Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eine Warnung vor Denkfaulheit

Die "Dimitroff-Formel" – Fakten und Legenden über den Versuch einer Faschismus-Definition

Von Manfred Weißbecker *

»Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.« Dieser Versuch einer Definition des Faschismus kursiert in der Literatur als »Dimitroff-Formel«. Unser Autor, Faschismusforscher in Jena, hat die Reden des bulgarischen Kommunisten auf dem VII. Weltkongress der Komintern vor 75 Jahren (25. Juli bis 20. August 1935) noch einmal genau gelesen und sich gefragt, inwieweit die Aussagen des von diesem letzten KI-Kongress gewählten letzten KI-Generalsekretärs noch Bestand haben.

Als unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in mehreren europäischen Ländern faschistische Bewegungen in Erscheinung traten, begann zugleich die Suche nach Erklärungen für das neue Phänomen. Insbesondere bemühten sich deren Gegner, Charakter und Ursachen dieser zu erhellen. Sie entwickelten dabei punktuell zutreffende, oft jedoch auch verwirrende, mitunter ganz und gar abwegige Faschismustheorien, die den Interessen und Ambitionen unterschiedlicher Strömungen in der Gesellschaft dienten. Teils unterstützten, teils behinderten sie die notwendige Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Die Auffassung, dieser sei ein Ergebnis aggressiver imperialer Großmachtziele und terroristischer Bestrebungen ökonomisch Mächtiger, prägte lange Zeit das Denken in allen Arbeiterorganisationen, gleich ob diese gewerkschaftlich, sozialdemokratisch oder kommunistisch orientiert waren.

Was eine Kritik der Kritik beachten muss

Auch nach dem 8. Mai 1945 dominierte zunächst überall eine entschieden antikapitalistische Deutung des Faschismus. Sie bot nicht nur eine der entscheidenden politisch-moralischen Grundlagen für den Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher, sondern lag vielfach auch den Programmen bürgerlicher Parteien zugrunde, die sich im Interesse einer friedlichen Zukunft für strikte Begrenzungen kapitalistischer Verhältnisse aussprachen oder teilweise sogar sozialistische Verhältnisse forderten. Dem bereitete der beginnende Kalte Krieg allerdings rasch und gründlich ein Ende. Seither und erst recht heutzutage gibt es zahlreiche Versuche, den Nationalsozialismus vom Faschismus zu trennen, seine deutsche Variante gleichsam zu »entfaschisieren», aber auch zu »entkapitalisieren« oder gar zu »sozialisieren«, d.h. generell nicht mehr nach den Wurzeln des Faschismus in der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu fragen bzw. ihn sogar als eine Spielart antikapitalistischer Strömungen darzustellen.

Dabei spielt der abschätzig gemeinte Begriff »Dimitroff-Formel« eine zentrale Rolle. »Formel« – das soll doch wohl besagen, es lohne sich einfach nicht, über ihren Inhalt zu sprechen, wenn in Faschisten nichts anderes als »Agenten« des Kapitals gesehen würden. Jede Kritik solcher Art von »Kritik« sollte sowohl die historische Situation berücksichtigen, in der damals Feststellungen getroffen worden sind, als auch den Text der beiden Reden genau analysieren, die Georgi Dimitroff (1882-1949) zu Beginn und am Ende des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale gehalten hat. Ohne eine parteiische »Ehrenrettung« vornehmen und alle Aspekte des Themas berühren zu wollen, sei dies hier versucht.

Dimitroffs Reden trugen politischen Charakter und sind kaum als Ersatz wissenschaftlicher Theoriebildung zu verstehen. In seiner Hauptrede benannte er Erscheinungen faschistischer Politik und Herrschaftsmethoden und widmete sich weniger der Charakterisierung des an der Macht agierenden Faschismus; von den über 100 Seiten der gedruckten Fassung sind dem lediglich acht gewidmet. Zudem fällt auf, dass er hier aus Stalins Rede auf dem XVII. Parteitag der KPdSU und den Materialien des XIII. EKKI-Plenums zitierte, dies möglicherweise im Wissen um die Tatsache, dass im Vorfeld des Kongresses Entscheidungen über die künftige Orientierung der kommunistischen Parteien noch nicht gefallen waren, vielleicht auch ahnend, dass ein Kurswechsel der Komintern keinen Bestand haben würde. Jedenfalls ging er auch im Schlusswort des Kongresses nicht auf die Frage ein, wie der Faschismus zu definieren sei.

In gewisser Weise stellten dennoch Dimitroffs Überlegungen einen beachtlichen theoriegeschichtlichen Schritt über bislang vertretene Auffassungen hinaus dar. Zuvor war in der Regel eher allgemein über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus gesprochen worden. Nunmehr wurde nicht nur zwischen Kapital und Finanzkapital, sondern auch innerhalb des Finanzkapitals differenziert. Damit schien eine Grundlage antifaschistischer Volksfrontpolitik gegeben, die auch vom Wissen um die Existenz und von notwendiger Akzeptanz unterschiedlicher bürgerlicher Herrschaftsformen auszugehen hatte. Dass man sich 1935 endgültig von der verheerende Folgen zeitigenden Gleichsetzung von Faschismus und Sozialdemokratie trennte, sei hier zumindest erwähnt.

Fertige, leere Schablonen

Dimitroff geißelte die Fehler, die den Kampf gegen den Faschismus gehemmt hätten: »In unseren Reihen wurde die faschistische Gefahr in unzulässiger Weise unterschätzt, was auch bis auf den heutigen Tag nicht überall liquidiert ist. […] In Deutschland haben unsere Genossen lange Zeit das verletzte Nationalgefühl und die Empörung der Massen gegen den Versailler Friedensvertrag nicht genügend berücksichtigt […] In mehreren Ländern wurde die notwendige Entfaltung des Massenkampfes gegen den Faschismus durch ein unfruchtbares Räsonieren über den Charakter des Faschismus ›im allgemeinen‹ und durch sektiererische Beschränktheit in Stellung und Lösung der aktuellen politischen Aufgaben der Partei ersetzt.« Auch vor schablonisierendem Denken warnte er: »Wir müssen den Hang zu ausgeheckten Schemen, leblosen Formeln, fertigen Schablonen, der oft auf unsere Genossen lähmend wirkt, aufs schonungsloseste ausrotten. Wir müssen mit dem Zustand Schluss machen, wo Kommunisten, denen es an Kenntnissen und an Fähigkeiten zu einer marxistisch-leninistischen Analyse fehlt, diese Analyse durch allgemeine Redensarten und allgemeine Losungen, wie ›revolutionärer Ausweg aus der Krise‹ ersetzen […] Ohne eine solche Analyse werden jedoch alle ähnlichen Losungen zu einem leeren Wort, zu einer inhaltlosen Phrase, die unsere gegenwärtigen Aufgaben nur verdunkelt.«

Nahezu apodiktisch äußerte sich Dimitroff zur Notwendigkeit weiterer, also auch über seine Aussagen hinaus gehender Analysen: »Keinerlei allgemeine Charakteristik des Faschismus, mag sie an sich noch so richtig sein, enthebt uns der Pflicht, die Eigenart der Entwicklung des Faschismus und der verschiedenen Formen der faschistischen Diktatur in einzelnen Ländern und in verschiedenen Etappen konkret zu studieren und zu berücksichtigen. […] Es wäre ein grober Fehler, irgendein allgemeines Entwicklungsschema des Faschismus für alle Länder und alle Völker aufstellen zu wollen.« Regelrecht abschätzig sprach Dimitroff von »Denkfaulheit«, würde das Studium der konkreten Lage »durch allgemeine, nichtssagende Formeln« ersetzt. Wer diese verwende, erinnere »nicht an Scharfschützen, die mitten ins Schwarze treffen, sondern an solche ›Meisterschützen‹, die systematisch und unausbleiblich danebentreffen, bald höher, bald tiefer, bald weiter, bald näher am Ziel vorbeischießen.«

Dennoch wies die oft zitierte, in einen einzigen Satz gegossene Charakterisierung des Faschismus an der Macht durch den VII. Weltkongress schon damals erhebliche Fehler und Schwächen auf. Sie bezeugte eine nach wie vor mechanistische Auffassung vom Verhältnis zwischen ökonomischer und politischer Macht.

Zwar war gemeint, dass der Faschismus eine Diktatur im Interesse des Finanzkapitals ausübe, dass hinter ihr und sie stützend das Finanzkapital stehe, doch die Formulierung selbst war irreleitend. Sie führte die alte Unterschätzung der bürgerlichen Demokratie fort und überwand diesen Fehler nicht grundlegend. Die Formulierung »offene terroristische Diktatur« zielte darauf, auch parlamentarisch-demokratische Verhältnisse als Diktatur zu verstehen. Liest man indessen die Reden Dimitroffs genau, dann wird deutlich, dass er keineswegs – wie es noch das XIII. EKKI-Plenum vom November/Dezember 1933 getan hatte – von einer direkten Machtausübung der Monopolkapitalisten gesprochen hat. Er verlangte explizit die »Aufstellung positiver demokratischer Forderungen«. Denn auch jede »schematische Behandlung der Frage der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie« sei zu überwinden.

Zu kritisieren wäre aber, dass zwar ein großer Einfluss der Faschisten auf die Massen konstatiert, dieser aber nicht tiefer ausgelotet wurde. Von Manipulation und Demagogie wurde gesprochen – berechtigt, jedoch ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass diese nichts oder nur wenig bewirken würden, wenn sich die Manipulierten nicht manipulieren ließen, Demagogie unnütz wäre ohne die Bereitschaft von Massen, sich demagogisch beeinflussen zu lassen. Die Erklärung, mit »verlockendsten« Losungen – Dimitroff zitierte u. a. das von der NSDAP oft verwendete Schlagwort »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« – seien die »politisch unreifen Massen« gewonnen worden, war schlicht unzureichend. Für eine materialistische Bewusstseinsforschung wurde nichts geleistet, wahrscheinlich auch deshalb, weil die Sicht auf die Massen im eigenen Machtbereich ebenfalls nur von »oben« her erfolgte.

Die notwendige Kritik an der sogenannten Dimitroff-Formel muss sich jedoch vor allem an der folgenschweren dogmatischen Reduzierung diverser Erscheinungen faschistischer Politik und Ideologie in einen einzigen Satz reiben, der zudem weit über das Jahr 1935 hinaus regelrecht vergötzt wurde. Mancher richtiger Denkansatz wurde so nicht weitergeführt. 1935 konnte zwar schon festgestellt werden, dass der Faschismus zum Krieg führen wird, noch nicht aber die Maßlosigkeit seiner Expansionsziele und der barbarischen Kriegführung, erst recht nicht der systematisch betriebene Völkermord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma, an Slawen und anderen Völkern. Diese späteren Erfahrungen und Erkenntnisse einfach in frühere Definitionen pressen zu wollen, hat dem historisch-materialistischen Geschichtsdenken schweren Schaden zugefügt. Die stetige bloße Wiederholung des einen Satzes ließ völlig außer Betracht, dass sich der Faschismus nach 1935 weiter entfaltet hat und dies eine neue Analyse erforderlich machte. In seinem totalen Krieg gegen alle Andersdenkenden und Andersartigen hat sich der Faschisus gleichsam selbst weiter »faschisiert«.

Vergötzung eines Satzes

Dennoch und bei aller notwendigen Kritik an Dimitroffs Ausführungen: Niemand kann bestreiten, dass Faschismus terroristisch, menschen- und menschenrechtsfeindlich sowie letztlich kriegstreibend ist, erst recht nicht nach den Erfahrungen, welche die Welt mit der deutschen Kriegführung und dem industrialisierten Völkermord der Nazis während des Zweiten Weltkrieges machen musste. Alle Kritik hebt vor allem eine Tatsache nicht auf, die mit der »Kritik« aus der Welt geschafft werden soll: Der Faschismus entstand nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Boden kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse und konnte auf diesem Boden wirksam werden. Niemals verfolgte er das Ziel, diesen anzutasten oder auch nur in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Er tauchte auf in einer von mächtigen sozialen und nationalen Bewegungen erschütterten Zeit und war seinem tiefsten Wesen nach gegenrevolutionär. Letzteres nicht allein im Blick auf das Jahr 1917/18, sondern auch in Hinsicht auf das Jahr 1789. Dass sich Faschisten selbst als »revolutionär« ausgaben oder sie mitunter so dargestellt werden, ändert nichts an dieser Feststellung.

Insofern handelte es sich bei faschistischen Bewegungen, bei faschistischer Ideologie und auch bei nationalsozialistischer Herrschaft um eine der damaligen Zeit zuzuordnende Ausgeburt der bürgerlichen Gesellschaft, um eine der möglichen Folgen des Dranges ökonomisch und politisch Mächtiger nach Maximalprofit und Expansion, um Versuche, ökonomische und gesellschaftliche Krisen mit allen Mitteln dauerhaft bewältigen zu wollen – selbst wenn dies nur durch verbrecherische und völkerrechtswidrige Politik, durch Kriege und jedwede Aufhebung der ursprünglich aufklärerisch-humanistischen Anliegen des Bürgertums und aller im Laufe der Zeit insbesondere von der Arbeiterbewegung durchgesetzten Beschränkungen seiner Macht erreicht werden konnte.

* Prof. Dr. Manfred Weißbecker (Jg. 1935) verfasste mit Prof. Dr. Kurt Pätzold eine Hitler- und eine Heß-Biografie, eine »Geschichte der NSDAP« und »Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen« sowie zahlreiche weitere Publikationen über den deutschen Faschismus.

Aus: Neues Deutschland, 7. August 2010



Zurück zur Seite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zur Theorie-Seite

Zurück zur Homepage