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Der praktische § 129

Sachsens Handygate: Justiz gibt Rückendeckung bei Bespitzelung von Antifaschisten

Von René Heilig *

Das Amtsgericht Dresden hat erklärt, dass die Abfrage von mehr als einer Millionen Handyverkehrsdaten samt 320 000 Rufnummern während einer Anti-Nazi-Demo 2011 erlaubt war. Nicht einmal eine Bundestagsvizepräsidentin kann dagegen Rechtsschutz in Anspruch nehmen.

Die sächsischen Innenbehörden - sowie inzwischen medial abgetauchte Bundesverfassungsschützer - haben im Februar bei Protesten gegen einen Naziaufmarsch in Dresden massenhaft Handydaten abgefragt und gespeichert. »Nichtindividualisierte Funkzellenabfrage« nennt man das Verfahren, das bundesweit boomt.

Am 19. Februar 2011 waren in Sachsens Landeshauptstadt Zehntausende Demonstranten, Anwohner, Journalisten, Rechtsanwälte, Abgeordnete betroffen. Unter ihnen ist Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (LINKE), die Nazis Einhalt gebieten wollte. Dass die Polizei sie deshalb bespitzelte, wollte sie nicht akzeptieren. Sie hat - wie ihre sächsischen Linksfraktionskollegen Falk Neubert und Rico Gebhardt - beim Amtsgericht Dresden beantragt festzustellen, dass die Anordnung der Funkzellenabfrage und die folgende massenhafte Datenerhebung rechtswidrig waren.

Vergebens. Das Amtsgericht Dresden, das die Funkzellenabfrage auf Antrag der Staatsanwaltschaft selbst genehmigt hatte, erklärte in eigener Vollkommenheit jetzt alles für rechtmäßig. Richter Dr. Herrmann Hepp-Schwab, das ist jener, der auch schon Journalisten verdonnerte, weil sie nach seiner Ansicht im »Sachsensumpf« wider die sächsische Justiz falsch recherchiert hatten, bescheinigte Pau »keine erhebliche Betroffenheit der Grundrechte mit Ausnahme des Grundrechts des Fernmeldegeheimnisses«. Der »geringen Tiefe der Betroffenheit« standen »massive und zahlreiche Straftaten« sowie »massive Ermittlungsprobleme« gegenüber. Man habe »wegen des Verdachts der Bildung krimineller Vereinigungen« ermittelt. Paragraf 129 ist aufgerufen. Der ist, so sagen Fachleute, ein reiner »Ermittlungsparagraf«. Man braucht nur einen Verdacht und kann ermitteln, ermitteln, ermitteln ...

Der Beschluss zur Funkzellenabfrage, sagt Hepp-Schwab, sei »in größerem Sach- und Zeitzusammenhang« ergangen. »Seit etwa einem Jahr sind in Dresden gewaltsame Übergriffe, offensichtlich linksorientierter Tätergruppen auf politisch Andersdenkende festzustellen.« Jemand hat Neonazis unsanft behandelt. Dieser Jemand zeigte »Professionalität. Ansatzlos, gezielt und zum Teil äußerst brutal« seien die »überwiegend maskiert« agierenden Täter vorgegangen.

Wie zur Ergreifung solcher - seit langem überwachten - »Profis« eine massenhafte Handy-Rasterfahndung während einer Demonstration von Zehntausenden Demokraten beitragen kann, ist ein Geheimnis der Ermittler. Und auch, warum es nach 15 Monaten noch immer nicht zu einer Anklage gekommen ist. Vielleicht, weil so ein ständig präsenter Gummiparagraf praktisch ist, um immer wieder zu Durchsuchungen und anderen Schnüffelaktionen gegen linke Gruppierungen zu blasen? Tatsache ist, dass Sachsens Polizei und Justiz bei den Ermittlungen zu untergetauchten Terror-NSU-Nazis weniger Eifer zeigten. Nicht einmal nachdem deren Mordtaten offenkundig geworden sind, fühlt man sich besonders gefordert.

Paus Rechtsanwalt Peer Stolle bestätigte, dass man die nächste Instanz bemühen wird. Denn offenbar ist das Amtsgericht nicht in der Lage zu erkennen, wie tief der von ihm genehmigte und nun bestätigte Eingriff ins Grundrecht ist. Zudem missachtete man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das reagiert weitaus sensibler bei derartigen Grundrechtsverletzungen, betont Anwalt Stolle und ist sich sicher: Das massenhafte Sammeln der Telefondaten von Zehntausenden völlig Unschuldigen verstößt ersichtlich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch Neubert und Gebhardt haben angekündigt, sich gegen den Beschluss zu wehren.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 7. Juni 2012

Alarmierendes Schweigen

Unter dem Titel »Alarmierendes Schweigen zu forensischer Handyspionage« kommentierte der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Die Linke) am Mittwoch in einer Presseerklärung ein Schreiben des Bundesinnenministeriums auf seine Anfrage nach der Auswertung beschlagnahmter Mobilfunktechnik: **

»Die Antwort der Bundesregierung zur Spionage in beschlagnahmten Mobiltelefonen ist besorgniserregend: Wieder wird eine öffentliche Auskunft zur digitalen Schnüffelei durch Polizeien und Geheimdienste verweigert. Das Fragerecht von Abgeordneten wird zur Makulatur.«

Der Abgeordnete hatte sich nach Technik erkundigt, mithilfe derer bei Bundesbehörden Daten von Mobiltelefonen ausgelesen werden können: Anruflisten, Fotos, Videos, SMS-Nachrichten, E-Mails, Social Networking Daten oder auch persönliche Dateien. Der Blog netzpolitik.org sowie die Wochenzeitung Die Zeit hatten über Großbritannien und die USA berichtet, daß die Praxis längst üblich sei und sogar bei Verkehrsverstößen genutzt wird. Die Bundesregierung verweigerte nun die öffentliche Beantwortung der Frage.

Andrej Hunko weiter: »Mir ist nicht ersichtlich, weshalb die Nutzung dieser forensischen Werkzeuge dem Geheimschutz unterliegen soll. Die Bundesregierung hat auch nicht deutlich gemacht, welches zu schützende Gut eine öffentliche Beauskunftung verletzen würde.

Die Nicht-Antwort reiht sich stattdessen ein in eine Praxis, das Arsenal digitaler Schnüffelwerkzeuge bei Polizeien und Geheimdiensten weiter zu verheimlichen: Auch frühere Fragen zu WLAN-Catchern, Stillen SMS, Trojanern oder IMSI-Catchern wurden mir nur teilweise beantwortet.

Ich wollte jetzt erfahren, ob beispielsweise die Bundespolizei Mobiltelefone von in Gewahrsam Genommenen ausliest. Auch wenn diese Geräte vom Bundes- oder Zollkriminalamt genutzt werden, muß dies einer anwaltlichen und bürgerrechtlichen Prüfung unterzogen werden. Wie sonst sollen Anwälte ihr Mandat zum Schutz von Persönlichkeitsrechten bei Massenfestnahmen im Zuge politischer Proteste wie in Dresden oder im Wendland wahrnehmen?

Eine Öffentlichkeit muß wissen, in welchem Maße der Staat in Persönlichkeitsrechte seiner Bewohner/innen eingreift. Dies gilt insbesondere für Mobiltelefone: Deren Nutzer/innen müssen über Möglichkeiten des Auslesens ihrer intimen, schützenswerten Daten in Kenntnis gesetzt werden.

Wie wichtig ein Verständnis digitaler polizeilicher Werkzeuge ist, wurde zuletzt im Falle der Mordserie des ›Nationalsozialistischen Untergrunds‹ deutlich: Zwar wurden die Taten in einer länderübergreifenden geheimdienstlichen Datenbank gespeichert, die das computergestützte Erkennen von Zusammenhängen unter Personen und Sachen versprach. Bekanntlich half die technische Aufrüstung aber nicht, die Täter zu fassen – es fehlte statt dessen der Blick nach rechts.

Die Heimlichtuerei zu Möglichkeiten und Grenzen digitaler Überwachung sorgt für ein wachsendes Mißtrauen gegenüber der Regierung und ihren Polizeien und Geheimdiensten: Viele Menschen fühlen sich bespitzelt und überwacht – offensichtlich zu Recht.

Ich muß nun davon ausgehen, daß das Auslesen von Mobiltelefonen von deutschen Behörden praktiziert wird. Bezüglich des alarmierenden Schweigens zu dieser Technik habe ich jetzt eine Beschwerde beim Bundesinnenministerium eingelegt«.

** Aus: junge Welt, Donnerstag 7. Juni 2012




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