Niemand will der EU "ihre" Piraten abnehmen
Deutsche Fregatte beschattet derzeit Seeräubermutterschiff
Von René Heilig *
54 Prozent aller Piratenangriffe ereigneten
sich im vergangenen Jahr
vor den Küsten Somalias, liest man im
Jahresbericht des Internationalen
Schifffahrtsbüros (IMB), der am Donnerstag
in London vorgestellt wurde.
Zur Zeit verfolgt die Deutsche Marine
ein Piratenmutterschiff und hat damit
ein Problem »am Hacken«.
Bereits am Dienstag (17. Jan.) hatten Seeräuber
vor Somalia versucht, das
154 Meter lange niederländische
Spezialschiff »Flintstone« zu kapern.
Der Angriff schlug fehl. An
Bord des Rohrlegers war ein sogenanntes
Vessel Protection Detachment.
Die Bewaffneten trieben die
Piraten in die Flucht. Sie zogen sich
auf eines ihrer Mutterschiffe zurück.
Immer häufiger solche
schwimmenden Stützpunkte von
der EU-Armada gesucht und identifiziert,
um sie – wie es bei den
Militärs heißt – zu »neutralisiert«
oder bereits beim Ablegen an der
somalischen Küste abzufangen.
Die im Seegebiet im Rahmen
der EU-Operation »Atalanta« patrouillierende
deutsche Fregatte
»Lübeck« erhielt den Befehl, die
Dhau näher in Augenschein zu
nehmen. Doch die Piraten auf dem
Frachtsegler zeigten wenig Neigung,
ein bewaffnetes Team willkommen
zu heißen. Nach Warnschüssen
warnten die Freibeuter,
sie hätten Geiseln in ihrer Gewalt.
Nun wurde es psychologisch.
Elf Personen konnten an Bord des
Mutterschiffs – das den passenden
Namen »Mother« am Bug führt –
gezählt werden. Die deutsche Fregatte
hielt also respektvollen Abstand
zum Piratenschiff – auch, um
nicht selbst zum Ziel von Panzerbüchsen
zu werden. Ein gewaltsames
Entern scheidet aus, da die an
Bord der Fregatte befindlichen
Spezialkräfte für solche Lagen
nicht befähigt sind. Es ist eben ein
Unterschied, ob man im eigenen
Hafen vor Politikern und Abgeordneten
prahlt, oder ob man vor Somalia
im scharfen Einsatz ist.
Das sollten sich all jene merken,
die jetzt von Angriffen auf Landbasen
der Piraten schwärmen.
Während EU-Generale und Admirale
an entsprechenden Operationsplänen
arbeiten, wird in verschiedenen
Bundestagsfraktionen
darüber sinniert, wie eine entsprechende
Ausweitung des
rechtlich nach wie vor umstrittenen
»Atalanta«-Mandats gefasst
werden könnte, um die notwendige
parlamentarische Mehrheit zu
erreichen.
Die »Lübeck« beschränkt
sich jedoch nicht nur aufs
Beschatten. Am Mittwoch (18. Jan.) eröffneten Scharfschützen
das Feuer auf ein an Deck
liegendes Skiff. Mit solchen kleinen
und schmalen Booten fahren die
Piraten ihre Blitzangriffe auf zumeist
gezielt ausgewählte, weil viel
Lösegeld versprechende Frachter.
Auch mit Hilfe des »Lübeck«-
Bordhubschraubers zerschoss
man den Rumpf des Skiffs.
Gestern wechselte
die Dhau den Kurs.
Sie hält nicht mehr
auf die Insel Sokotra
zu, sie fährt zur somalischen Küste. Am Wochenende,
so die Berechnungen,
wird sie da eintreffen. Womöglich
versucht die Führung von »Atalanta
« Spezialkräfte anderer Partner
heranzuführen, die fit genug
sind, den Kahn trotz Bedrohung
möglicher Geiseln zu entern.
Der jüngste Vorfall zeigt erneut,
dass weder EU noch NATO und
USA, die einen mit »Atalanta« vergleichbaren
Einsatz betreiben,
ein Konzept zur
politischen Lösung
des kriminal-sozialen
Problems haben. Nun gibt es sogar Unklarheiten
über die Unterbringung und
der Verurteilung von gefangenen
Piraten. Die Seychellen weigerten
sich entgegen bisheriger Gepflogenheiten
jüngst, Gefangene zu
übernehmen, die die dänische
»Absalon« am 7. Januar beim Entern
der Dhau »Al-Qashmi« gemacht
hatte. Das von einer pakistanisch-
iranischen Crew gefahrene
Boot war zuvor gekapert und für
weitere Raubzüge genutzt worden.
Auch die Briten werden 14 Freibeuter
nicht los, die die Royal Marines
am Samstag festsetzten.
Im vergangenen Jahr waren
802 Mitglieder von Schiffsbesatzungen
in Geiselhaft, im Jahr davor
zählte man laut IMB-Bericht
1181. 2011 waren zehn Seeleute
umgebracht worden. Obwohl die
Bedrohung durch Piraterie vielerorts
– vor allem im westafrikanischen
Golf von Guinea – wächst,
liegt der Gefahrenschwerpunkt
weiter vor Somalia. Dort fanden
von 439 im Jahr 2011 weltweit registrierten Angriffen 236 statt.
* Aus: neues deutschland, 20. Januar 2012
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