Strategiewechsel: NATO rüstet für Kalten Krieg 2.0
Von Uli Cremer *
Auf ihrem Gipfel im walisischen Cardiff hat die NATO Anfang September 2014 einen Strategiewechsel Richtung Kalter Krieg 2.0 vollzogen und diesen auch mit entsprechenden militärischen Maßnahmen unterfüttert, u.a. durch den Beschluss, eine „Sehr Schnelle Eingreiftruppe Ost“ aufzustellen. Dass nicht auch noch die NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahre 1997 aufgekündigt wurde, ändert an der Grundsatzentscheidung nichts. Ab sofort gilt Russland als Gegner im Kalten Krieg 2.0, der als eröffnet gelten kann.
Die NATO: Putin ist Schuld!
Die Verantwortung für die Eskalation und das Ende der 25jährigen Ära des „Gemeinsamen Hauses Europa“ wird von westlicher Politik und westlichen Medien Russland bzw. dem russischen Präsidenten Putin angelastet. Grundsätzlich wird moniert, Russland betreibe Geopolitik und die sei heutzutage im 21.Jahrhundert „out“. Dass die NATO, die EU bzw. einzelne Mitgliedsstaaten natürlich auch selbst Geopolitik betreiben und ihre eigenen Einflusssphären zu arrondieren suchen, wird geleugnet. Eine Ausnahme ist John J. Mearsheimer, Politikwissenschaftler an der University of Chicago, der in der außenpolitischen US-Zeitschrift Foreign Affairs die Geschichte andersherum erzählt:
»Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten. An der Wurzel des Konflikts liegt die NATO-Osterweiterung, Kernpunkt einer umfassenden Strategie, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden. Dazu kamen die EU-Osterweiterung und die Unterstützung der Demokratiebewegung in der Ukraine durch den Westen, beginnend mit der Orangenen Revolution 2004. Seit Mitte der 1990er Jahre lehnen russische Staatschefs eine NATO-Osterweiterung entschieden ab, und in den vergangenen Jahren haben sie unmissverständlich klargemacht, dass sie einer Umwandlung ihres strategisch wichtigen Nachbarn in eine Bastion des Westens nicht untätig zusehen würden. Das Fass zum Überlaufen brachte der unrechtmäßige Sturz des demokratisch gewählten pro-russischen Präsidenten der Ukraine; Putin sprach zu Recht von einem „Staatsstreich“. Als Reaktion darauf annektierte er die Halbinsel Krim, auf der, wie er befürchtete, die Einrichtung einer NATO-Marinebasis geplant war, und betrieb die Destabilisierung der Ukraine, um sie von einer Annäherung an den Westen abzubringen... Immerhin war der Westen, wie Putin nicht müde wurde zu betonen, in den Hinterhof Russlands vorgedrungen und hatte dessen strategische Kerninteressen bedroht.«[1]
NATO legt Perspektive „Nordpakt“ zu den Akten
Werfen wir einen Blick zurück in die 1990er Jahre. Damals hatten die westlichen Staaten durchaus die Kooperation mit Russland gesucht. Sogar eine russische Mitgliedschaft in der NATO war eine ernsthafte Perspektive, die z.B. vom US-amerikanischen Präsidenten Clinton angeboten wurde. Solch ein Beitritt wäre ein Kooperationsformat gewesen, bei dem der Westen, die NATO-Staaten unter Führung der USA die Konditionen der Zusammenarbeit bestimmt hätten. Allerdings erschien eine NATO-Mitgliedschaft beiden Seiten damals als ein zu großer Schritt, so dass die Zusammenarbeit erst einmal in jener „Grundakte“, einem Vertrag im Rahmen der NATO-Partnerschaft-für-den-Frieden sowie dem Gesprächsformat NATO-Russland-Rat Ausdruck fand. Die ersten NATO-Osterweiterungen, die in dieser Zeit konzipiert wurden, waren auf diese Weise gewissermaßen „flankiert“ worden. Am Ende hätte eine große NATO-Osterweiterung um Russland gestanden, die den Nordpakt unter dem Label „NATO“ vollendet hätte.
Eine Juniorpartnerschaft und Unterordnung Russlands schien damals (den westlichen Führungen) ein durchaus adäquates Format zu sein, denn der neu formierte russische Staat war ökonomisch schwer angeschlagen, so dass westliche Konzerne immer weiter in die russische Wirtschaft eindringen konnten. Auch politisch waren die Möglichkeiten Russlands begrenzt: Hilflos musste die Jelzin-Regierung zusehen, wie die NATO 1999 Krieg gegen Jugoslawien führte und den Kosovo abtrennte. Der Ausverkauf und Niedergang wurde unter dem 2000 neu gewählten Präsidenten Putin gestoppt. Sukzessive berappelte sich die russische Wirtschaft. Auch politisch fasste Russland wieder tritt. Hauptgrund dafür waren weniger das Regierungsgeschick des neuen Präsidenten als die dramatisch steigenden Öl- und Gaspreise, die Russland nun gigantische Staatseinnahmen verschafften. War in den 1990er Jahren der Ölpreis noch um 60% gefallen und hatte so Russland auf Krisenkurs geschickt, stieg er im darauffolgenden Jahrzehnt um über 800% (!). Statt 12 US-$ (1999) wurde 2007 über 90 US-$ pro Barrel gezahlt. Inzwischen haben sich die Preise auf einem Niveau über 100 US-$ stabilisiert – was ein guter Indikator für die Stärke Russlands im Jahr 2014 ist. Zumal der Preis durch die Kriege in Syrien und Irak weiter steigen könnte.
Vor diesem Hintergrund stieg der politische Preis für die Einbindung Russlands in eine westliche Formation seit 2000 kontinuierlich an. Konsequenterweise erwartete die Putin-Regierung angesichts der wieder gewonnenen Stabilität eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Man wollte die Regeln der Kooperation mitbestimmen. Insbesondere der durch Russland von Beginn an unterstützte Afghanistan-Krieg führte zur Intensivierung der Zusammenarbeit. Die Perspektive eines Nordpakts stand weiterhin im Raum, zumal auf diese Weise der globale Abstieg bzw. Bedeutungsverlust des Westens hätte kompensiert bzw. verlangsamt werden können.
Spätestens seit 2008 nahmen jedoch die Spannungen zu. Dabei taten sich Risse zwischen USA und EU auf. Insbesondere die EU-Kontinentalmächte Deutschland, Frankreich und Italien setzten auf intensive Zusammenarbeit, halfen Russland bei der Modernisierung des Landes, während die USA immer mehr auf Konfrontationskurs gingen. Im August 2008 hatte Russland in dem kurzen Südossetienkrieg eine Aggression der damaligen georgischen Führung zur Eingliederung Südossetiens abgewehrt.
Auch Abchasien blieb dem georgischen Staatsverband weiter fern. Die Ukraine hatte sich seit 2004 unter Präsident Juschtschenko stärker dem Westen angenähert und politisch große Anstrengungen zur Formierung eines ukrainischen Nationalstaats unternommen – mit den zugehörigen Denkmälern (vielfach für den Faschistenführer Bandera) und Narrativen: So wurde mit dem Holodomor eine nationalistische Deutung der Kulakenverfolgungen und der damit verbundenen Hungersnot in der Stalinära mit seinen Millionen Opfern unter verschiedenen Völkerschaften als einem gezielten Völkermord an UkrainerInnen vorgenommen. Während die US-Regierung auf die rasche Aufnahme Georgiens und auch der Ukraine in die NATO drängten, verhinderte die deutsche Regierung genau dies.
Zwar entzündete sich der aktuelle Ukrainekonflikt an dem Assoziationsvertrag mit der EU. Doch auch die NATO reagierte. Nach der völkerrechtswidrigen Eingliederung der Krim durch Russland suspendierte sie die zivile und militärische Kooperation mit Russland. Außerdem wurde mit kleineren Truppenverlegungen gen Osten und Manövern bereits im Frühjahr Geschäftigkeit demonstriert. Mit dem NATO-Gipfel von Wales ist das Tischtuch nun zerschnitten. Die Perspektive „Nordpakt“ hat sich für die NATO erledigt.[2]
Sehr Schnelle Eingreiftruppe Ost
Beschlossen hat die NATO die Aufstellung einer neuen Sehr Schnellen Eingreiftruppe, die innerhalb von 2-5 Tagen an die NATO-Ostgrenze verlegbar sein soll. Es handelt sich dabei um hauptsächlich um Bodentruppen.
Eine schnelle Eingreiftruppe hat die NATO allerdings schon, nämlich die seit 2002 aufgebaute NATO Response (NRF), deren „Speerspitze“ (also Teil) die neue Truppe werden soll. Die NRF umfasst aktuell nach NATO-Angaben 28.000 SoldatInnen, darunter 13.000 „high readiness troops“. Das war die bisherige „Speerspitze“. Außerdem unterhält die NATO weitere 15.000 „follow-on forces“, deren Verlegung länger in Anspruch nehmen würde.[3] Als Funktion der NRF war definiert: der „Einsatz als eindringende Truppe zu Beginn, um die Ankunft größerer Nachfolge-Verbände zu erleichtern“ [4].
Die neue Truppe erhält den kabarettreifen Titel „Very High Readiness Joint Task Force“, abgekürzt nicht VHRJTF, sondern lediglich VJTF. Die Größenordnung wird wahlweise mit 3.000, 4.000, 5.000 oder 6.000 SoldatInnen angegeben. Das liegt daran, dass die Größe einer „Heeresbrigade“ innerhalb der NATO mit der Bandbreite 3.000 bis 5.000 definiert ist. Hinzu kommen jedoch noch See- und Luftstreitkraftkomponenten. Die Führungszentrale der VJTP soll in Stettin angesiedelt werden. Sie soll in der Lage sein, den Einsatz von bis zu 60.000 Soldaten zu koordinieren – wo auch immer diese dann herkommen.[5]
Die ungeklärte Frage ist: Handelt es sich beim Aufbau der Ost-Truppe um einen zusätzlichen Truppenverband oder werden einfach Teile der bereits bestehenden NRF neu gelabelt?
Im ersten Fall würde die NRF „high readiness troops“ um eine weitere Brigade aufgestockt (von 13.000 auf dann ca. 18.000 SoldatInneen); auch die „follow-on forces“ könnten entsprechend um ¼ (auf dann 20.000) vergrößert werden. Wenn in Stettin sogar die volle Kapazität von 60.000 Soldaten geführt werden soll, müsste die NATO zu den ca. 5.000 VJHF-SoldatInnen weitere 55.000 „follow-on forces“ an die Ostgrenze verlegen.
Im zweiten Fall büßte die bestehende NRF offensive Kampfkraft ein, da Kräfte an der Ostgrenze des Bündnisses gebunden würden.
Die Arbeitsweise ist bisher, dass die NRF nicht in einer Kaserne zusammengezogen ist. Vielmehr melden die NATO-Mitgliedsstaaten jeweils ihre Kontingente, und in Manövern wird ihre Zusammenarbeit geübt. Die Truppenteile sind fest assigniert und können nicht für andere Zwecke eingesetzt werden. Das „Material“ (= schwere Waffen, Militärfahrzeuge usw.) lagert in den jeweiligen Ländern. Das sorgt(e) für die „nötige“ Flexibilität, da der Einsatzort nicht feststeht. Dieser kann schließlich überall sein. Diese Arbeitsweise verlangsamt andererseits den Verlegungsprozess. Denn es muss nicht nur das Personal, sondern auch das Material transportiert werden. Da die Lufttransportkapazitäten begrenzt sind, dauert das entsprechend länger, nämlich Wochen oder Monate (nicht 2-5 Tage!).
Ganz ohne feste permanente Stationierung von NATO-Truppenteilen scheint die VJTP jedoch gar nicht auszukommen. Die FAZ berichtete bereits am 31.8.2014: »So soll nach Auskunft eines hohen Beamten in den drei baltischen Staaten, in Polen und Rumänien je ein multinationaler Nato-Stützpunkt für Aufklärung, Logistik und Einsatzplanung entstehen. Gedacht ist an jeweils 300 bis 600 Mann, die „zu jeder Zeit“ im Land sein werden. Außerdem will die Nato für zunächst nicht begrenzte Zeit und auf rotierender Basis eine kleine Zahl von Kampftruppen in den fünf Staaten aufrechterhalten. Bei regelmäßigen Übungen mit mehreren tausend Soldaten soll die Verteidigung gegen russische Angriffe trainiert werden.« [6] Fünf NATO-Stützpunkte ergeben 1.500 bis 3.000 SoldatInnen. Ob diese bei der „Brigade“ schon mitgezählt sind? Auch die Rolle der seit einigen Monaten an der NATO-Ostgrenze permanent stationierten 600 Soldaten (=vier US-Heeresbrigaden) ist unklar. Sind sie als Teil der VJTP anzusehen? Denn auch diese gehorchen nicht der verkündeten Arbeitsweise, dass das Personal bei Bedarf eingeflogen wird. In diesem Fall ist es sogar heute schon da.
Wenn nun das Material für eine Brigade an der östlichen NATO-Grenze in Depots eingelagert wird, können die zugehörigen Interventionstruppen nicht mehr anderswo in der Welt eingesetzt werden bzw. nur sehr umständlich. Es sei denn, die NATO verdoppelte das Material. Ohne diese kostenintensive Maßnahme fiele die Schnelle Eingreiftruppe Ost für offensive Militäreinsätze in der Welt aus (was aus friedenspolitischer Sicht sicher nicht das Schlechteste wäre!). Die NATO hätte also weniger bzw. keine zusätzlichen Fähigkeiten zum Intervenieren, denn sie hätte in die „Alte NATO“ des Kalten Krieges (NATO 1.0) investiert und nicht in die Neue NATO (NATO 2.0), die seit 1991 formiert wurde und auf Interventionen außerhalb des NATO-Gebiets ausgerichtet ist. Die Fähigkeiten der NATO-Staaten, mit Luftangriffen einzugreifen (wie im Kosovo 1999 oder in Libyen 2011) wird durch die Planungen im Osten jedoch nicht beeinträchtigt.
Dass die Fähigkeiten zum globalen „Krisenmanagement“ von der NATO nicht ad acta gelegt worden sind, zeigt sich bei der Umsetzung des Rahmennationen-Konzepts. Dies ist ein von Deutschland initiiertes neues Organisationsmodell. Dabei schließen sich Mitgliedsstaaten zu einem Cluster zusammen, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Eine große Nation übernimmt die Führung und wird von kleineren NATO-Ländern mit einzelnen „Spezialfähigkeiten“ unterstützt. In Cardiff verkündete die NATO, dass Britannien mit sechs anderen NATO-Ländern eine neue schnelle Eingreiftruppe aufbaut: die Joint Expeditionary Force (JEF). Zwei andere (in der NATO-Gipfelerklärung anonym bleibende) NATO-Mitglieder haben eine weitere solche schnelle Eingreiftruppe ab 2016 zugesagt.[7]
Streit um die Grundakte NATO-Russland
Warum hat sich die NATO für eine solch komplizierte Lösung im Osten entschieden und errichtet nicht einfach Stützpunkte mit Personal und Material? Der Grund liegt laut Otfried Nassauer in der Uneinigkeit innerhalb der NATO: »Die westeuropäischen Kernländer der EU wollen keine Strategie der permanenten Spannung mit Russland. Im Gegenteil: Stabile, partnerschaftliche Beziehungen zu Moskau liegen im gegenseitigen Interesse. Washington und London« dagegen würden »Europa gerne mit den Kosten einer Dauerkrise mit Russland belasten« [8].
Die formale Auseinandersetzung wurde auf dem NATO-Gipfel um die Grundakte NATO-Russland geführt: Darin verspricht die NATO, keine Atomwaffen und auch keine substantiellen konventionellen Kontingente in den neuen NATO-Ländern zu stationieren.[9] Die jetzt konzipierte VJTF-Truppe würde nach Eigeninterpretation der NATO nicht richtig stationiert, sei insofern kein substantielles Kontingent.
Möglicherweise hat der Vertragspartner Russland jedoch ein anderes Verständnis von „substantiell“. Vor diesem Grund ist wichtig, die Truppenverbände genau zu zählen, die die NATO neu permanent stationiert.
Einige Mitgliedsländer wollten die Grundakte suspendieren, um volle Handlungsfreiheit gegen Russland zu haben. Aber die westeuropäischen Kernländer unter Führung Deutschlands setzten sich durch. Inwieweit die VJTF-Planungen nicht ohnehin gegen den Geist des Vertrages verstoßen, sei einmal dahin gestellt. Jedenfalls wurde Russland nicht wie in der Grundakte vorgesehen im NATO-Russland-Rat über die NATO-Pläne informiert. Da dieser offenbar nicht mehr tagt, erfuhr die russische Regierung davon sozusagen aus der Zeitung. Auf der anderen Seite hält Russland den Vertrag auch nicht mehr ein, denn mit der Angliederung der Krim wurde die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt.
Entsprechend unzufrieden sind Manche mit den Gipfel-Beschlüssen. Eric Gujer von der Schweizer NZZ kritisiert: »Die Nato hätte besser ein klares Zeichen gesetzt und den Partnerschaftsvertrag mit Russland aufgekündigt. Sie hätte sich die Option eröffnet, zu defensiven Zwecken Truppenverbände dauerhaft und in grösserer Zahl in Osteuropa zu stationieren. So stehen heute zwar rund 70 000 amerikanische Soldaten in Europa – hauptsächlich aber in Deutschland, Grossbritannien und Italien und nicht im Osten. Dies wird der Bedrohungslage nicht mehr gerecht.« (NZZ 5.9.2014)
NATO und Ukraine-Konflikt
Auch wenn der Ukraine-Konflikt den Gipfel prägte, hat die NATO zum eigentlichen Konflikt in der Ukraine gar nichts Substantielles beschlossen. Nur bekannte politische Statements wurden wiederholt, nicht zuletzt, dass es um eine Militärintervention Russlands in der Ukraine handele. In Wirklichkeit ist die NATO allem verbalen Säbelgerassel zum Trotz in der Ukraine eben gar kein sonderlich relevanter Akteur, zumal der Wirtschaftskrieg gegen Russland auch über die EU und weitere NATO-Mitgliedsstaaten organisiert wird. Genauso überlässt die NATO übrigens den Kampf gegen den Islamischen Staat einer Koalition der Willigen unter Führung der USA.
Weder beschloss die NATO in Cardiff einen konkreten Termin für die Aufnahme der Ukraine, noch werden NATO-Truppen dort stationiert. Allerdings werden die ukrainischen Eliteeinheiten, die bei internationalen NATO-Einsätzen beteiligt sind, „freigespielt“: So werden z.B. die 103 Ukrainer im Kosovo durch ungarische Soldaten ersetzt; am Afghanistan-Krieg sind nur noch 10 Ukrainer beteiligt [10]. Ansonsten versorgen die NATO-Mitglieder verwundete Militärs und »verstärken ihre Beratungspräsenz in den NATO-Büros in Kiew«, heißt es lediglich in dem Statement der NATO-Ukraine-Kommission. Recht allgemein wird von neuen Kooperationsprogrammen gesprochen, mit Fokus auf »command, control and communications, logistics and standardisation, cyber defence, military career transition, and strategic communications« [11]. Die eigentliche Waffenhilfe soll offenbar weiter bilateral erfolgen, wie im NATO-Beschluss erwähnt wird. Die Akteure sind also einzelne Mitgliedsstaaten wie die USA oder Britannien. Wer hier Waffen liefert bzw. entsprechende Zusagen gemacht hat, ist allerdings bisher nicht öffentlich. Harald Kujat, der frühere Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, bezweifelte zuletzt in der Talkshow von Maybrit Illner am 5.9.2014, dass es der ukrainischen Armee an modernen Waffen fehle, die Defizite lägen anderswo: »Gute Waffen machen noch keine gute Armee.«
Politische Bedeutung kommt jedoch in der aktuellen Situation dem schon länger geplanten NATO-Manöver in der Westukraine zu. Bei dem Manöver geht es eigentlich um die Zusammenarbeit bei NATO-Einsätzen wie in Afghanistan. Eine echte militärische Bedrohung steht das Manöver für Russland eigentlich nicht dar, aber darauf kommt es offenbar nicht mehr an. Weil aber die russische Führung der NATO auch nicht mehr für 5 Cent über den Weg traut, befürchtet sie, dass die 1.300 Manöver-Streitkräfte gleich in der Ukraine bleiben, also permanent stationiert werden. Also hat Russland parallel ein eigenes Manöver in Grenznähe zur Ukraine angesetzt. Das ist nun einmal die Logik des Kalten Krieges 2.0.
Aufrüstung kostet Geld: die Kriegsdividende
Der Kalte Krieg 2.0 ist natürlich aus Sicht der NATO-Führung eine hervorragende Gelegenheit, die Militärhaushalte in den NATO-Staaten anzuheben. Denn die beschlossene Schnelle Eingreiftruppe Ost gibt es nicht zum Nulltarif. Sie wird ein paar Milliarden Euro kosten.
Schon länger verlangt die NATO höhere Militäretats. Als Richtgröße soll jedes NATO-Mitglied mindestens 2% seines Bruttoinlandprodukts für sein Militär ausgeben. Das ist seit Jahren so verabredet, aber nur die USA, Britannien, Griechenland und neuerdings Estland halten sich daran. Selbst Frankreich und die Türkei geben inzwischen weniger aus. Da sich allen voran die deutsche Regierung in Cardiff sperrte, hat die NATO das Vorhaben nun auf 10 Jahre gestreckt: 2024 soll das 2%-Ziel dann erreicht sein. Würde das tatsächlich geschehen, prasselte auf das NATO-Militär ein warmer Geldregen von vielen Milliarden Euros ein. Damit wären nicht nur die Kosten für die geplanten Depots an der NATO-Ostgrenze gedeckt, sondern es ergäben sich neue finanzielle Spielräume für den Ausbau der Neuen NATO durch weitere schnelle Eingreiftruppen, neue Waffen für die Luft- und Seestreitkräfte, Cyberwar usw. Die eine oder andere Militärintervention wäre finanziert. Der NATO-Kritiker Jürgen Wagner von IMI spricht in diesem Zusammenhang von „Kriegsdividende“ [12]. Man ruft „Putin!“ und sammelt Euros für den nächsten Militäreinsatz in Afrika ein.
Deutschland müsste bei Realisierung des 2%-Ziels seine Militärausgaben von jetzt 32,8 auf 54,7 Milliarden € anheben, wie der Bundeswehrverband bereits ausgerechnet hat. Die deutsche Regierung wird dabei aber nicht nur von der NATO, sondern auch von deutschen Journalisten unter Druck gesetzt. taz-Korrespondent Donath forderte bereits im April 2014, Russland totzurüsten: »Alle EU-Staaten sollten gemeinsam beschließen, den Verteidigungshaushalt um mindestens ein Drittel anzuheben, parallel zum Aufstocken konventioneller Streitkräfte und technologischer Innovationen… Der Westen würde nur wiederholen, was US-Präsident Ronald Reagan in den 1980ern vorexerzierte. Totrüsten ohne Tote.« (taz 29.4.2014) Vor ein paar Tagen assistierte Welt-Kommentator Christoph B. Schiltz: »Die neue Nato-Strategie für Osteuropa wird zu heftigen Debatten über Verteidigungsausgaben führen. Auf die deutschen Steuerzahler dürften zusätzliche Milliarden-Belastungen zukommen. Aber das ist es wert.« (Welt 1.9.2014)
Die größeren Zusammenhänge werden eben immer noch in den deutschen Denkfabriken wie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) besser durchschaut: »Doch so bedrohlich die Ukrainekrise ist, sie ist nur ein Ereignis entlang des Krisenbogens, der mittlerweile von Osteuropa über den Mittleren Osten bis in den Maghreb reicht und der die NATO-Staaten mit der gesamten Bandbreite an Risiken von zwischenstaatlichem Krieg über instabile Staaten bis hin zu Terrorismus und Piraterie konfrontiert. […] Die NATO-Staaten stehen damit vor der Aufgabe, eine neue Balance zu schaffen, die die Bündnisverteidigung stärkt, ohne das Krisenmanagement zu schwächen.«[13]
Krisenmanagement? Ach ja, da ist ja noch der Afghanistaneinsatz. Aktuell sind immer noch über 40.000 (!) NATO-Soldaten in Afghanistan stationiert, und es ist rätselhaft, wie ohne Nutzung der nördlichen Transportroute über russisches Gebiet der „Abzug“ bis Ende 2014 bewerkstelligt sein soll. Aber kein Problem: Dann bleiben eben Ausrüstung und mehr SoldatInnen länger vor Ort und werden bei der Nachfolgemission tätig. Denn ab 2015 wird die ISAF zwar dann „Resolute Support“ heißen, aber hinter dem Firmenschild steht bekanntlich weiter die NATO. In Cardiff hat diese bekräftigt, dass sie weiterhin mit Militärausbildung und –beratung präsent bleiben will. Folgt man Eric Gujer von der Schweizer NZZ hat die NATO allerdings eigentlich Wichtigeres zu tun, denn »Europas Sicherheit heute nicht am Hindukusch verteidigt, sondern in den weiten Ebenen zwischen Dnjepr und Don.« (NZZ 5.9.2014) Da hat der gute Mann jedoch den aktuellen Kalten Krieg mit dem alten Kalten Krieg gegen die Sowjetunion verwechselt. Der Kalte Krieg 2.0 ist eben anders als der Kalte Krieg 1.0. Die Neue NATO ist nicht die Alte NATO von 1949-1990. Die Neue NATO ist nicht komplett auf Russland fixiert; ihr Aufgabenfeld schließt „Krisenmanagement“-Einsätze in Europa, Afrika und Asien weiterhin mit ein.
Putin hin, Ukraine her – den »NATO-Militärinterventionismus der Marke Afghanistan« [14] hat die NATO mit ihrem Strategiewechsel zum Kalten Krieg 2.0 und dem dazu gehörigen Beschluss, die „Sehr Schnelle Eingreiftruppe Ost“ aufzubauen, nicht zu den Akten gelegt. Die übrige NATO Response Force wird schließlich nicht aufgelöst. Vielmehr werden neue Schnelle Eingreiftruppen-Kontingente für das „Krisenmanagement“ geschaffen. Auch reine NATO-Luftkriege wie 1999 (Kosovo-Krieg) oder 2011 (Libyen-Krieg) bleiben möglich.
Anmerkungen-
http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/putin-reagiert-560/
- Auch meine eigene häufig vorgetragene Prognose, der Nordpakt werde kommen, hat sich damit als falsch erwiesen.
- http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_2013_02/20130220_130220-factsheet_nrf_en.pdf
- s. Cremer, Uli: Neue NATO: die ersten Kriege, Hamburg 2009, S.184
- http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nato-plant-fuenf-neue-stuetzpunkte-in-osteuropa-13127478.html
- http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nato-plant-fuenf-neue-stuetzpunkte-in-osteuropa-13127478.html
- Ziffer 67 und 68 der NATO-Gipfel Erklärung, siehe: http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm?selectedLocale=en
- Nassauer, Otfried: Notfalls ausbremsen, in: taz 6.9.2014; ausführlich s. „Russland und die NATO – Zu den Auswirkungen der Ukraine-Krise“, in: spw Heft 203, Ausgabe 4/2014, S.36-43, abrufbar hier: http://www.spw.de/data/203_nassauer.pdf
- Wortlaut der Grundakte: http://www.nato.diplo.de/contentblob/1940894/Daten/189459/1997_05_Paris_DownlDat.pdf
- „Ungarische Panzeraffäre“, FAZ 6.9.2014 bzw. http://www.isaf.nato.int/troop-numbers-and-contributions/index.php
- http://www.nato.int/cps/en/natohq/news_112695.htm?selectedLocale=en
- http://www.imi-online.de/2014/09/05/nato-gipfel-spagat-zwischen-russland-und-dem-rest-der-welt/
- http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/kurz-gesagt/nato-gipfel-der-notwendige-spagat-zwischen-buendnisverteidigung-und-krisenmanagement.html
- http://www.imi-online.de/2014/09/05/nato-gipfel-spagat-zwischen-russland-und-dem-rest-der-welt/
* Uli Cremer, GRÜNE FRIEDENSINITIATIVE; Hamburg, 7.9.2014
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