzle. Von der Bundesanwaltschaft werde die Akteneinsicht aber »nicht mehr in einer Weise gewährt, die diesen Namen verdient«. Unterlagen zu kopieren sei den Nebenklagevertretern versagt worden, als sie im August 2013 im Dienstsitz des Generalbundesanwalts in Karlsruhe Akteneinsicht genommen hätten. Im Juni 2012 sei das noch möglich gewesen.

Kienzle und Kollegen forderten dienstliche Erklärungen der Vertreter der Bundesanwaltschaft, ob es »eine Weisungslage durch andere Behörden, namentlich Landesämter oder das Bundesamt für Verfassungsschutz« zur Nichtvorlage von Akten zum »Komplex Temme« und der Verweigerung von Ablichtungen oder eine »hierauf gerichtete Einflußnahme« gebe. Bundesanwalt Herbert Diemer erklärte dies für »dermaßen abwegig«, daß sich eine Stellungnahme dazu verbiete. Der Senat lehnte auch diesen Antrag ab.

Gleichwohl zeigte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl in der Vernehmung Temmes deutlich, daß ihm dessen Angaben unglaubwürdig erschienen. Als Temme beteuerte, er habe an ein Gespräch mit einer Kollegin namens Ehrig über den Mord keine Erinnerung, belehrte ihn Götzl: »Wenn Sie hier Angaben machen, dann müssen die der Wahrheit entsprechen.« Nach Aktenlage hatte Temme gegenüber Frau Ehrig gelogen, er suche dieses Internetcafé nicht auf.

** Aus: junge welt, Mittwoch, 4. Dezember 2013


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