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Jürgen Trittin: "Wir hören heute nicht mehr bots, wir hören Franz Ferdinand" - Oskar Lafontaine: "Wer das Völkerrecht missachtet, dient dem Frieden nicht"

Regierungserklärung von Angela Merkel zum NATO-Gipfel und anschließende Bundestagsdebatte im Wortlaut

Im Folgenden dokumentieren wir die Regierungserklärung, die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 26. März 2009 anlässlich des 60 Geburtstags der NATO im Bundestag abgab, und die anschließende Debatte, bei der es zu einem demonstrativen Zwischenfall kam (siehe hierzu: "Der Bundestag debattiert über die NATO - Die Linke demonstriert").
Hier geht es außerdem zu einer kritischen Stellungnahme aus der Friedensbewegung: "Die NATO ist gefährlich ...".



In der Bundestagsdebatte sprachen in dieser Reihenfolge
*****

Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode
214. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf:
3.
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum NATO-Gipfel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine NATO-Erweiterung - Sicherheit und Stabilität mit und nicht gegen Russland
- Drucksachen 16/11247, 16/11971 -

Berichterstattung: Abg. Eduard Lintner, Abg. Markus Meckel, Abg. Dr. Werner Hoyer, Abg. Wolfgang Gehrcke, Abg. Kerstin Müller (Köln)
Beschlussfassung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überprüfung und Korrektur der Strategie beim Afghanistanengagement vor dem NATO-Gipfel in Kehl/Straßburg beginnen
- Drucksache 16/12113 -
Beschlussfassung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel für eine strategische Neuausrichtung nutzen - Neue Schritte zur Abrüstung und für gemeinsame Sicherheit einleiten
- Drucksache 16/12322 -
Beschlussfassung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
60 Jahre NATO - Deutschland muss sich in Diskussion über die Zukunft der NATO konstruktiv einbringen
- Drucksache 16/12433 -
Beschlussfassung

Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir freuen uns, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich am Ende der nächsten Woche Gastgeber des NATO-Gipfels, des Jubiläumsgipfels zum 60-jährigen Bestehen des Bündnisses, sein wird.

Es gibt für mich keinen Zweifel: Es wird nicht nur ein Jubiläumsgipfel, sondern vor allem ein in die Zukunft gerichteter Gipfel sein, ein Gipfel, auf dem die Weichen für die zukünftige Arbeit in der transatlantischen Partnerschaft und auch mit Blick auf unser vereinigtes Europa gestellt werden müssen. Dieser Gipfel wird auch ein Markstein für die deutsch-französischen Beziehungen sein.

Mir liegt sehr daran, dass wir diesen Gipfel heute richtig einordnen. Vielleicht hilft uns dazu ein Zitat aus einem Interview, das Albaniens Ministerpräsident Berisha am letzten Montag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben hat. Auf die Frage, was die NATO Albanien eigentlich bringen werde, antwortete er - ich zitiere -:

Das Ziel der Nato ist, dass aus Feinden Freunde werden. Da ist es doch ein großartiger Sieg, wenn das einst härteste Kommunistenland der Welt nun zur westlichsten Allianz zählt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

In diesen wenigen Worten wird die historische Dimension des bevorstehenden Gipfels zum 60. Geburtstag der NATO deutlich. Diese historische Dimension sollten wir, auch wenn sie Vergangenheit ist, niemals vergessen - gerade wir in Deutschland nicht.

20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist für uns heute ein Leben in Frieden und Freiheit im wiedervereinigten Deutschland und in Europa ganz selbstverständlich geworden. Aber diese Selbstverständlichkeit sollte sich nicht allzu sehr in unser Denken und Handeln einschleichen. Denn es ist und bleibt ein Schatz, in Frieden und Freiheit zu leben.

Für Frieden und Freiheit stand in den vergangenen 60 Jahren - gerade auch in schwierigen Zeiten - keine Organisation so klar und so verlässlich ein wie die Nordatlantische Allianz. Ich denke, die Erinnerung an Mauer und Stacheldraht genügt, dass wir heute über alle Parteigrenzen hinweg sagen können: Deutschland hat der NATO und der Solidarität unserer Verbündeten viel zu verdanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Trotz aller wahrlich nicht gering zu schätzenden Probleme können wir in diesem Jahr der Jubiläen feststellen: Das wiedervereinte Deutschland feiert 20 Jahre deutsches und europäisches Glück.

Präsident Sarkozy und ich waren von Beginn an davon überzeugt: Kaum ein Ort symbolisiert Sinn und Bestimmung europäischer und atlantischer Friedenspolitik so sehr wie der Brückenschlag über den Rhein. Gerade dort, wo sich Deutsche und Franzosen über Jahrhunderte hinweg als erbitterte Gegner gegenüberstanden, sind wir heute in enger Freundschaft verbunden und dem Frieden auf unserem Kontinent verpflichtet.

Mit Deutschland und Frankreich werden erstmals zwei Länder einen NATO-Gipfel gemeinsam ausrichten. Damit verbunden ist auch ganz konkret eine Reihe gemeinsamer, zukunftsgerichteter Schritte zwischen unseren Ländern in der Sicherheitspolitik.

Am Rande der Sicherheitskonferenz in München sind Präsident Sarkozy und ich übereingekommen, dass in Zukunft die deutsch-französische Brigade in beiden Ländern stationiert sein wird. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte ist es eine wahrhaft bewundernswerte Geste des französischen Präsidenten, dass deutsche Soldaten, wie er es in München sagte, nach Frankreich eingeladen sind. Herzlichen Dank dafür!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Sarkozy hat in den letzten Tagen sein Land wieder in die integrierten Strukturen der NATO zurückgeführt. Das ist ein Schritt Frankreichs, dessen Bedeutung wir gar nicht hoch genug einschätzen können. Es ist ein Bekenntnis zu einer NATO im 21. Jahrhundert. Parallel dazu hat die französische Präsidentschaft im vergangenen Jahr gemeinsam mit uns für die Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geworben, weil wir diese beiden Punkte - Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und das transatlantische Bündnis - in einer gemeinsamen Linie und einer gemeinsamen Richtung sehen.

Für die Bundesregierung gehören eine starke atlantische Sicherheitspartnerschaft und eine europäische Sicherheitspolitik untrennbar zusammen. Ich sage voraus, dass sich diese Zusammengehörigkeit in den nächsten Jahren noch sehr viel stärker zeigen wird, vielleicht auch zeigen muss. Wir freuen uns natürlich, dass gerade anlässlich dieses NATO-Gipfels der neugewählte amerikanische Präsident Barack Obama erstmals als amerikanischer Präsident in Europa und Deutschland sein wird.

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar habe ich gesagt: Transatlantische Partnerschaft heißt, dass wir gemeinsam analysieren, gemeinsam entscheiden und, wann immer möglich, auch gemeinsam handeln. Wir Europäer wissen einerseits um die Größe der Herausforderungen und die Brisanz der Krisen, sei es nun der Nahostkonflikt, sei es Afghanistan oder sei es das Nuklearprogramm des Iran. Wir wissen andererseits genauso um die Chancen, die in einer vertrauensvollen und starken transatlantischen Partnerschaft stecken, wenn sie sich in der konkreten Politik zu bewähren hat.

Was können wir nun von diesem NATO-Gipfel erwarten? Vorneweg dies: Die NATO braucht eine Anpassung ihrer Strategie an die neuen Herausforderungen; denn das aktuelle strategische Konzept der NATO stammt von 1999. Seither haben wir eine Fülle neuer Erfahrungen gemacht. Stellvertretend für diese stehen der 11. September 2001 und die daraus folgende ISAF-Operation in Afghanistan. Beim Gipfel muss deshalb die Überarbeitung des strategischen Konzepts in Auftrag gegeben werden, um deutlich zu machen: Die NATO gibt sich nicht nur mit dem Blick auf eine 60-jährige Erfolgsgeschichte zufrieden, sondern sie ist auch zu einer Neubestimmung des Kurses für die Zukunft bereit. Dabei muss es im Kern darum gehen, die wesentlichen Aufgaben der Allianz strategisch miteinander zu verbinden.

Im Zentrum des Bündnisses steht natürlich auch künftig das Bekenntnis zur Solidarität der Mitgliedstaaten. Ein Angriff auf ein Mitglied ist ein Angriff auf das Bündnis insgesamt; das ist die Verabredung. Diese Verabredung bleibt auch der Wesenskern der Allianz. Dieses Bekenntnis zur Solidarität erfordert heute neue Maßnahmen, andere Schritte als früher, zum Beispiel Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets. Genau an diese operative Realität muss das neue strategische Konzept anknüpfen: Es muss sie darstellen und entfalten und die Folgerungen daraus ziehen.

Diese neue operative Realität erfordert ein neues Verständnis von Sicherheit und der Herstellung von Sicherheit. Dieses neue Konzept nennen wir - ich glaube, parteiübergreifend akzeptiert - das Grundprinzip der vernetzten Sicherheit. Dieses Grundprinzip der vernetzten Sicherheit muss Eingang in die strategische Ausrichtung der Allianz finden.

Ich glaube, am Beispiel Afghanistan wird jedem klar, dass ein Erfolg nur möglich ist, wenn die NATO mit ihren militärischen Mitteln Teil eines umfassenden und kohärenten Ansatzes zugunsten der Stabilisierung des Landes ist. Zu diesem Ansatz gehört die ganze Vielfalt von zivilen Aktionen und Maßnahmen zugunsten einer guten Entwicklung des Landes. Dieses Grundverständnis, das wir jetzt in Afghanistan entwickelt haben, wird aber in Zukunft nicht ein Einzelfall sein, sondern muss zum strategischen Allgemeingut der NATO, also der Allianz, werden.

(Dr. Peter Struck (SPD): Richtig!)

Der Erfolg der NATO wird immer mehr von ihrer Fähigkeit zur Vernetzung ihrer militärischen Instrumente mit vielfältigen Partnern abhängen, etwa mit anderen in politischen Krisenlösungen eingebundenen Organisationen. Die NATO muss dieses Verhältnis definieren. Sie steht nicht einfach über diesen Organisationen, sondern ist Teil einer vernetzten Sicherheit, zum Beispiel mit den Vereinten Nationen, mit der OSZE, mit der Europäischen Union oder mit der Afrikanischen Union genauso wie mit zivilen Kräften der Entwicklungspolitik oder mit Nichtregierungsorganisationen. Das hört sich einfach an, ist aber vergleichsweise revolutionär, sowohl auf der Seite derer, die militärische Aktionen durchführen, als auch auf der Seite derer, die im zivilen Bereich engagiert sind. Deshalb muss dies durchgeführt, entwickelt und dann auch mit Leben erfüllt werden.

Ich füge hinzu: Das strategische Konzept wird auch klar die Grenzen des Wirkungskreises der Allianz aufzeigen müssen. Ich sehe keine globale NATO. Die Allianz ist und bleibt vornehmlich auf die kollektive Sicherheit der nordatlantischen Partner konzentriert. Sehr wohl heißt das heute auch, dass sie Sicherheit gegebenenfalls außerhalb ihres Bündnisgebietes sichern muss. Aber das heißt eben nicht, dass Staaten rund um den Globus Mitglieder werden können, sondern dass dies von Mitgliedstaaten aus dem transatlantischen Raum geleistet wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, nun ist es wie immer: Manche warnen davor, allzu intensiv über das strategische Konzept zu diskutieren, da natürlich unterschiedliche Auffassungen der Verbündeten zutage treten könnten. Ich glaube, davor sollten wir und davor dürfen wir keine Angst haben; denn die Allianz kann bereits an eine starke Reformtradition anknüpfen. Bereits früher wurden viele wichtige Anregungen auch von außen aufgenommen. Diesen Weg sollten wir auch diesmal gehen. Deshalb setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass der Generalsekretär bei der Erarbeitung des neuen Konzepts von einer Gruppe ausgewiesener Experten unterstützt wird.

Wir brauchen den unverstellten Blick auf das strategisch Notwendige, und dabei muss von Anfang an klar mitgedacht werden, dass die NATO auch ihre Strukturen für die Aufgaben der Zukunft fitmachen muss. Anders als zu den Zeiten des Kalten Krieges, als der wesentliche Punkt die Abschreckung war, als die NATO-Kräfte glücklicherweise nicht militärisch aktiv werden mussten, haben wir heute Operationen zu bewältigen, in denen militärische Aktivitäten notwendig sind. Wenn man die Klagen des NATO-Generalsekretärs hört, wie schwierig es ist, Ausrüstung und Ähnliches zusammenzubekommen, dann wird einem klar, dass ein solches strategisches Konzept auch sehr praktische Aufgaben erfüllen muss.

Die Aufgaben ergeben sich in Europa und Amerika gleichermaßen aus den neuen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir müssen heute an die Parallelität schwieriger, oft ganze Regionen destabilisierender Konflikte denken, an die Gefahren des transnationalen Terrorismus, an zunehmende Proliferationsrisiken, an die sicherheitspolitischen Auswirkungen von Umweltproblemen, an die Sicherung unserer Energieversorgung oder an Fragen des Zugangs zu begrenzten Ressourcen. Weder Amerika noch Europa können diese Herausforderungen alleine meistern. Kein Land auf der Welt kann heute die Probleme alleine lösen. Das muss die Grundlage unserer Zusammenarbeit sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Weil diese Herausforderungen so vielfältig sind, ist es natürlich auch Aufgabe der NATO, alles daranzusetzen, dass möglichst viel Prävention auf der Welt betrieben wird, damit es nicht zu dem Punkt kommt, an dem nur noch militärische Mittel helfen können. Auch das ist ein ganz wichtiger Ansatz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Unsere zukünftige Sicherheit und unser Leben in Frieden und Freiheit werden deshalb in ganz entscheidendem Maße von zweierlei abhängen: zum einen davon, wie eng wir Europäer unseren Zusammenhalt mit den Nordamerikanern gestalten, und zum anderen davon, ob wir die großen Zukunftsthemen der globalen Wirtschaft, der Sicherheit und der Umwelt gemeinsam gestalten können. Vor diesem Hintergrund wird die Entscheidung, das strategische Konzept der NATO zu überarbeiten, die übergeordnete Aufgabe dieses NATO-Gipfels sein. Das strategische Konzept soll zum nächsten NATO-Gipfel fertig sein. Es wird also keine unendliche Aufgabe.

Neben dieser Erarbeitung des strategischen Konzepts geht es aber auch um vier weitere Dinge, die ich hier nennen möchte.

Erstens. Afghanistan - das wissen wir alle - ist die wichtigste aktuelle Bewährungsprobe für die NATO. Führen wir uns nur zwei Zahlen vor Augen: Die NATO hat derzeit etwa 70 000 Soldaten in verschiedenen Operationen, davon sind allein rund 50 000 in Afghanistan eingesetzt. Wir werden zu Afghanistan in der nächsten Woche ein Treffen der Außenminister der ISAF-Truppensteller und der Vertreter weiterer in Afghanistan engagierter Organisationen in Den Haag durchführen, um dem Thema auch beim Gipfel der Allianz breiten Raum zu geben. Wir erwarten dabei vor allem Aufschlüsse über die neuen strategischen Linien in der Afghanistanpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika. Für mich bleibt unser grundsätzliches Ziel klar, an dem wir auch den Erfolg zu messen haben: Von Afghanistan darf nicht wieder eine terroristische Bedrohung der Sicherheit bei uns, das heißt bei den Mitgliedstaaten der NATO, ausgehen. Das ist die Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen gemeinsam mit allen anderen Partnern und Organisationen, die dort tätig sind, und vor allem mit den Afghanen selbst erreichen, dass das Land dauerhaft selbst für seine Sicherheit sorgen kann.

(Ulla Lötzer (DIE LINKE): Nach wie viel Jahren?)

Wir sollten uns erinnern: Afghanistan als ein in seinen staatlichen Strukturen nicht gefestigtes Land war der Ausgangspunkt und der Nährboden für die Attentate vom 11. September 2001.

(Dr. Peter Struck (SPD): Ja, so ist es!)

Weil es dort keinen funktionierenden Staat gab, war dies möglich. Daraus ist unser Engagement für Afghanistan entstanden; denn es hat unsere Sicherheit, die Sicherheit der Mitgliedstaaten der NATO, bedroht.

(Dr. Peter Struck (SPD): Richtig!)

Jetzt wissen wir, dass wir wirksame staatliche Strukturen aufbauen müssen. Wir wissen, dass dies Entschlossenheit erfordert. Aber wir haben auch erlebt, es erfordert mehr Geduld, als wir uns am Anfang vielleicht vorgestellt haben. Ich werde mich beim Gipfel dafür einsetzen, dass die beiden wesentlichen Prinzipien unserer Präsenz noch besser verwirklicht werden.

Zum einen muss die NATO ihr Engagement noch stärker mit dem anderer Organisationen verschränken. Ich unterstütze deshalb ausdrücklich - das macht die ganze Bundesregierung - die Arbeit des UN-Repräsentanten Kai Eide für eine bessere Gesamtkoordinierung aller zivilen Aktivitäten. Hier gibt es noch etliches zu tun. Wir sollten die Vereinten Nationen immer wieder darin bestärken, dass dies von entscheidender Wichtigkeit ist. Unser Prinzip bleibt richtig: Es wird keine dauerhafte Sicherheit gelingen ohne Wiederaufbau, und es wird keinen Wiederaufbau geben ohne Sicherheit.

Zum anderen gilt es vor allen Dingen, die Eigenverantwortung der Afghanen weiter zu stärken. Das heißt für mich vor allem, dass wir die afghanische Führung noch stärker in die Pflicht nehmen, damit diese alles, aber wirklich auch alles unternimmt, um ihr Land gut und effizient zu regieren, Kriminalität zu bekämpfen und vor allem mit aller Kraft gegen den unsäglichen Drogenhandel anzugehen. Das ist eine Erwartung, die wir an Afghanistan haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir als Allianz werden alles tun, damit die anstehenden Wahlen in Afghanistan gut und erfolgreich ablaufen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die amerikanische Regierung in ihre Strategie jetzt auch Pakistan einbindet. Ich erinnere daran, dass der Bundesaußenminister dies bereits während unserer G-8-Präsidentschaft eingeleitet hat. Es wird jetzt allerdings sehr darauf ankommen, dass wir die richtige Balance finden zwischen den Aspekten, die zwischen Pakistan und Afghanistan strategisch kohärent gestaltet werden müssen, ohne zu vergessen, dass nicht alle Probleme von Pakistan auch Probleme von Afghanistan sind. Es bleiben zwei unterschiedliche Länder.

Ich begrüße auch den amerikanischen Ansatz, sich stärker auf eine gute Entwicklung in den Regionen Afghanistans zu konzentrieren. Dies passt gut zu unserem im deutschen Verantwortungsbereich im Norden bereits praktizierten Konzept, Sicherheit mit der Kräftigung lokaler und regionaler Entwicklungen zu verbinden, wie dies auch der Verteidigungsminister bei seiner letzten Reise noch einmal deutlich gemacht hat.

Ich will in diesem Zusammenhang eines festhalten: Mit unseren bisherigen Leistungen in Afghanistan seit 2002 können wir Deutschen uns im Bündnis wirklich sehen lassen. Bundesregierung und Bundestag haben bereits in den vergangenen Monaten entschieden, die Truppenstärke der Bundeswehr im Rahmen unseres gültigen Mandats im Norden weiter zu erhöhen. Beim Polizeiaufbau bleiben wir der nochmaligen Stärkung unseres Kontingents verpflichtet. Über den Sicherheitsbereich hinaus bleiben wir, wie dies seit Jahren der Fall ist, mit bedeutenden Mitteln und wichtigen Projekten in Afghanistan engagiert. Ich werde dies auf dem Gipfel mit allem Nachdruck darlegen. Ich glaube, wir können uns mit unseren Leistungen sehen lassen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Soldatinnen und Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und Diplomaten danken. Sie leisten bei ihren schwierigen und gefährlichen Aufgaben eine ausgezeichnete Arbeit. Vor denjenigen, die in Afghanistan schwere Verwundungen davongetragen oder gar ihr Leben gelassen haben, verneigen wir uns. Ich denke, das sage ich in Ihrer aller Namen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE))

In den letzten Wochen wurde eine Debatte darüber geführt, mit wem in Afghanistan zusammengearbeitet werden kann und mit wem nicht. Meine Auffassung ist, dass mit allen, die unzweideutig Terror, Gewalt und feigen Attentaten gegen Vertreter der internationalen Gemeinschaft abschwören, zusammengearbeitet werden kann. Es kann und muss stärker mit denjenigen zusammengearbeitet werden, die ihr Land wieder aufbauen wollen, die die wesentlichen rechtsstaatlichen Prinzipien respektieren, wie auch immer sie sich nennen. Das gilt vor allem für die regionalen Stammesfürsten. Diejenigen aber, die den Wiederaufbau bekämpfen, die mit Gewalt und Terror drohen und die wesentlichen Menschenrechte mit Füßen treten, können für uns keine Partner sein. Sie müssen wir gemeinsam mit den Afghanen konsequent bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Zweitens. Ein wichtiges Thema beim Gipfel werden die Beziehungen der Allianz zu unseren Partnern im Osten und insbesondere zu Russland sein. Wir wollen auf dem Gipfel mit Albanien und Kroatien wieder zwei Länder als neue Mitglieder begrüßen. Ich bin zuversichtlich, dass uns der Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien hier keinen Strich durch die Rechnung macht. Ich hoffe, dass in naher Zukunft auch der mazedonische Beitritt möglich wird und nicht länger an einer Namensfrage scheitert. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil mir der Beitrittsprozess wichtig bleibt und ich nicht möchte, dass wir den Blick darauf verlieren. Ich sage ausdrücklich: Georgien und die Ukraine behalten eine Beitrittsperspektive. Die Tatsache, dass sich immer wieder weitere Länder aus freien Stücken um die Aufnahme in das Bündnis bemühen, zeigt die Attraktivität der Allianz.

Ich stehe weiterhin voll und ganz dazu, dass wir europäische Demokratien aufnehmen sollten, die gewillt und die fähig sind, zu unserer gemeinsamen Sicherheit beizutragen. Gerade wir Deutschen wissen noch gut, dass die freie Bündniswahl ein hohes Gut ist.

(Dr. Peter Struck (SPD): Ja, genau!)

Wir dürfen nicht zulassen, dass andere aufgrund ihres veralteten Denkens in Einflussräumen versuchen, dem mit einem Veto einen Riegel vorzuschieben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

In den Beziehungen zu Russland werden wir auf dem Gipfel auch förmlich die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit im Rahmen des NATO-Russland-Rates beschließen. Die Außenminister der Allianz haben diesen wichtigen Schritt bereits vorbereitet. Wir setzen als atlantische Partner darauf, dass sich Russland kooperativ verhält. Die NATO-Partner und Russland stehen zum großen Teil vor den gleichen sicherheitspolitischen Bedrohungen. Über diese sollten wir im NATO-Russland-Rat offen und im Geiste guter Zusammenarbeit sprechen. Ich bin sehr davon überzeugt, dass wir die Chance haben, gemeinsame Antworten zu finden, sei es zum Schutz vor zukünftigen weit reichenden Raketen von Regimes wie dem Iran, sei es bei Fragen der Proliferation oder der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Ich werde diese Fragen nächste Woche noch einmal ausführlich mit Präsident Medwedew beraten. Dabei werden wir auch über seine Vorschläge zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur sprechen.

Wenn es um Architektur geht, dann muss man sich, wie es so schön heißt, natürlich zunächst um das Fundament kümmern. Das Fundament in der Sicherheitspolitik heißt immer wieder Vertrauen. Genau dieses Vertrauen muss gefestigt werden, auch und gerade mit Blick auf Russland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir uns einmal anschauen, wie die Lage ist, stellen wir fest: Die Defizite liegen nicht in den Regeln, die wir für die Sicherheitspolitik in Europa haben, die übrigens in der OSZE gemeinsam mit Russland beschlossen worden sind. Wenn es ein Defizit gibt, dann ist es ein Defizit bei der Implementierung, das heißt bei den gelebten Regeln und nicht bei den geschriebenen Regeln. So sind aus meiner Sicht manche Konflikte rasch und leicht lösbar. Ich erinnere zum Beispiel an den Konflikt zwischen Moldawien und Transnistrien. Moskau könnte hier ein Zeichen seines guten Willens setzen. Das würde uns in vielerlei Fragen sehr voranbringen.

Ich sage ausdrücklich: Die Bundesregierung möchte eine gute und vertrauensvolle Partnerschaft mit Russland. Dies ist im deutschen Interesse, dies ist im europäischen Interesse, und dies ist auch im atlantischen Interesse. Russland hat schon jetzt eine wichtige Rolle in der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur. Die OSZE und der NATO-Russland-Rat existieren bereits als Foren. Ich schlage vor, dass wir auch in der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßige Konsultationen mit Russland aufbauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist auch im deutschen Interesse, dass der Dialog zwischen der neuen amerikanischen Administration und Russland wieder stärker in Gang kommt. Es besteht die Chance, dass sich jetzt eine enge und gute Partnerschaft entwickelt. Ich sage ausdrücklich: Die NATO will Russland als guten Partner. Wir sind seit 20 Jahren keine Gegner mehr. Die Zeit des Kalten Krieges ist unwiederbringlich vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Ich unterstütze ausdrücklich die Initiativen des Bundesaußenministers, das Profil der NATO in den Bereichen Abrüstung und Rüstungskontrolle zu stärken. Wir haben bereits auf unserem letzten Gipfel in Bukarest hierzu wichtige Festlegungen getroffen. Ich hoffe, dass wir diese bestätigen und ausbauen können. Die Perspektiven dafür sind vielleicht so gut wie lange nicht mehr. Wir können hoffen, dass es im nuklearen Bereich bald zu Fortschritten kommt, und zwar bei den Regelungen zur Reduzierung strategischer Atomwaffen und womöglich auch bei der Haltung der amerikanischen Regierung zum Atomteststoppabkommen.

Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zur nuklearen Teilhabe. Wir sollten gut aufpassen, dass wir Ziel und Weg nicht vermischen. Ich bleibe bei dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen. Sich diesem Ziel verantwortlich zu nähern, heißt, die richtigen Etappen zu fixieren und vor allen Dingen wasserdichte Prüfmechanismen zu etablieren, denen sich alle unterwerfen.

Die NATO hat ihr Nuklearpotenzial gegenüber dem Jahr 1989 bereits um rund 95 Prozent reduziert und die Bereitschaftsstrukturen der Nuklearwaffen gesenkt. Zugleich stellen wir aber fest, dass sich die Zahl der nuklearen Akteure und Arsenale ebenso wie die Risiken der Proliferation weltweit erhöht haben. Deshalb ist dies eines der großen Sicherheitsrisiken, denen wir entschieden und entschlossen entgegentreten müssen. Dies ist eine der Aufgaben, an deren Bewältigung auch Deutschland ein elementares Interesse hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Die Bundesregierung hat deshalb die nukleare Teilhabe in der Allianz im Weißbuch verankert, weil wir wissen, dass sie uns Einfluss im Bündnis, auch in diesem höchstsensiblen Bereich, sichert.

Im konventionellen Bereich ist der Erhalt des KSE-Systems ein großes Anliegen der Bundesregierung. Hier müssen die atlantischen Partner gemeinsam Russland noch von den Vorteilen einer kooperativen Politik überzeugen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass im Auswärtigen Amt demnächst eine Konferenz stattfindet, die gerade diesen KSE-Prozess wieder beleben und vorantreiben soll. Ich finde es gut, dass der Bundesaußenminister gerade dies zu einem Thema Deutschlands macht, damit wir den richtigen Weg forcieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Viertens. Fortschritte erhoffe ich mir beim Gipfel auch für die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Europäischen Union. Das Potenzial für die Nutzung von Synergien ist groß. Die jeweilige Politik, auch in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ist sozusagen aus der Taufe gehoben und gestärkt worden. Aber die Wahrheit ist: Wir müssen eine Vielzahl von Blockaden überwinden. Um es beim Namen zu nennen: Gerade die ungelösten Konflikte zwischen Zypern und der Türkei führen immer wieder dazu, dass in jeder praktischen Frage, in der eine enge Kooperation von NATO und europäischer Sicherheitspolitik notwendig wäre, Schwierigkeiten auftreten.

Wir sollten entschlossen und gemeinsam darauf hinwirken, dass diese Kooperation von EU und NATO endlich Realität werden kann; sei es im Kosovo, sei es in anderen Missionen, wo wir jedes Mal Stunden und Aberstunden damit verbringen, um irgendein Problem praktisch lösen zu können.

(Dr. Peter Struck (SPD): Sehr richtig!)

Die Vielzahl der mit dem Jubiläumsgipfel der NATO verbundenen Aufgaben ist unübersehbar. Eines sollten wir als Politiker hierbei nicht vergessen: Dieses Treffen in Straßburg, Kehl und Baden-Baden sollte in der vorgesehenen Form stattfinden können. Das ist nicht zuletzt auch denen zu verdanken, die durch ihre Arbeit den sicheren Verlauf dieses Gipfels ermöglichen. Ich meine die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern und auch die französischen Kollegen. Sie arbeiten mit großem Engagement und äußerst professionell zusammen. Wir haben ihnen schon heute Dank zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich ergänze ausdrücklich: Auch all diejenigen, die ihre Meinung gegen die Politik der NATO kundtun wollen, haben meinen Respekt, wenn sie sich beim Ausdruck ihres Protestes an die Regeln unseres freiheitlichen Rechtsstaates halten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich hoffe, dass sie dabei auch daran denken, dass es ganz entscheidend die NATO war, die über Jahrzehnte hinweg in und für Deutschland Frieden und Freiheit garantiert hat und damit auch Garant für das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit war und ist, das sie heute genießen.

Wir wollen für den NATO-Gipfel gute Gastgeber sein. Ich danke deshalb allen, die an den Vorbereitungen teilhaben: den Bundesministern des Auswärtigen, der Verteidigung und des Innern, der Landesregierung von Baden-Württemberg, den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern und ganz besonders den Menschen in Baden-Baden, Kehl und Straßburg, die sicherlich gute Gastgeber sind.

Ich hoffe, dass der Gipfel unser aller Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Sicherheitspolitik schärfen wird, die auch in unserer globalisierten Welt in guten Partnerschaften gestaltet ist und Frieden und Freiheit für uns alle schützt. Um Frieden und Freiheit wird es auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten der transatlantischen Wertegemeinschaft der NATO gehen. Deutschland wird seinen Beitrag dazu leisten.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der SPD und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für uns war die Nordatlantische Allianz immer mehr als ein Verteidigungsbündnis. Die NATO ist eine Wertegemeinschaft, und sie war stets Ausdruck unserer engen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese transatlantische Freundschaft ist viel mehr als ein Bündnis von Regierungen. Es ist die Freundschaft unserer Völker, die auf gemeinsamen Werten fußt.

Der Erfolg der NATO beruht auf zwei Säulen: auf dem Konzept der Unteilbarkeit von Sicherheit im euroatlantischen Raum und auf dem doppelten Ansatz aus militärischer Stärke und Vertrauensbildung durch Dialog und Kooperation. Auf beide Säulen kann die NATO weiter bauen.

60 Jahre nach der Gründung der NATO hat sich aber das sicherheitspolitische Umfeld fundamental verändert. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass sich auch die Bundesregierung für eine Überarbeitung des strategischen Konzeptes der NATO einsetzt.

(Beifall bei der FDP)

Es gehört zum Wesenskern der NATO, dass überall im Bündnis das gleiche Maß an Sicherheit herrscht, dass es innerhalb der Nordatlantischen Allianz keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit gibt. Das verleiht dem Bündnis seine Stabilität.

Wir wollen, dass die NATO nach einer schwierigen Phase in den euroatlantischen Beziehungen wieder zum zentralen Ort der sicherheitspolitischen Debatte wird. Wir wollen die Partnerschaft mit den USA neu beleben, innerhalb und außerhalb der NATO, in der Sicherheitspolitik, aber auch in allen anderen Fragen, die unsere Wertegemeinschaft insgesamt betreffen. Mit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten hat sich die Chance eröffnet, die transatlantische Partnerschaft neu zu begründen. Jetzt wäre der Moment, in dem die Drähte zwischen Washington und Berlin heißlaufen müssten und in dem wir die Chance nutzen sollten, die außenpolitische Revision durch die neue US-Regierung durch eigene Ideen und Vorschläge zu bereichern. Es ist nicht klug, den Meinungsbildungsprozess in den USA nur passiv abzuwarten. Das berühmte Fenster der Gelegenheiten ist jetzt geöffnet, und wir sollten die Gelegenheit jetzt ergreifen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU))

Meine Damen und Herren, wir wollen den Erfolg in Afghanistan. Es ist richtig, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dies zu einem Schwerpunkt Ihrer Regierungserklärung gemacht haben. Das ist nicht Altruismus, sondern das liegt in unserem ureigenen Interesse. Kabul darf nie wieder die Hauptstadt des Terrorismus in der Welt werden. In dem Augenblick, in dem wir als westliches Bündnis Afghanistan aufgäben, wäre Kabul wieder die Hauptstadt des Terrorismus in der Welt. Deswegen liegt unser Engagement im eigenen, im deutschen, im europäischen Interesse.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Walter Kolbow (SPD))

Notwendig sind natürlich die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und der Polizei vor Ort sowie der Aufbau einer funktionierenden Justiz. Notwendig ist - da sind wir alle einig - der zivile Aufbau. Wir wenden uns dagegen, einen Widerspruch zwischen zivilem Aufbau und militärischem Einsatz zu konstruieren. Kein Krankenhaus könnte gebaut werden, kein Brunnen würde gebohrt und keine Schule für Mädchen eröffnet werden, wenn nicht unsere Soldatinnen und Soldaten für die Sicherheit der dort Arbeitenden sorgen würden.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Wir wollen auch zukünftig für die NATO keine Universalzuständigkeit in Sachen Sicherheit, weder materiell - da haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, recht - noch geografisch. Die primäre Verantwortung für den Weltfrieden bleibt bei den Vereinten Nationen. Vorstellungen, die NATO könnte sich zu einer Art Ersatz-UNO der Demokratien dieser Welt entwickeln, erteilen wir eine klare Absage.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Aber ebenso unzweideutig stellen wir fest: All diejenigen, die die Zerschlagung der NATO immer wieder gefordert haben, müssen heute anerkennen, dass die NATO den Frieden auf der Welt sicherer und eben nicht unsicherer gemacht hat.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Was die NATO ohne Zweifel braucht, ist ein stärkeres Denken und Handeln in Kategorien der vernetzten Sicherheit. In Afghanistan erleben wir, dass der sicherheitspolitische Fortschritt natürlich von Erfolgen im zivilen Bereich abhängt. Dem muss die NATO im Einsatz stärker Rechnung tragen. Zudem muss die NATO in ihrer strategischen Ausrichtung den nicht militärischen Ursachen für Bedrohungen stärkere Bedeutung beimessen.

Wir wollen, dass der europäische Pfeiler innerhalb der NATO gestärkt wird. Das heißt nicht zuletzt, dass wir die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter ausbauen, um einen stärkeren europäischen Beitrag - nicht in Konkurrenz zur NATO - einbringen zu können. Die Rückkehr Frankreichs in die Kommandostrukturen der NATO wird diesen Prozess ohne Zweifel befördern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

Wir wollen eine NATO, die Abrüstungsinitiativen und Rüstungskontrolle wieder stärkeres Gewicht beimisst, nuklear und konventionell. Deswegen wünschen wir uns, Frau Bundeskanzlerin: Von dem kommenden NATO-Gipfel sollte das Signal ausgehen, dass die NATO die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten für eine drastische Reduzierung des atomaren Potenzials insgesamt unterstützt. Neue Raketenstationierungen und die Modernisierung der Arsenale lehnen wir ab. Wir haben in den nächsten Jahren die Chance, die Abrüstung voranzubringen und eine Aufrüstungsspirale noch rechtzeitig zu verhindern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Verhältnis zu Russland hat für die NATO weiterhin eine besondere Bedeutung. Wie leicht alte Reflexe aufleben können, hat 2008 die Georgien-Krise gezeigt. Weil wir einen solchen Rückfall nicht zulassen dürfen, muss die NATO ihre Strategie gegenüber Russland überdenken. Wir begrüßen die Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates, mit der auf diesem Gipfel begonnen werden soll.

Das Gleiche gilt für die Erweiterungsstrategie der NATO. Sie gehört eingebettet in eine Gesamtstrategie, die auf einen Mehrwert an Stabilität und Sicherheit abzielt. Erweiterung ist für die NATO kein Selbstzweck. Die demokratische und rechtsstaatliche Reife neuer Mitglieder ist die Grundvoraussetzung für deren Aufnahme.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die NATO muss in jedem Einzelfall die Frage beantworten, ob einerseits eine Aufnahme für das Bündnis mehr Sicherheit bedeutet und ob andererseits die NATO dazu in der Lage ist, die Beistandsverpflichtung glaubhaft auf ein neues Mitglied auszuweiten.

(Beifall bei der FDP)

Wir wünschen der Bundesregierung für den NATO-Gipfel, der symbolträchtig in Frankreich und in Deutschland stattfindet, viel Erfolg. Denn das ist keine Frage von Opposition und Regierung, sondern eine Frage, die Deutschland, Europa und den Frieden in Freiheit betrifft.

Seit 60 Jahren leistet die NATO den entscheidenden Beitrag zur Sicherheit und Freiheit ihrer Mitglieder. Dass die NATO im Kalten Krieg die Freiheit schützen konnte, ohne ihr Militär einsetzen zu müssen, hat sie zum erfolgreichsten Bündnis aller Zeiten gemacht. Jetzt müssten die strategischen Weichen für die NATO so gestellt werden, dass das Bündnis auch in Zukunft erfolgreich ist.

Bei allem Respekt vor denen, die diesen Gipfel jetzt zum Anlass nehmen, gegen die NATO zu demonstrieren: Es war die NATO, die dafür gesorgt hat, dass diese Demonstrations- und Meinungsfreiheit überhaupt bei uns möglich wurde und erhalten blieb.

Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Walter Kolbow (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Frau Bundeskanzlerin, dies ist ein Jubiläumsgipfel, dies ist ein Freundschaftsgipfel zusammen mit Frankreich; aber es ist auch ein Zukunftsgipfel. Die in der Regierungserklärung dargelegte Analyse und die damit verbundenen Schlussfolgerungen werden von meiner Fraktion geteilt. Wir legen auch im Zusammenhang mit dem, was Sie, Herr Kollege Westerwelle, dargelegt haben, Wert auf folgende Aussage: Für Deutschland gehört die NATO weiterhin zu den wichtigen Grundpfeilern unserer Sicherheitspolitik. Als Bundesrepublik Deutschland, als wiedervereinigtes Land sind wir in diesem Wertebündnis ein berechenbarer und verlässlicher Partner.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben den albanischen Ministerpräsidenten erwähnt. Ja, es ist ein Vorteil der NATO gewesen, dass aus Feinden Freunde wurden. Aber man muss in diesem Bündnis auch Freunde bleiben können. Jeder muss dazu seinen Beitrag leisten. Man muss auch bereit sein, Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen und sie untereinander auszutauschen. Sie haben darauf hingewiesen: Es kann nicht sein, dass an einem von einem NATO-Partner ausgehenden Namensstreit die Aufnahme eines wichtigen kleinen Landes wie Mazedonien, das sich um die Integration von Ethnien bemüht und seinen Beitrag leisten will, scheitert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich denke, dass wir - ich bin einer derjenigen gewesen, der während und nach dem Kosovo-Krieg im Auftrag der Bundesregierung humanitäre Hilfeleistungen in Mazedonien, in Albanien und im Kosovo selbst zu koordinieren hatte - das quälende Ereignis des Kosovo-Krieges auch nach zehn Jahren, betrachtet man Lösungsmöglichkeiten in vergleichbaren Regionen, noch nicht haben überwinden können. Wir müssen in diesem Zusammenhang in den Sudan schauen. Wir müssen sehen, dass es die Auseinandersetzungen in Gaza gab und dass es auch im Südkaukasus zu einem Krieg gekommen ist. Es ist wichtig, dass die Institutionen der NATO, der Europäischen Union und der OSZE zusammenwirken und als eine Präventionseinrichtung vorgehen können. Es bedarf der ausstrahlenden Wirkung des Bündnisses der NATO als Wertegemeinschaft, aber auch als Präventionsgemeinschaft. Deswegen braucht sie mittlerweile auch einen zivilen Rahmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir bekräftigen sowohl unsere Solidarität und Geschlossenheit als auch unser Bekenntnis zu den gemeinsamen Visionen und Werten des Washingtoner Vertrages. Ich unterstreiche für meine Fraktion ausdrücklich, dass der Grundsatz der Unteilbarkeit der Sicherheit aller Bündnispartner von ausschlaggebender Bedeutung ist, wie es auch mein Vorredner sagte. Ich glaube, dass eine starke kollektive Verteidigung unserer Bevölkerung und unseres Gebietes, des Bündnisgebietes, das Kernziel bleibt und dass wir in diesem Zusammenhang die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen bekräftigen sollten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In der Tat, die NATO blickt auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurück. Sie war insbesondere in Zeiten der Ost-West-Konfrontation der zentrale verteidigungspolitische Rahmen für Deutschland und seine Partner. Allerdings war die NATO angesichts der prekären Sicherheitslage während des sogenannten Kalten Krieges stets zu notwendigen Anpassungen und Veränderungen bereit und fähig. Der Harmel-Bericht mit seinen Pfeilern der Sicherheit und Entspannung hat der NATO die Chance eröffnet, sich den veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen im Nachkriegseuropa anzupassen. Die politischen Folgerungen des Harmel-Berichtes flossen 1967 in die neue NATO-Strategie ein und haben die NATO auch als politisches Bündnis gestärkt. Deshalb hat unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier recht, wenn er jetzt und für die Zukunft gewissermaßen einen neuen Harmel-Bericht als Grundlage für eine grundsätzliche Verständigung über den künftigen Weg hinaus fordert.

60 Jahre nach Gründung des Bündnisses muss die NATO ihre Zukunftsfähigkeit, die sie oft genug bewiesen hat, zeigen. Ich denke, dass wir durch die Erörterung von Erweiterungsfragen und - das räume ich ein - auch durch die Schwierigkeiten, die wir bei der Bewältigung von Auslandseinsätzen immer wieder haben, eine ehrliche Aufgabendiskussion zu lange vertagt haben.

(Beifall der Abg. Uta Zapf (SPD))

Heute steht die NATO vor großen Herausforderungen. Die Bundeskanzlerin hat sie in der Regierungserklärung umfassend beschrieben. Es ist in diesem Zusammenhang für meine Fraktion wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir die Rückkehr der französischen Freunde in die militärische Integration der NATO begrüßen und dass dies natürlich auch eine Stärkung der NATO bedeutet: politisch wie auch in der Erfüllung ihrer Aufgaben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Die Erweiterung und die politischen sowie sicherheitspolitischen Veränderungen haben natürlich Auswirkungen auf die NATO als militärisches und politisches Bündnis. Das betrifft sowohl ihre Organisation als auch ihre strategische Ausrichtung. Mit der neuen amerikanischen Administration weht - das unterstreiche ich für meine Fraktion - ein frischer Wind durch das Bündnis und die ?strategic review?. Ich teile Ihre Auffassung, Herr Westerwelle, dass dies aktiv begleitet werden muss und dass wir jetzt auch die Kontakte mit unseren amerikanischen Freunden nicht nur nutzen, sondern sie auch intensivieren sollten, um unsere Auffassungen zu platzieren, damit dann im Zusammenhang mit dieser ?strategic review? auch eine Antwort des Bündnisses auf diese neue Strategie herauskommen kann und wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich glaube, dass die Unterstützung der Elder Statesmen sinnvoll ist. Kissinger, Perry, Shultz und Nunn haben der Abrüstungspolitik neuen Schwung gegeben, den nun die USA und Russland in der Abrüstungspolitik nutzen. Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr haben sich einschlägig geäußert und dienen einer möglichen Renaissance einer Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik, die die NATO als Präventionsbündnis dringend braucht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen - ich unterstreiche das, was meine Vorredner gesagt haben; ich bin aber sicher, dass wir auch andere Meinungen hören werden -, sich grundsätzlich auf Perspektiven für das nächste Jahrzehnt zu verständigen. Deswegen muss dieser Gipfel Auftakt für eine umfassende Zukunftsdebatte der NATO sein. Die angestrebte und öffentliche Zustimmung zum neuen Konzept erfordert - das richtet sich auch an die Bundesregierung - eine frühzeitige Rückkoppelung mit dem Parlament und eine bewusst initiierte und öffentlich begleitete Debatte. Jetzt haben wir die Chance, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesen Dialog einzubeziehen. Diese Chance dürfen wir nicht verstreichen lassen. Dieser Dialog gestaltet sich dank der Mitwirkung der Weisen, die Akzeptanzpersonen sind, günstig. Wenn das mit der Ausstrahlungswirkung dieser außen- und sicherheitspolitisch erfolgreichen Bundesregierung verbunden wird, dann werden wir der vorherrschenden Skepsis gegenüber einer größeren internationalen Beteiligung und einem größeren internationalen Engagement, insbesondere im Zusammenhang mit unseren Entscheidungen zu Auslandseinsätzen, die wir zu treffen haben, sinnvoll begegnen und öffentliches Verständnis für globale Zusammenhänge fördern können.

Die SPD-Bundestagsfraktion steht an der Seite einer aktiven Bundesregierung. Deswegen ist das für mich eine Zweibahnstraße: die Entwicklung der neuen NATO-Strategie und das Fitmachen des Bündnisses für eine Zukunft möglichst ohne militärische Einsätze. Es geht hier um ein Bündnis für Prävention, Sicherheit und die Werte der Demokratie: Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.

Ich danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Als die NATO nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, wusste die Staatengemeinschaft, dass Sicherheit nur gemeinsam zu erreichen sein würde. Die NATO wurde als Verteidigungsbündnis konzipiert und verpflichtete sich auf die Charta der Vereinten Nationen. In dieser Charta ist festgelegt, dass auf Gewaltanwendung verzichtet wird, außer im Verteidigungsfall. In dieser Charta ist festgelegt, dass selbst die Androhung von Gewalt kein Mittel der Politik sein soll.

In den 60er-Jahren diskutierte die NATO über die Strategie des Gleichgewichts. Ein ehemaliger Bundeskanzler hat dazu ein lesenswertes Buch geschrieben. Als im Zuge der Aufrüstung die Strategie des Gleichgewichts immer mehr hinterfragt wurde, verlor die NATO an Unterstützung, auch im Westen, in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland.

(Zuruf von der SPD: Im ganzen Westen!)

- Bitte schön: im ganzen Westen. - Es gab große Demonstrationen. Hunderttausende versammelten sich im Hofgarten und wiesen darauf hin, dass unter Bezugnahme auf die Theorie des Gleichgewichts die Überrüstung nicht mehr zu rechtfertigen gewesen sei. Sie wiesen darauf hin, dass es keinen Sinn macht, sich mehrfach vernichten zu können und solche Drohungen aufrechtzuerhalten. Sie forderten Abrüstung.

Ich erinnere daran, weil eines im Grunde genommen immer festzustellen war: In allen Reden wurde zwar die Abrüstung beschworen, aber in Wirklichkeit wurden permanent die militärischen Fähigkeiten, wie es so schön hieß, verbessert. Auch heute noch gehört es zur Wahrhaftigkeit, zu sagen: Die NATO, dieses Bündnis, das diesen Werten verpflichtet sein soll, ist verantwortlich für zwei Drittel der Rüstungsausgaben der ganzen Welt. Das stimmt mit dem, was erklärt wird, schlicht und einfach nicht überein.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach dem Fall der Mauer hat die NATO ihre Struktur entscheidend gewandelt. Sie ist nicht länger ein Bündnis, das der Verteidigung verpflichtet ist, sondern sie ist heute ein Interventionsbündnis, das völkerrechtswidrige Kriege und Kriege um die Öl- und Gasfelder des Vorderen Orients führt.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine wahrhaftige Debatte verlangt es, dass wir heute darüber reden. Diese NATO lehnen wir und viele andere ab, die demnächst demonstrieren werden, um sich für Frieden und Abrüstung einzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen diese NATO durch eine Verteidigungsgemeinschaft ersetzen, durch ein Bündnis kollektiver Sicherheit, das in erster Linie dem Frieden und der Abrüstung verpflichtet ist. Wir wollen ein kollektives Verteidigungsbündnis, das den Begriff der Entspannung wieder in den Vordergrund seiner Politik stellt, wie es bereits im Harmel-Bericht, der schon erwähnt wurde, gefordert worden ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist falsch, Spannungen zu verschärfen, zum Beispiel, indem man einseitig Raketen an der Grenze zu Russland stationiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen ein Bündnis, das auf Vertrauensbildung setzt, was ursprünglich einmal vorgesehen war. Es ist falsch, dadurch Misstrauen hervorzurufen, dass man entgegen den Versprechungen, die man beispielsweise Michail Gorbatschow im Zusammenhang mit der Einheit gegeben hat, Zug um Zug weitere Staaten Osteuropas in die NATO aufnimmt; denn dadurch werden alte Einkreisungsängste in Russland wieder wach. Das ist doch das Gegenteil von dem, was man versprochen hat. Das muss heute zumindest einmal angesprochen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen ein Bündnis, das die Zusammenarbeit, die Kooperation mit anderen wieder in den Vordergrund seiner Politik rückt; denn Sicherheit ist heute nur gemeinsam zu erreichen. Das gilt im Besonderen für Russland. Wir sind nach wie vor dafür, dass Russland die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis angeboten wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen, dass sich das Bündnis dem Völkerrecht verpflichtet fühlt. Für ein solches Bündnis könnten wir eintreten. Wir müssen das Völkerrecht wieder zur Grundlage der deutschen Außenpolitik und zur Grundlage der Bündnispolitik machen. Wir haben in den letzten Jahren das Völkerrecht zur Seite gelegt, wenn nicht mit Füßen getreten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie im Inneren eines Staates, so ist auch zwischen den Staaten das Recht die Grundlage des Friedens. Wer das Völkerrecht missachtet, dient dem Frieden nicht, sondern verschärft die Spannungen in der Welt und dient letzten Endes auch nicht den Sicherheitsinteressen unseres Landes.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Völkerrecht wurde im Jugoslawien-Krieg missachtet. Das Völkerrecht wird im Irak-Krieg missachtet. Das hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt und dieser Bundesregierung einen Bruch des Völkerrechts vorgeworfen. Warum redet man nicht darüber?

(Beifall bei der LINKEN - Rainer Arnold (SPD): Die NATO war nicht im Irak!)

- Ich komme gleich darauf zurück. - Das Völkerrecht wird auch in Afghanistan missachtet. Dort werden die Genfer Konventionen nicht beachtet.

Wenn man hier sagt, die NATO führt im Vorderen Orient Öl- und Gaskriege, stößt man auf Skepsis, teilweise auf Empörung. Um dies zu belegen, zitiere ich den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten in Amerika, John F. Kerry, der seine Kandidatur mit folgendem Vorhaben verknüpfte:

Wenn ich Präsident bin, werde ich alles daran setzen, alternative Treibstoffe und die entsprechenden Fahrzeuge der Zukunft zu entwickeln, damit dieses Land innerhalb von zehn Jahren vom Öl des Nahen Ostens unabhängig wird und unsere Söhne und Töchter nicht mehr für dieses Öl kämpfen und sterben müssen.

Kann man es klarer formulieren, dass es hier um Öl- und Gaskriege geht? Will man sich dieser Wahrheit einfach verschließen, und will man keine Konsequenzen daraus ziehen, meine Damen und Herren?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ist dies das viel beschworene Wertebündnis, das hier immer wieder angesprochen wird, ein Bündnis, das auch als gemeinsamen Wert anerkennt, sich mit militärischen Mitteln die Rohstoffe anderer Länder zu sichern? Ist dies die Grundlage dieses Wertebündnisses? Noch in den 80er-Jahren war klar, dass die deutsche Politik ihre Hand niemals zu einer solchen Politik reichen würde. Leider ist dieser Konsens der 80er-Jahre völlig verloren gegangen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre stand ein Begriff, der für mich einer der gefährlichsten, ja, wenn man so will, einer der schlimmsten der in der Politik in den letzten Jahren entwickelten Begriffe ist: der Begriff der humanitären Intervention.

Mit einem Satz haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, an die Opfer erinnert, meine beiden anderen Vorredner nicht, und deshalb erinnere ich an dieser Stelle für meine Fraktion an die Opfer. Im Jugoslawienkrieg sind nach unterschiedlichen Angaben 2 000 bis 3 000 Zivilisten Opfer der Bombardierung geworden. In Afghanistan sind im letzten Jahr nach internationalen Angaben über 2 000 Zivilisten ums Leben gekommen, 40 Prozent davon - entschuldigen Sie bitte, ich muss diese Zahl nennen - durch die militärischen Aktionen der NATO und ihrer Verbündeten. Warum reden wir nicht darüber? Warum kam das in einzelnen Reden überhaupt nicht und bei der Kanzlerin lediglich in einem Nebensatz vor? Die Zahl der Toten im Irak geht in die Hunderttausende, wenn nicht über die Jahre hinweg in die Millionen.

An dieser Stelle frage ich noch einmal: Was heißt humanitäre Intervention? Es heißt Dazwischengehen aus Gründen der Menschlichkeit. Diese gesamte Strategie ist total unglaubwürdig, weil beispielsweise jetzt in jedem Jahr 10 Millionen Kinder an Unterernährung sterben, wegen Seuchen und Wasserverschmutzung, weil jedes Jahr 12 Millionen Menschen sterben, die an Krankheiten leiden, die heilbar sind. Wenn wir wirklich humanitär intervenieren wollten, hätten wir hier an dieser Stelle die Möglichkeit, viele Leben zu retten, ohne andere Menschen ermorden und töten zu müssen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Deshalb ist der Begriff der humanitären Intervention, wenn er das Militärische mit einbezieht, kein Begriff, auf den man die Außenpolitik stützen kann. Deshalb macht er denjenigen moralisch unglaubwürdig, der immer wieder mit zu verantworten hat, dass die großen Menschheitsaufgaben, die mit viel geringerem Aufwand zu lösen wären, ohne dass man andere Menschen ermordet und umbringt, nicht angegangen werden, während er beim Militärischen sofort bereit ist, das Humanitäre in den Vordergrund zu rücken und umfangreiche Mittel dafür aufzuwenden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Deshalb genügt es nicht, wenn wir immer wieder an die Soldatinnen und Soldaten erinnern, die selbstverständlich nicht selbst entschieden haben, diese Aufgabe zu übernehmen; auch dies stelle ich hier einmal klar. Sie sind dort, weil wir dies beschlossen, weil der Deutsche Bundestag diesen Auftrag erteilt hat, und selbstverständlich haben sie eine schwierige Aufgabe, die Anerkennung findet. Aber wir stehen in der Verantwortung, diese Aufgabe zu hinterfragen.

Wenn jetzt beispielsweise der amerikanische Präsident eine totale Kehrtwende macht und sagt, dieser Krieg sei nicht zu gewinnen, und hinzufügt, wir hätten auch eine Exitstrategie ins Auge zu fassen, dann wundere ich mich, dass darüber überhaupt nicht diskutiert wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Damit zeichnet sich doch eine totale Kehrtwende ab.

Wollen Sie erst dann die Konsequenzen ziehen, wenn die anderen sagen, nun bequemt euch bitte endlich, einmal umzudenken? Ich fordere hier für meine Fraktion den Rückzug der Truppen aus Afghanistan. Das ist es, was auch die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland nach wie vor will.

Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin hier denjenigen, die für eine andere Außenpolitik, für eine Friedenspolitik demonstrieren, Respekt gezollt hat. Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass sich die Demonstrantinnen und Demonstranten an die Regeln des freiheitlichen Rechtsstaates halten müssen. Dies möchte ich für meine Fraktion nachdrücklich unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das gilt aber nicht nur für die Demonstrantinnen und Demonstranten, sondern genauso für die Staaten, die diese Veranstaltung organisieren

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

und die das Demonstrationsrecht nicht in unzulässiger Weise einschränken dürfen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich grüße von hier aus diejenigen, die für den Frieden demonstrieren wollen. Ich appelliere an sie, die Regeln unseres Rechtsstaates zu beachten. Ich appelliere aber auch an die Regierenden, dafür Sorge zu tragen, dass eines der fundamentalsten Rechte, von dem jetzt so oft gesagt wurde, dass wir es der NATO verdanken, ausgeübt werden kann, nämlich das Recht auf freie Demonstration für Frieden und Abrüstung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lafontaine, ich glaube, mit einer solchen marktschreierischen Demagogie

(Lachen bei der LINKEN)

werden Sie dem Ernst des Themas nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wer so schreit und hinterher lacht, hat unrecht - so lehrt es ein Sprichwort, das ich in Kinderzeiten gelernt habe und das von seiner Gültigkeit, lieber Herr Lafontaine, nichts verloren hat.

(Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine (DIE LINKE))

Das sagt der deutsche Volksmund, und Sie sollten sich an manches, was der deutsche Volksmund lehrt, erinnern.

Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung von Chancen gesprochen. Jawohl, die NATO ist eine große Chance für Deutschland, und Deutschland und Europa brauchen dieses Bündnis. Deutschlands Interessen lassen sich ohne die NATO nicht schützen: Frieden in Europa, Freundschaft mit unseren Nachbarn, Sicherheit für Handel und Sicherheit für Reisen. In anderen Staaten gehören die nationalen Interessen zum parteiübergreifenden Konsens. In Deutschland ist das leider nicht ganz so. Hier steht oft schon allein der Begriff ?nationale Interessen? im Geruch politischer Unkorrektheit.

(Zuruf von der LINKEN)

Ich bin vollkommen anderer Ansicht. Ich glaube, das Wahren nationaler Interessen macht unsere Außenpolitik glaubwürdig und berechenbar. Deswegen halte ich es an einem Tag wie heute für angebracht, von deutschen und nationalen Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu diesen Interessen gehört die Erfahrung, dass es ohne die NATO in Deutschland keinen erfolgreichen Wiederaufbau gegeben hätte, dass es kein Wirtschaftswunder gegeben hätte und dass wir kein Leben ohne Angst hätten. Ohne die NATO - das sage ich vor allen Dingen an die Kollegen von der linken Fraktion - hätten die Bundesrepublik und Westeuropa Stalins Expansionsstreben und damit kommunistischer Diktatur und Misswirtschaft nicht widerstehen können. Das ist eine historische Tatsache.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ohne die NATO hätten wir nicht das Glück der Wiedervereinigung gehabt. Auch da sage ich an die Adresse der Linken: Ohne die NATO würden unsere Landsleute in den neuen Bundesländern heute nicht in Freiheit und Sicherheit leben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der LINKEN)

Das gehört zur Wahrheit der letzten 60 Jahre.

(Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Aha! Hat also die NATO damals in Leipzig demonstriert? War da also die NATO auf der Straße, ja?)

Ohne die NATO hätten wir auch nicht die Erfolge bei der Abrüstung, die wir zu verzeichnen haben.

Ich werde nie vergessen, dass ich dabei sein durfte, als der damalige Wirtschaftsminister Michael Glos vor zwei Jahren in Murmansk eine Anlage zur Verschrottung ehemaliger sowjetischer Atom-U-Boote eingeweiht hat. Deutlicher und augenfälliger kann tatsächliche Abrüstung nicht werden.

(Beifall des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Damals in Murmansk war ich stolz darauf, dass die Abrüstungsverhandlungen zu diesen Ergebnissen geführt haben, sodass wirkliche Abrüstung in Form von Verschrottung stattfinden konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Ramsauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Oh nein! Mein Gott, auch das noch!)

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):

Bitte sehr.

(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Die sitzt ganz links außen!)

- Aha. Das wusste ich nicht. Jetzt weiß ich es.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Herr Ramsauer, Sie haben ein interessantes Geschichtsverständnis. Sie sagten nämlich, dass die NATO in der DDR auf die Straße gegangen ist.

(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Ach was! Aber Sie sind in der DDR auch nicht auf die Straße gegangen! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU: So ein Unsinn! - Was das wieder soll! - Oh! Oh!)

Das ist mir völlig neu.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen: Es waren die Menschen in der DDR, die diese massive Bewegung in Gang gesetzt haben, nicht die NATO. Außerdem haben Sie den Begriff ?Freiheit? verwendet und gesagt, die NATO habe ermöglicht, dass wir heute in Freiheit leben; das hat auch die Kanzlerin in ihrer Rede mehrmals erwähnt.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Stellen Sie jetzt mal bitte Ihre Frage! Kommen Sie endlich auf den Punkt!)

In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie:

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Na endlich!)

Wie weit ist es mit unserer Freiheit gekommen, wenn es heutzutage in Frankreich und in Deutschland nicht möglich ist, so wie wir es uns vorstellen, zu demonstrieren,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

weil das Demonstrationsrecht massiv eingeschränkt wurde, sodass es nicht mehr möglich ist, sich öffentlich zu artikulieren? Das gipfelte darin - ich glaube, dass viele von Ihnen das gar nicht wissen -, dass in Frankreich sogar verboten wurde, die Friedensfahne, ein internationales Zeichen, aus dem Fenster zu hängen. Die Bevölkerung in Frankreich darf keine Friedensfahnen mehr aus dem Fenster hängen.

(Abgeordnete der Fraktion Die Linke halten Transparente und Fahnen hoch - Zurufe von der CDU/CSU: Was ist denn da los? - Was machen die denn?)

Wir solidarisieren uns mit diesem Protest und sagen: Wir wollen das Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen, und wir hoffen, dass am 4. April dieses Jahres viele Menschen nach Straßburg kommen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Räumen Sie jetzt erst einmal diese ganzen Klamotten weg. Ihnen, Frau Kollegin Hänsel, erteile ich einen Ordnungsruf,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Heike Hänsel (DIE LINKE): Wie bitte? Das ist ein Zeichen des Friedens!)

weil Sie bereits zum wiederholten Male gegen die auch mit den Mitgliedern Ihrer Fraktionsführung abgestimmten Mindestnormen eines vernünftigen parlamentarischen Umgangs verstoßen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich mache Sie vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass ich im Wiederholungsfall auch von meinem Recht, Sie von der Sitzung auszuschließen, Gebrauch machen werde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Diese Mätzchen haben mit Parlamentarismus überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):

Herr Präsident, wenn Sie gestatten, fahre ich in meiner Rede fort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Genau! Bloß nicht darauf eingehen! Einfach weitermachen!)

Ich möchte mir nur eine Bemerkung erlauben - ich bitte, diese Ausführungen mit Blick auf die Geschäftsordnung als Antwort zu behandeln; denn dann werden sie nicht auf meine Redezeit angerechnet -:

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Klaus Uwe Benneter (SPD), zur CDU/CSU gewandt: Er hat das ganze Theater durch die Zulassung der Zwischenfrage doch erst ermöglicht! - Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

- Ich habe die Zwischenfrage zugelassen; das ist richtig. Das spricht für Liberalität und Toleranz. - Liberalität und Toleranz wären heute ohne die NATO nicht möglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der Linken, zu dem, was auf Ihren Transparenten steht - ich habe die Begriffe "Frieden", "Peace" und "Pace" gelesen -, kann ich nur sagen: Die größte Friedensgarantie und Friedensmacht war in den letzten 60 Jahren die NATO. Darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das wussten die Deutschen, wie ich den Ergebnissen einer Umfrage entnehmen konnte, schon vor 20 Jahren. Damals waren 86 Prozent der Deutschen für die NATO. Nach einer Umfrage des letzten Jahres zum German Marshall Fund halten heutzutage immerhin noch 62 Prozent der deutschen Bevölkerung die NATO für unentbehrlich. Jawohl, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat recht. Sie von der Linken haben unrecht. Wir sind stolz auf die NATO.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hermann Otto Solms (FDP))

Meine Damen und Herren, dank der NATO kann Deutschland, kann Europa auch mit Russland eine Nachbarschaft auf Augenhöhe pflegen. Der Georgienkrieg und der Gaskonflikt haben gezeigt: Russland ist in der Tat kein einfacher Partner und Nachbar. Es ist dennoch gut, dass der NATO-Russland-Rat seine Arbeit wieder aufgenommen hat. Selbstverständlich müssen wir NATO-Partner uns aber untereinander abstimmen, bevor wir mit Russland beraten. Das gibt großen und kleinen NATO-Partnern gleichermaßen die Gewissheit gleicher Sicherheit. NATO und EU stehen im Verhältnis zu Russland vor ähnlichen - um nicht zu sagen: vor gleichen - Herausforderungen. Sie sollten aus genau diesem Grunde eine gemeinsame Russlandstrategie verfolgen.

Die NATO ist nicht nur für Europa und Deutschland eine Chance, sondern auch für die Vereinigten Staaten und Kanada. Die einzig verbliebene Weltmacht USA wird mit den Problemen der Welt auch nicht alleine fertig. Jede Auseinandersetzung, selbst wenn sie mit militärischen Mitteln geführt werden muss, ist ein Wettstreit um Rückhalt, ein Kampf um die Köpfe; wer hier verliert, hat keinen Erfolg. Im Wettstreit um die öffentliche Meinung hat ein Bündnis natürlich die besseren Chancen als jeder einzelne Partner für sich.

Die Entwicklung von einer bipolaren zu einer polyzentrischen Welt geht unvermeidlich und unvermindert weiter. In diesem Kontext vervielfacht ein solches Bündnis den Einfluss, den jeder Partner für sich allein haben könnte. Die Liste der Themen, die diesseits und jenseits des Atlantiks unterschiedlich gesehen werden, ist lang: internationale Gerichtsbarkeit, Klimaschutz, Proliferation und viele Abrüstungsfragen. Bei manchen Aspekten bringt Präsident Obama Bewegung und Wandel; aber eines ist natürlich auch klar: Präsident Obama wird wie alle seine Vorgänger im Amt des Präsidenten amerikanische Interessen immer an erster Stelle schützen. Das müssen wir wissen.

Unser gemeinsames Interesse muss es sein, die transatlantische Partnerschaft zu festigen. Europa und Nordamerika sind sich bei der Analyse der Bedrohungen einig: Terrorismus, religiöser Fundamentalismus, zerfallende Staaten, internationale Kriminalität. Der Georgienkrieg hat die Möglichkeit zwischenstaatlicher Konflikte wieder in das Blickfeld der NATO gerückt. Die Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der NATO erleichtert jetzt die Kooperation zwischen ESVP und NATO. Ich glaube, das ist ein großer Schritt hin zu einer tragfähigen euro-atlantischen Sicherheitspartnerschaft.

Die NATO war und ist nicht nur ein Sicherheits-, sondern auch ein Wertebündnis. Ich halte es für unverzichtbar, darauf hinzuweisen. Herr Kollege Westerwelle, Sie haben Ihre Ausführungen dankenswerterweise mit diesem Aspekt begonnen, der zu sehr in Vergessenheit gerät.

Zu unseren gemeinsamen Wertvorstellungen gehört auch das Eintreten für freien Welthandel. Gerade in einer Zeit wie der heutigen, in der wir uns schwersten weltwirtschaftlichen Verwerfungen gegenübersehen, gehört nicht Abschottung zu den Rezepten, sondern gerade freier Welthandel. Auch dazu liefert die NATO einen wertvollen Beitrag.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sprechen vom transatlantischen Marktplatz, auf dem sich jeder ohne Hemmnisse am Handel beteiligen kann.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Europa und Amerika brauchen eine stabile NATO. Dafür muss gewährleistet sein, dass sich die NATO nicht überdehnt, dass sie sich in ihren Operationen nicht verzettelt und dass sie sich ständig strategisch modernisiert.

Die NATO nicht überdehnen heißt: Die Tür zur NATO ist zwar für neue Mitglieder offen - wir begrüßen Albanien im Bündnis; der Beitritt Kroatiens darf, wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, gesagt haben, nicht scheitern -; aber für alle Beitritte gilt, dass durch jeden Beitritt am Ende ein Mehr an Sicherheit für die gesamte Allianz geleistet werden muss.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das ist das Entscheidende!)

Die Bewerber stehen deshalb in der Pflicht, die Beitrittskriterien zu erfüllen. In meinen Augen erfüllen Georgien und die Ukraine diese Beitrittskriterien so schnell noch nicht, aber es gilt, dass sie weiterhin eine Beitrittsperspektive haben.

Die NATO darf sich nicht verzetteln. Die Bundeskanzlerin hat gesagt, dass natürlich die Grenzen des Wirkungskreises der Allianz aufgezeigt werden müssen. Das müssen wir immer klar im Auge behalten, und wir müssen vor jeder Operation sorgfältig und gewissenhaft prüfen, ob die Voraussetzungen für einen solchen Einsatz erfüllt sind. Dazu gehört auch, dass ein solcher Einsatz immer in ein zukunftsweisendes und erfolgversprechendes politisches Lösungskonzept eingebunden ist.

Die NATO muss sich strategisch ständig modernisieren. Dazu braucht es keiner neuen speziellen Expertenrunden, denn diese Arbeit kann innerhalb der gegebenen Gremien der NATO geleistet werden.

Meine Damen und Herren, wenn es die NATO nicht schon gäbe, dann müssten wir sie heute gründen. Wir gratulieren der NATO zum 60. Geburtstag. Ich glaube, wir können sagen: Wir gratulieren uns Deutschen zur NATO. Wir können es nicht oft und laut genug sagen: Wir brauchen die NATO als Deutsche, als Europäer und als Weltbürger für eine Zukunft in Frieden, in Freiheit und in Sicherheit.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält jetzt der Kollege Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, wir begrüßen es, dass Deutschland und Frankreich diesen NATO-Gipfel gemeinsam ausrichten. Das ist ein wirklich starkes Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft.

Gerade weil wir das begrüßen, wollen wir Ihnen aber doch etwas Nachdenkliches mit auf den Weg geben: Womit begann eigentlich die deutsch-französische Freundschaft? - Sie begann damit, dass beiderseits der Grenzen Menschen, wie übrigens auch der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl, damit angefangen haben, die Grenzzäune abzubauen. Ich frage mich deshalb in der Tat: Ist es eigentlich ein gutes Signal, dass wir jetzt entlang dieser Grenze zum ersten Mal seit Jahren wieder Grenzkontrollen haben und dass bestimmte Grenzübergänge tagelang gesperrt sind? Ich frage mich auch: Ist es wirklich ein gutes Signal, Teile der Einwohnerschaft von Kehl mehrere Tage quasi unter Hausarrest zu stellen? Ich finde, das ist eine falsche Begleitmusik zu diesem richtigen Event.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das ist aber kleine Münze! Fällt Ihnen nichts Besseres ein?)

Die NATO soll eine neue Strategie haben. Ich glaube, das ist nötig. Übrigens: Gerade weil man in einer neuen Situation lebt, muss das, was hier gerade zwischen Herrn Ramsauer und der Linksfraktion aufgeführt wurde, nicht immer wieder aufgeführt werden.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Ich habe das nicht bestellt! - Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Die haben das aufgeführt!)

An beide gerichtet: Wir haben nicht mehr die 80er-Jahre. Wir hören heute nicht mehr bots, wir hören Franz Ferdinand. Die Blockkonfrontation ist vorbei, und Sie bekommen das hier auch nicht gemeinsam wieder inszeniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sie haben Steine geworfen! - Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Ich sage nur: Mescalero!)

Die NATO hatte eine Funktion: Sie hat unsere Sicherheit gewährleistet. Nach Ende der Blockkonfrontation hatte sie übrigens noch eine weitere wichtige Funktion:

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Joschka Fischer würde sich für eine solche Rede schämen!)

Die NATO hat dazu beigetragen, dass es nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht zu einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik gekommen ist. Diese Verdienste sollte man auch nicht durch solche fahrlässigen Reden, Herr Ramsauer, infrage stellen.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Fahrlässig? Wer war denn ein Sicherheitsrisiko?)

Seitdem gibt es die Diskussion über die Sinnsuche und die neue Aufgabenstellung. Frau Bundeskanzlerin, ich habe versucht, sehr aufmerksam zuzuhören. Wenn ich die NATO wäre, dann müsste ich als rüstiger 60-Jähriger in Altersteilzeit, der auf der Suche nach einer neuen Aufgabe ist, sagen: Ich habe Ihren Worten keine wirklich neue Aufgabenbeschreibung entnommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dafür hätten Sie auch auf die Probleme eingehen müssen. Wie verhält es sich mit der Konkurrenz zwischen einer gestärkten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO? Ist es wirklich sinnvoll, dass die NATO, wenn die EU vor Somalia im Auftrag der Vereinten Nationen gegen Piraten kämpft, schnell mit ein paar Schiffen hinterherfahren muss, damit keiner merkt, dass sie bei dieser Aufgabe weder gefragt noch notwendig ist? Das ist falsch. Es ist reine Ressourcenverschleuderung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Von Ihnen war auch nichts zu der Frage zu hören, wie die Zukunft der Bundeswehr innerhalb der NATO aussehen soll. Wollen wir weiterhin an einer Wehrpflicht festhalten, die fast alle unsere NATO-Partner abgeschafft haben, die uns in vielerlei Hinsicht daran hindert, unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen und von der die Gerichte sagen, dass sie so, wie sie praktiziert wird, an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit stehe? Das wird demnächst vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt. Auf diese Fragen geben Sie keine Antwort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kommen wir zu den Fragen, auf die Sie Antworten geben. Zur Abrüstung zum Beispiel haben Sie erklärt, dass Sie Russland von den Vorzügen des KSE-Vertrages überzeugen wollen. Ich habe einen ganz einfachen Ratschlag, Frau Merkel: Ratifizieren Sie doch endlich den angepassten KSE-Vertrag! Dann haben Sie ein überzeugendes Argument, um Russland dazu zu bewegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Sie haben zur nuklearen Teilhabe gesagt, man dürfe den Weg und das Ziel nicht verwechseln. Ich habe nach Ihrer Rede den Eindruck, für Sie ist und bleibt der Weg das Ziel, nämlich die nukleare Teilhabe. Sie wollen, wie Sie wörtlich gesagt haben, nicht auf Ihren Einfluss im Bündnis auf den Einsatz von Atomwaffen verzichten. Das ist aber ein anderes Ziel als unseres, und es ist ein anderes Ziel als das, das Persönlichkeiten wie Henry Kissinger, Hans-Dietrich Genscher und selbst Helmut Schmidt in ihrer Global-Zero-Erklärung niedergelegt haben, nämlich die Welt von allen Atomwaffen zu befreien. Das ist das Ziel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es war auch eine Ohrfeige für die Nichtverbreitungspolitik, dass Sie die Aufrüstung Indiens - obwohl Indien außerhalb des Atomwaffensperrvertrages nuklear aufgerüstet hat - nun mit der Lieferung von Nuklearmaterial an Indien belohnen. Sie haben in Ihrer Rede festgestellt, dass sich die Proliferationsrisiken erhöht hätten. Nein, Frau Merkel, die Proliferationsrisiken sind nicht durch anonyme Mächte, die das Nichtverbreitungsregime unterwandert haben, erhöht worden, sondern durch Ihre Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Afghanistan ist ein weiteres Thema. Ich glaube übrigens nicht, dass die Zukunft der NATO an Afghanistan hängt. Afghanistan darf nicht scheitern. Ein Scheitern - darin stimme ich allen meinen Vorrednern mit Ausnahme von Herrn Lafontaine zu - hätte insbesondere für die Afghaninnen und Afghanen katastrophale Folgen. Ich kann das Gerede von der vernetzten Sicherheit - sei es im Dialekt der südhessischen Weinberge, sei es in Ihrem Templiner Timbre, Frau Bundeskanzlerin - nicht mehr hören. Ich möchte, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit innerhalb der NATO, das vor zwei Jahren beschlossen worden ist, umgesetzt wird: in Afghanistan, am Boden, jeden Tag. Das hieße, dass Sie die Zahl der Polizistinnen und Polizisten und der Polizeiausbilder endlich aufstocken. Die Europäische Union muss mindestens 2 000 Kräfte zur Verfügung stellen, mindestens 500 davon von deutscher Seite.

Wenn Sie die vernetzte Sicherheit ernst nehmen, dann muss der Skandal ein Ende haben, dass derzeit mehr Feldjäger als Bundespolizisten in der Polizeiausbildung beschäftigt sind. Das ist ein Versagen der Bundesregierung bei der vernetzten Sicherheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie die lokalen Kräfte stärken wollen, dann stellt sich die Frage, wie sich das mit dem Vorfall am vergangenen Wochenende vereinbaren lässt, als in Imam Sahib in der Provinz Kunduz das Gästehaus eines mit uns verbündeten Bürgermeisters - möglicherweise hat ihn auch Herr Jung bei seinem letzten Treffen mit den Stammesältesten getroffen - von einer Geheimdienstoperation der Amerikaner betroffen war. Nach EUPOL-Angaben - nicht nach NGO-Angaben - hatte diese Operation zur Folge, dass vier Personen entführt worden sind. Der Leibwächter, der Koch, der Fahrer und ein weiterer Angestellter des Bürgermeisters sind erschossen worden. Das alles hat im Norden Afghanistans stattgefunden, also dort, wo Deutschland Verantwortung trägt. Es ist ohne Zustimmung und Unterrichtung Deutschlands passiert. Wenn Sie von vernetzter Sicherheit reden, dann müssen Sie endlich dafür sorgen, dass mit solchen Kommandoaktionen, die den Erfolg der NATO-Operation massiv infrage stellen, in ganz Afghanistan und insbesondere dort, wo die Deutschen Verantwortung haben, endlich Schluss gemacht wird. Das ist die Herausforderung, wenn man über vernetzte Sicherheit redet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe den Eindruck, Frau Merkel: Sie sind auf die neue Zeit und die neue Administration in den USA überhaupt nicht vorbereitet. In München haben Sie sich in Ihrem Beitrag zum Iran auf die Frage nach neuen Sanktionen beschränkt. Mittlerweile bietet Barack Obama einen Dialog an. Der Iran nimmt nächste Woche an der Konferenz in Den Haag teil. In der heutigen Regierungserklärung begrüßen Sie den Besuch von Barack Obama in Europa. Letztes Jahr, als er vor dem Brandenburger Tor reden wollte - übrigens eine gute Rede -, waren Sie noch gar nicht so begeistert. Sie haben angesichts der aktuellen Situation einfach nicht verstanden, umzuschalten. Das, was die neue Politik der USA ausmacht, ist ein Angebot zum Dialog. Dazu gehört, zuzuhören. Dazu gehört aber auch, die eigenen Probleme und die Konflikte anzusprechen. Eine wortreiche Richtungslosigkeit - nichts anderes war Ihre heutige Regierungserklärung - hilft dabei überhaupt nicht. So werden Sie nicht zum Akteur der internationalen Politik. Das muss beendet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.



(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Herr Präsident! Liebe Frau Bundeskanzlerin, wenn man sich 60 Jahre NATO in einem Zeitraffer vor Augen führt, dann wird man zu folgendem Ergebnis kommen können: Zuerst stand Containment, die Eindämmung der Gefahren, die insbesondere von der damaligen Sowjetunion ausgingen, im Mittelpunkt. Dann kam die Phase der Entspannung, eingeleitet durch den Harmel-Bericht und die Politik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel. Dann kam die Öffnung der NATO. Lieber Kollege Lafontaine, bei all dem, was Sie mit Blick auf ein Geschichtsgemälde beschrieben haben, haben Sie offenbar vergessen - ich kann mich noch gut daran erinnern -, dass Sie es waren, der gesagt hat: Nehmt doch Russland bzw. die Sowjetunion in die NATO auf! - Wer sich wie Sie heute hier hinstellt und geradezu einen Schattenriss von Ängsten und Problemen im Zusammenhang mit der NATO deklamiert, der sollte sich bitte daran erinnern, was er selbst einst gesagt hat.

(Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Das hat er doch gesagt!)

Dann werden Sie zu einem ganz anderen Ergebnis kommen.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Das hat er doch gesagt!)

Es handelt sich hier um einen Lernprozess. Ich gestehe freimütig zu, dass ich ihn selber mitgemacht habe. Als die Mauer fiel, gab es in Europa Sorgen - daran kann ich mich noch sehr gut erinnern -: Wie wird sich Deutschland nun entwickeln? Wird Deutschland in der EU und der NATO, dem Verteidigungsbündnis, ein konstruktiver Partner und Nachbar bleiben? Oder werden sich möglicherweise diejenigen in Deutschland, die gegenüber der NATO und der EU kritisch eingestellt sind - dazu gehören auch Sie -,

(Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Wie früher der Kollege Weisskirchen!)

durchsetzen? Wird es möglich sein, Deutschland in den Allianzen des Westens fest zu verankern, oder wird Deutschland, wenn das nicht der Fall ist, einen Nationalisierungskurs einschlagen, der dazu führen würde, dass Deutschland wieder zu einer Gefahr für andere werden kann? Der Sinn der Allianzen, in die wir eingetreten sind und die wir festigen wollen, ist doch, dass Deutschland ein konstruktiver Nachbar ist und sich an Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Freiheit beteiligt. Das ist der zentrale Sinn jener westlichen Allianzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer das im Ernst infrage stellt, wer beispielsweise den Lissabon-Vertrag ablehnt, wer die NATO in der Form, wie es hier geschehen ist, angreift, lieber Kollege Lafontaine, der wird Fragen heraufbeschwören. Unsere polnischen und anderen Nachbarn werden fragen, was das für ein Deutschland ist, das sich aus den westlichen Allianzen herauszulösen versucht. Dann wird die Angst vor Deutschland wieder groß werden. Das müssen wir doch gemeinsam verhindern. Deswegen noch einmal: Der konstruktive Beitrag, den die Bundesrepublik Deutschland in jeder Phase der NATO - Eindämmung, Entspannung, Öffnung - geleistet hat, ist ein Beitrag zum Frieden in Europa und in der Welt. Darauf werden wir weiterhin aufbauen.

Jetzt kommt die entscheidende Frage - die Frau Bundeskanzlerin hat sie gestellt -, nämlich was das mit Blick auf die Zukunft heißt. Welche Form muss die NATO annehmen, in welche Richtung wird sie sich weiterentwickeln, und wie könnte die Überschrift über die nächste Phase lauten? Ich würde vorschlagen, sich zu überlegen, ob die NATO nicht wieder an die zweite Phase, die sie stark gemacht hat, anknüpfen kann. Ich meine damit, nach der Öffnung wieder zur Entspannung zurückzukehren und einen eigenständigen Beitrag dazu zu leisten. Entspannung fängt mit Abrüstung und Rüstungskontrolle an. Wir haben doch jetzt Verbündete auf der anderen Seite des Atlantiks, die genau dieses Ziel - ich erinnere an den Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama - vertreten. Obama ist einer derjenigen in den USA, die gesagt haben: Wir wollen eine von Massenvernichtungswaffen freie Welt. - Welchen besseren Bündnispartner können wir, die Bundesrepublik Deutschland und Europa, uns denn gemeinsam wünschen, damit diese Vision wieder zur Überschrift über das auch militärische Bündnis wird? Ich möchte bei all der Kritik, die wir an der NATO üben können, darum bitten, mit zu berücksichtigen - der Kollege Trittin hat eben darauf hingewiesen -, dass die NATO nicht nur die Renationalisierung verhindern kann, sondern dass sie auch bei der Öffnung gegenüber Osteuropa eine, wenn man so will, Reformorientierung der Militärs in den dortigen Staaten durchgesetzt hat. Das, was damals noch viel zu stark diktatorisch ausgerichtet war, ist durch den Einfluss der NATO-Partnerschaften demokratisiert und zivilisiert worden. All das sind Schritte, die uns gemeinsam geholfen haben, unseren Kontinent besser zu machen und dafür zu sorgen, dass von unserem Kontinent Frieden ausstrahlt.

Natürlich werden wir noch eine Reihe von Fragen beantworten müssen, die sich auf dem Wege, den wir zu bewältigen haben, stellen. Lassen Sie mich am Schluss einige ganz kurz nennen. Wollen wir künftig aktiver handeln, um zu Stabilität in solchen regionalen Konflikten beizutragen, die unsere Sicherheit existenziell bedrohen? Das ist eine ganz zentrale Frage. Ich meine, es wird dabei immer darauf ankommen, dass dann, wenn wir uns an solchen Konfliktlösungen beteiligen, unverrückbar im Mittelpunkt die Bindung unserer Handlungen an das eigene Recht, an die Verfassung und an das Völkerrecht stehen muss.

(Beifall der Abg. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Deshalb ist für uns ganz zentral, dass die Beschlüsse der UNO und des Weltsicherheitsrats die Legitimationsgrundlage für dieses Handeln sein müssen. Dass dies im Falle des Kosovo anders war, darf nicht als Begründung herangezogen werden, um sich künftig anders zu verhalten. Die damalige Handlung muss eine Ausnahme bleiben. Das Völkerrecht, die UNO-Charta und die Entscheidungen des Weltsicherheitsrats sind die Grundlagen für unser eigenes Handeln. Das muss und wird auch so bleiben. Es wird darauf ankommen, wie die Instrumente verbessert werden können, damit Europa und die Bundesrepublik Deutschland ein Faktor des Friedens, der Freiheit und der Solidarität bleiben bzw. wieder neu werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU))

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Der Kollege Dr. Rainer Stinner ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Rainer Stinner (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In vielen der bisherigen Reden ist davon gesprochen worden, welche Bedeutung die NATO für Deutschland hat. Dazu ist vieles Richtige und Wichtige gesagt worden.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Richtig!)

Ich möchte die Frage umdrehen: Welche Bedeutung hat Deutschland für die NATO, und wie wird diese Rolle ausgeführt? Ohne jeden Zweifel sind wir der zweit- bzw. drittgrößte und wichtigste Partner in der NATO. Füllen wir diese Rolle auch wirklich aus? Daran sind Zweifel angebracht.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Was?)

Es gibt eine ganze Reihe von Situationen, in denen auch wir als Parlamentarier mit Planungen der NATO konfrontiert werden, ohne das Gefühl zu bekommen, dass Deutschland bei diesen Planungen einen wichtigen Input gegeben hat. Ich möchte zwei Beispiele bringen:

Erstens. Gegenwärtig wird im Rahmen der NATO intensiv geplant, die Präsenz im Kosovo sehr deutlich zu reduzieren, und zwar von 14 000 auf - in 18 Monaten - 1 800 Soldaten. Das sind Planungen; ich weiß es. Unsere Frage an die Bundesregierung, was der deutsche Beitrag, wo die deutsche gestalterische Kraft ist, ist bisher vage, wenn überhaupt, beantwortet worden. Es ist wichtig, dass wir, Deutschland, als zweit- bzw. drittgrößter Truppensteller bei vielen Kontingenten unseren Einfluss in der NATO wirklich geltend machen. Die gestalterische Kraft Deutschlands in der NATO muss gestärkt werden.

(Beifall bei der FDP)

Zweitens. Die NATO-Response-Force, die NATO-Eingreiftruppe, ist gescheitert - das muss man so deutlich sagen -, und zwar konzeptionell und auch von der Ausführung her. Ich gebe zu, dass wir als Deutsche treu und brav auf Punkt und Komma unsere Aufgaben erfüllt haben. Jawohl, das ist richtig. Das nützt aber nichts, wenn wir feststellen müssen, dass das Konzept der NRF insgesamt gescheitert ist, und zwar nicht nur militärisch, sondern vor allen Dingen politisch. Fälschlicherweise ist auf einem NATO-Gipfel die militärische Einsatzfähigkeit der NRF konstatiert worden; aber spätestens ein halbes Jahr danach mussten wir feststellen, dass die politische Einsatzfähigkeit dieses Instruments nicht gegeben ist. Auch hier müssen wir als Parlamentarier und als Deutsche erwarten, dass die deutsche Bundesregierung deutlicher sagt, wie sie ein solches Instrument der NATO in Zukunft gestalten möchte. Dieser Input muss gegeben werden. Hier muss Deutschland nachlegen.

Deutschland kann seinen Einfluss in der NATO natürlich nur geltend machen, wenn dem eine breite außen- und sicherheitspolitische Debatte in unserem Lande vorausgeht. Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, Herr Verteidigungsminister, auch hier muss ich am Ende der Wahlperiode sagen: Deutschland hat seine Hausaufgaben in den letzten vier Jahren nicht gemacht. Sie hätten anlässlich der Debatte über das Weißbuch die Chance gehabt, eine breite gesellschaftliche Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik zu führen. Das haben Sie versäumt. Das Weißbuch vermodert in den Schränken; es wird kaum zur Kenntnis genommen. Auch hier im Deutschen Bundestag wird kaum darauf rekurriert.

Frau Bundeskanzlerin, meine Herren Minister, ich hoffe - damit möchte ich schließen -, dass die jetzige Debatte über das wichtige neue NATO-Konzept auch Sie, die Bundesregierung, endlich dazu bringt, die dringend notwendige grundsätzliche Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland anzustoßen und breit zu führen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält der Kollege Eckart von Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eckart von Klaeden (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hier sind auch Frauen! So viel Zeit muss sein!)

Mir fehlt die Zeit, auf alles einzugehen, was von den Oppositionsfraktionen hier vorgetragen worden ist. Ich will aber als vertrauensbildende Maßnahme dem Kollegen Trittin gegenüber ankündigen, dass jedenfalls ich auf Ihren Satz, die Wehrpflicht hindere uns daran, unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen, in den kommenden Wochen und Monaten zurückkommen werde. Auch Ihre Darstellung unserer Position zum AKSE-Vertrag halte ich für grundlegend falsch. Der Ansatz der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen ist es, in einer Zug-um-Zug-Ratifizierung dazu zu kommen, dass Russland seinen Verpflichtungen, unter anderem aus den Istanbul-Commitments, nachkommt. Sie treten jetzt für eine Ratifizierung ein, ohne dass Russland diesen Verpflichtungen nachkommt. Das halte ich für falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die NATO ist am 4. April 1949 gegründet worden. Sie ist eine Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gewesen. Der Zweite Weltkrieg ist nicht deswegen ausgebrochen, weil man mit Hitler zu wenig verhandelt hat oder weil man auf angebliche Anliegen von Nazideutschland nicht genug eingegangen ist - ich erinnere nur an das Münchner Abkommen von 1938 -, sondern er ist deswegen ausgebrochen - so jedenfalls die Überzeugung der Gründer der NATO -, weil man Nazideutschland nicht entschlossen entgegengetreten ist, weil die europäischen Staaten ihre Bündnisverpflichtungen, Polen gegenüber zum Beispiel, nicht haben erfüllen können oder wollen und weil die Vereinigten Staaten von Amerika sich nach dem Ersten Weltkrieg vom europäischen Kontinent zurückgezogen haben.

Daraus hat man die Konsequenz gezogen, dass die freien Nationen Europas und die Vereinigten Staaten ein dauerhaftes Verteidigungsbündnis eingehen müssen, das die Präsenz der Amerikaner in Europa als Garantiemacht für unsere Sicherheit und unsere Freiheit gewährleistet. Diese Erkenntnis ist nach wie vor richtig. Wenn wir uns aber das Statement des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay ansehen, der nach dem Grund für die NATO gefragt wurde und gesagt hat: ?It is to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down? - die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drin zu halten und die Deutschen niederzuhalten -, dann zeigt sich doch, wie sehr sich die NATO Gott sei Dank verändert hat. Wir können insbesondere darauf stolz sein, dass der 60. Geburtstag in Deutschland und Frankreich gefeiert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Die NATO hat sich weiterentwickelt. Die territoriale Verteidigung, die im Kalten Krieg für uns das Wichtigste gewesen ist, spielt für uns heute keine so große Rolle mehr. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es Bündnisstaaten gibt, die nach wie vor auf die Art.-5-Garantie zu Recht großen Wert legen. Das gilt zum Beispiel für die baltischen Staaten. Das gilt aber auch für die Türkei; das wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, dass Iran, Irak und Syrien zu ihren Nachbarn gehören.

Zur territorialen Verteidigung sind die Dimensionen der regionalen und der globalen Sicherheit hinzugekommen. Eine wichtige Erkenntnis aus der aktuellen sicherheitspolitischen Diskussion ist, dass diese unterschiedlichen Ebenen unserer Sicherheitspolitik nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sondern, im Gegenteil, einander ergänzen. Man kann globale Sicherheit nicht auf Kosten der regionalen Sicherheit gewinnen. Man kann territoriale Sicherheit nicht gewinnen, wenn man nicht auch die Dimensionen der regionalen und der globalen Sicherheit berücksichtigt. Der Satz von Peter Struck, dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, hat nach wie vor seine Gültigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD - Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Ein Witz!)

Für die regionale Sicherheit ist erstens die Erweiterung von NATO und Europäischer Union als Rahmen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden in Europa ein gutes Beispiel. Dafür, wie sehr dieser Rahmen gefährdet ist, auch auf regionaler Ebene, sind die Balkan-Kriege und wiederum der Kosovo-Einsatz Beispiele.

Weil der Kosovo-Einsatz so häufig von der Linkspartei angesprochen wird, will ich in diesem Zusammenhang auf das jüngste Urteil des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien verweisen, in dem Milan Milutinovic, der Nachfolger von Slobodan Milosevic als serbischer Präsident, freigesprochen worden ist. Das ist nicht bemerkenswert; denn jeder Angeklagte hat vor diesem UN-Tribunal das Recht auf einen fairen Prozess, und er bekommt ihn auch.

Interessant ist aber, was das Gericht im Rahmen der Verurteilung der anderen Angeklagten festgestellt hat, und zwar zum großen Teil aus serbischen Quellen. Es führt in seiner über 1 700 Seiten langen Begründung aus: Einheiten des serbischen Innenministeriums und serbische Truppen haben zwischen März und Mai 1999 mehr als 700 000 Albaner über die Grenzen des Kosovo getrieben. In Kosovo wurden ganze Landstriche verwüstet. Ein albanisches Dorf nach dem anderen ging in Flammen auf. - Es wurde belegt - wiederum durch serbische Quellen -, wie Belgrader Truppen Zivilisten ermordeten, die sich in Kellern, Wäldern, gar in Flussläufen versteckt hatten. Das Urteil zeigt auf, wie Menschen ertränkt wurden, indem man sie in Brunnenschächte warf. In dem Urteil wird ebenfalls deutlich, dass ein Großteil dieser Verbrechen auf die zusammengestellten Sondereinheiten der serbischen Polizei zurückgeht, die am schlimmsten wüteten. Sie waren zum Teil aus amnestierten Straftätern zusammengestellt. Diese Einheiten kennen wir bereits aus anderen Auseinandersetzungen, aus den Kriegen in Bosnien-Herzegowina.

Das bringt mich zu dem Massaker von Srebrenica 1995. Die dortigen Massenexekutionen - über 8 000 Männer und Jungen und auch einige Frauen sind ermordet worden - liefen nach einem typischen Muster ab: Zuerst wurden die Opfer in leerstehenden Schulgebäuden und Lagerhäusern interniert. Ihnen wurden Nahrung und Getränke verweigert. Sie wurden in Busse und Lastwagen verfrachtet und zu den Exekutionsräumen verbracht. Dort hat man ihnen die Augen verbunden und die Arme auf dem Rücken gefesselt. Man hat den Gefangenen befohlen, sich aufzureihen. Dann wurden sie erschossen. Sie fielen in die Massengräber. Diejenigen, die die Salven überlebten, wurden mit weiteren Schüssen getötet. Während die Exekutionen stattfanden, wurde schweres Erdräumgerät herangefahren, um die zum Teil noch lebenden Menschen mit Erde zu überdecken. Danach hat es mehrfache Umbettungen dieser Massengräber gegeben, um die Spuren zu verwischen.

Das sind alles keine Neuigkeiten. Das alles haben wir gewusst, als wir uns im Jahre 1999 schweren Herzens dazu entschlossen haben, durch einen Einsatz der NATO diesem Treiben ein Ende zu setzen, und diesem Treiben ist ein Ende gesetzt worden. Das ist unsere Entscheidung gewesen. Ihre Entscheidung ist es gewesen, dass Ihr heute noch amtierender Fraktionsvorsitzender am 14. April gut erholt und wohl gebräunt Herrn Milosevic umarmt und geküsst hat.

(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist die dritte Ebene, die globale Sicherheit, für die die NATO auch erforderlich ist und die unseren Einsatz im Bündnis rechtfertigt, nämlich den Einsatz in Afghanistan. Auf den einen Grund, warum dieser Einsatz für uns wichtig ist, ist immer wieder hingewiesen worden, nämlich dass Afghanistan Brutstätte, Vorbereitungsraum und sicherer Hafen für Terroristen gewesen ist und dass die Angriffe auf die Twin Towers und das Pentagon - übrigens auch über Deutschland - in Afghanistan ihren Ursprung genommen haben.

Der zweite Aspekt, warum Afghanistan für uns wichtig ist, missfällt Ihnen besonders. Es gibt zwei Daten, die für das Jahr 1989 von besonderer Bedeutung sind. Das eine ist der häufig zitierte 9. November 1989, an dem die Mauer gefallen ist. Ein anderes wichtiges Datum - nicht für unsere Region, aber für Afghanistan - ist der 15. Februar 1989, der Tag, an dem der letzte sowjetische Soldat Afghanistan über die Freundschaftsbrücke nach Usbekistan hat verlassen müssen. Zwischen beiden Daten besteht ein Zusammenhang. Da Sie aber mit diesen beiden Ereignissen nicht einverstanden sind, wundert es mich auch nicht, dass Sie sich so vehement dagegen wenden, dass wir den Fehler nicht wiederholen, der Anfang der 90er-Jahre gemacht worden ist, nämlich dass wir uns dafür einsetzen, dass Afghanistan ein so stabiles Land werden kann, dass die Taliban nicht wieder zurück an die Macht kommen können, sondern dass Afghanistan seinen eigenen Weg zur Demokratie auf der Grundlage universaler Prinzipien wie Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit finden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Uns ist klar, dass in den nächsten Jahren der Einsatz zur Verhinderung von Failing States - davon ist gesprochen worden -, aber auch der Einsatz zur Stabilisierung von Failing oder Failed States, also gescheiterten bzw. scheiternden Staaten, ein wesentlicher Teil unserer Sicherheitsvorsorge bleiben wird. Wenn diese Erkenntnis richtig ist, dann ist das, was von der Koalition vorgeschlagen wird und von der Bundeskanzlerin hier noch einmal betont wurde, die einzig richtige Konsequenz daraus, nämlich der Comprehensive Approach, der Ansatz der vernetzten Sicherheit, der besagt, dass nicht allein mit militärischen Mitteln für Frieden gesorgt wird, sondern diese mit dem zivilen Aufbau kombiniert werden. Ohne militärische Sicherheit ist kein ziviler Aufbau möglich. Aber militärische Sicherheit wird mittel- und langfristig nicht zu erreichen sein, wenn es die Komponente des zivilen Aufbaus nicht gibt. Beides ist untrennbar miteinander verbunden und aufeinander angewiesen.

Deswegen müssen wir auch darüber nachdenken - das soll mein letzter Satz sein -, wie wir auf europäischer Seite die Kapazitäten für diesen vernetzten Ansatz verbessern können. Es reicht nicht, ihn zu fordern; wir müssen unseren Forderungen und Reden auch Taten folgen lassen. Deswegen ist die Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration der NATO so wichtig, weil der ideologische Streit zwischen einer Außen- und Sicherheitspolitik in der EU und einer Außen- und Sicherheitspolitik in der NATO nun endgültig der Vergangenheit angehören kann. Wir müssen aber, wenn wir unseren eigenen Prinzipien folgen wollen, auch bereit sein, auf der zivilen Seite mehr als bisher zu tun.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang Gehrcke das Wort.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Eigentlich habe ich wenig Neigung, mich mit dem seltsamen Geschichtsbild des Kollegen von Klaeden, das nicht besonders begründet war, auseinanderzusetzen.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wir nehmen es zur Kenntnis!)

Wenn jemand heute immer noch nicht in der Lage ist, zu erkennen und hier auszusprechen, dass das Zusammenwirken von deutscher Rüstungsindustrie und deutschem Großkapital und die Verachtung von demokratischen Errungenschaften letztendlich zur Nazidiktatur geführt haben, halte ich das für rückschrittlich und wenig bemerkenswert.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich wollte aber an Sie appellieren, ein Stückchen Anstand auch gegenüber Kollegen, die anderer Auffassung sind, nicht zu verlieren. Mein Kollege Gysi ist nach Belgrad zu dem Gespräch mit Milosevic gefahren, um ihm deutlich zu machen: Wenn man den Druck auf die Albaner im Kosovo aufrechterhält, wird es zum Krieg kommen. Wenn die Gräueltaten nicht gestoppt werden, wird der Krieg die Antwort sein. - Gysi ist nicht hingefahren, um sich mit Milosevic zu umarmen, sondern um ihm zu sagen: Wer die UNO nicht holt, wird die NATO erhalten. - Ich finde, das verdient Respekt,

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

weil es eine andere Position war, als einen Krieg vom Zaun zu brechen. Diesen Respekt sollte man bei aller unterschiedlichen Auffassung auch hier nicht verlieren. Man kann das für falsch halten und muss diese Position nicht teilen. Ich fand jeden Versuch, den Frieden dort zu retten und zu bewahren, richtig. Man sollte auf jeden Fall unterstellen, dass es in vernünftiger und lauterer Absicht geschehen ist. Wenn nicht in dieser Art und Weise miteinander gesprochen wird, dann werden auch die Kalter-Krieg-Reden, die hier gehalten werden, nicht enden. Ich fand, Sie haben hier eine Kalter-Krieg-Rede gehalten, die uns überhaupt nicht voranbringt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden.

Eckart von Klaeden (CDU/CSU):

Herr Kollege Gehrcke, ich stelle bemerkenswerte Parallelen fest. Der erste Punkt: Unsere Analysen dessen, was zum Zweiten Weltkrieg geführt hat, verlaufen in der Tat diametral. Wir werden über die Ursachen sicherlich im Laufe des Jahres noch sprechen; es gibt ja das eine oder andere Jubiläum, bei dem man darauf noch wird hinweisen können. Ein Gedenktag wird sicherlich der 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes sein, den man aus guten Gründen als das Manifest des Antieuropa bezeichnen kann. Die Sowjetunion ist zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einer der wichtigsten Verbündeten Nazideutschlands gewesen.

(Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Deshalb ist sie auch überfallen worden!)

Vielleicht sprechen wir dann auch über die Frage, wer das heute noch leugnet oder in diesem Punkt die Geschichte verklärt.

(Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Ausweichmanöver!)

Das gilt auch für den zweiten Punkt, den Sie angesprochen haben. Sie haben wenigstens nicht infrage gestellt, dass Herr Gysi Herrn Milosevic umarmt und geküsst hat; davon gibt es auch entsprechende Filmaufnahmen.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Ein Niveau!)

Aber Sie hätten auch sagen können, dass Sie mit Ihren Initiativen in Wirklichkeit versucht haben, jeden ernsthaften Verhandlungsansatz,

(Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Das ist infam!)

um den wir uns wirklich bis zuletzt bemüht haben, zu unterlaufen. Ein guter Beleg dafür ist die Tatsache, dass die Massaker, die Verbrechen, die von serbischer Seite verübt worden sind, von Ihnen und Ihnen nahe stehenden Presseorganen nach wie vor verschwiegen, verniedlicht oder heruntergespielt werden.

(Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Wer hat denn die UCK verniedlicht?)

Genauso wie es eine Gemeinschaft der Demokraten gibt, gibt es in dieser Frage eine Übereinstimmung der Extremisten; diese Haltung ist exakt die, die auch von NPD und DVU vertreten wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Alexander Bonde das Wort.

Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Treffens der Regierungschefs sowie der Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Staaten nächste Woche im Badischen muss man sich entscheiden, ob man ein Klassentreffen zum 60-jährigen Jubiläum inszenieren will oder ob man die Frage aufwerfen will: Welche Rolle hat zukünftig die NATO, und mit welchem strategischen Ansatz reagiert das Bündnis auf eine völlig veränderte Welt?

Die Kanzlerin hat keine Antwort auf die Frage geliefert, wohin es mit der NATO gehen soll. Sie hat vor allem erneut keine Taten angekündigt und auch nicht signalisiert, was die deutsch-französischen Gastgeber zu tun gedenken, um einen Anstoß in Richtung einer neuen Strategie zu geben. Frau Merkel, sowenig Moderieren und Reden hilft, ein Land zu regieren - wir erleben auch in anderen Bereichen, dass Sie nicht handeln -, so wenig wird die NATO es schaffen, ihre neue Rolle zu finden, wenn man den anstehenden Gipfel auf Galadiners und ein Unterhaltungsprogramm der Weltklasse reduziert, wie es von der Bundesregierung in Baden-Baden inszeniert wird.

Auch in Sachen Afghanistan müssen Sie zeigen, ob Ihre Ankündigungen etwas wert sind. Sie haben erneut bekannt, wie wichtig der Aufbau ist, und haben eingefordert, das Bündnis müsse mehr tun. Ich sage Ihnen, weshalb Ihnen eine solche Argumentation ohne entsprechende Taten auf die Füße fällt. Sie setzen beim NATO-Gipfel 15 000 Polizisten aus den Ländern und über 6 000 Bundespolizisten ein. In anderthalb Tagen werden allein auf deutscher Seite mehr Stunden Polizeiarbeit abgeleistet, als Deutschland 2008 für die Polizeiausbildung in Afghanistan aufgewendet hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist eine Glaubwürdigkeitslücke, die durch die Kluft zwischen Reden und Handeln der Bundesregierung entsteht. Addiert man die Kosten für diesen Gipfel, so kommt man nahe an den Betrag heran, den Deutschland in einem Jahr für den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan ausgibt. Auch da tut sich eine Glaubwürdigkeitslücke auf. Eine schöne Sonntagsrede hier ist eben kein Beitrag zum Wiederaufbau in Afghanistan.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Fatale ist, dass Sie auf einen Gipfel der Symbole setzen. Das Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft, das hier ausgedrückt werden soll, zeigt sich vor Ort dadurch, dass die Grenze zum ersten Mal seit Jahrzehnten geschlossen ist. Es zeigt sich dadurch, dass Sie für einen zehnminütigen Fototermin auf einer Brücke über dem Rhein die Stadt Kehl zwei Tage lang zu einer Sicherheitszone machen und 700 Menschen unter Hausarrest stellen. Diese Symbole sind eben nicht Ausdruck der deutsch-französischen Freundschaft,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

sondern sie zeigen, wie weit Berlin vom Schwarzwald entfernt ist und wie wenig Ahnung Sie davon haben, was deutsch-französische Freundschaft vor Ort konkret bedeutet. Weder Abiturienten, die in Turnhallen ihr Abitur schreiben müssen, noch zwei Tage lang gesperrte Autobahnen und Bundesstraßen von 45 Kilometer Länge oder Menschen unter Hausarrest sind ein Symbol für Freiheit und Sicherheit. Sie sind vielmehr Ergebnisse einer auf Prestige gerichteten Planung der Bundesregierung, die lieber Pomp an drei unterschiedlichen Orten inszeniert, anstatt die Strategiedebatte in der NATO tatsächlich anzugehen. Das ist das eigentliche Versagen der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Dies ist ein Grund, sich bei den Bürgerinnen und Bürgern zu entschuldigen, aber kein Grund, sich in Lobhudeleien zu ergehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Rainer Arnold (SPD):

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der anstehende Gipfel der NATO, Herr Kollege Bonde, ist mehr als eine Familienfeier zum 60-jährigen Jubiläum.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ja, allerdings!)

Der Gipfel stellt wichtige Weichen für die Zukunft des Bündnisses, indem neue Mitglieder aufgenommen werden und Frankreich in die integrierten Kommandostrukturen zurückkehrt.

Herr Kollege Trittin, in der Rückkehr Frankreichs in die NATO liegt eine Chance, dass der Interessenkonflikt, der darin besteht, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Konkurrenz zur NATO zu sehen, eine Diskussion ist, die der Vergangenheit angehört. Auch unsere osteuropäischen Partner werden erkennen: Die Säule der europäischen Fähigkeiten stärkt die NATO. Ich möchte nicht von der Vision ablassen, dass es eines Tages sehr eng verzahnte europäische Streitkräfte als einen europäischen Pfeiler innerhalb des Bündnisses gibt.

(Beifall bei der SPD)

Innerhalb der NATO wird aber natürlich aufzunehmen sein, wie sich die Welt seit 1999 verändert hat. Ich glaube, es ist gut, dass der Außenminister einen Vorschlag für ein abgestuftes Diskussionsverfahren gemacht hat. Wir müssen bei der Weiterentwicklung der Strategie den Zeitdruck herausnehmen; denn unsere Partner im Osten brauchen ein bisschen mehr Zeit. Wir brauchen Raum für Diskussionen mit ihnen, ganz besonders nach den Ereignissen in Georgien.

Wir müssen im Hinblick auf die Strategiedebatte aufpassen, dass nicht alle neuen Herausforderungen, die in der Welt sichtbar werden, quasi automatisch innerhalb der neuen NATO-Strategie bewältigt werden. Die Kunst wird vielmehr in der Beschränkung liegen. Dies gilt vor allen Dingen für die Frage der Reichweite der NATO. Die NATO hat derzeit in der Welt einzigartige Fähigkeiten. Daraus dürfen wir aber nicht ableiten, dass wir am Ende die Einzigen sein können und sollen, die die Probleme der Welt lösen. Wir müssen mit dafür sorgen, dass die NATO die Gründung anderer regionaler Sicherheitsbündnisse durch ihre Kraft nicht verhindert, sondern dass diese durch die Expertise und die Fähigkeiten der NATO im logistisch-operativen Bereich gestärkt werden. So könnte die Richtung der NATO aussehen.

Bei all dem bleibt es aber dabei, dass Art. 5 des NATO-Vertrages die Strahlkraft der NATO ausmacht; dabei wird es bleiben. Dies sind die Ernsthaftigkeit und die Glaubwürdigkeit der Abschreckung; ich verwende diesen Begriff ganz bewusst. Am Ende wird dies dafür sorgen, dass wir in der Lage sind, wichtige Schritte zur Rüstungskontrolle zu machen. Dann kann mit den Partnern an den Rändern des Bündnisses gesprochen werden. Im Rahmen der Glaubwürdigkeit der Abschreckung kann man dann auch verstehen, dass Russland ein Sicherheitspartner in Europa sein muss, der eine enge Anbindung und Kooperation braucht.

Ein einziges Mal in den letzten 60 Jahren wurde Art. 5 als Beistandsverpflichtung und als Verpflichtung zur Solidarität in Anspruch genommen. Im Zusammenhang mit Afghanistan ist zunächst die Frage erlaubt: Gilt dies unbeschränkt, oder muss man nach acht Jahren nicht auch fragen, wann andere Mechanismen den Beistandsmechanismus ersetzen? Damit meine ich nicht, dass wir den Einsatz in Afghanistan beenden. Das ist keine billige Erklärung, wie es die Linken heute getan haben.

Herr Lafontaine, Ihre Rede beruhte nicht nur auf der Unwahrheit, sondern war auch billig. Sie löste die billige Theaterinszenierung auf Ihren hinteren Reihen aus. Unter diesen Fahnen hier werden sich in Baden-Baden eine Menge vernünftiger Menschen versammeln. Diejenigen, die für eine friedliche Welt auf die Straße gehen, haben im Übrigen auch in meiner Partei Platz. Sie beleidigen mit dieser billigen Argumentation zumindest einen Teil der Menschen, die sich auf der Straße für eine friedliche Welt einsetzen.

Ich begründe dies in zwei Bereichen. Sie rühren alles zusammen. Bei diesem Zusammenrühren verschweigen Sie glatt, dass die NATO nie im Mittleren Osten einen Krieg geführt hat. Der Einsatz im Irak war eine amerikanische Aktion mit freiwilligen Partnern. Sie wissen sehr wohl, dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung diesem Druck konsequent widerstanden hat. Der Einsatz der NATO in Afghanistan - da nehmen Sie es mit der Wahrheit überhaupt nicht ernst; der NATO-Einsatz umfasst nur ISAF - ist zu hundert Prozent durch zig Resolutionen der Vereinten Nationen klar mandatiert. Was wollen Sie eigentlich mehr? Nein, Sie wollen die Menschen täuschen; das ist das eigentliche Problem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es ist gut, dass sich der NATO-Gipfel sehr intensiv mit Afghanistan auseinandersetzt. Wir müssen aber aufpassen, dass die neue Strategie, über die zwangsläufig gesprochen werden wird, weil es eine neue Regierung in Amerika gibt, durchaus kritisch hinterfragt wird. Ich wäre schon froh, wenn statt des Führens immer neuer strategischer Debatten in Afghanistan endlich konsequent das umgesetzt würde, was wir gemeinsam mit der Mehrheit in diesem Haus als richtig erkannt haben. Das ist für mich der entscheidende Schritt. Dieser vernetzte Ansatz, von dem alle reden, muss mehr sein als ein politisches Postulat; er ist operativ notwendig.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu muss man in Kabul die NATO und die Vereinten Nationen enger verzahnen. Dazu muss jeder Helfer, auch die deutschen Helfer in Kunduz und in Faizabad, die Bundeswehr als ein Knoten in diesem Netz verstehen und akzeptieren. Ich fürchte, auch wir haben bis dorthin noch einen weiten Weg zurückzulegen.

Es ist richtig, in Afghanistan statt auf die zentrale Regierung viel stärker auf die regionalen und gewachsenen Strukturen, die Jirgas, als Teil der Zivilgesellschaft zu setzen und deren Rat in afghanisches Regierungshandeln einzubinden. Das ist im Übrigen die einzige Chance, das dortige Regierungshandeln auf Dauer zu verbessern. Auch die Korruption kann nur durch die Kontrollmechanismen der Zivilgesellschaft bekämpft werden.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wir müssen nicht zuletzt - ich könnte noch viele Beispiele nennen - die Einladung der amerikanischen Partner ernst nehmen - das hat der amerikanische Vizepräsident in München gesagt - und ihnen auch sagen, was wir nicht für richtig halten.

(Beifall des Abg. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Inkaufnahme von viel zu vielen zivilen Opfern ist für den Einsatz, den Auftrag und die Menschen in Afghanistan mehr als kontraproduktiv.

(Beifall des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Ereignisse in der letzten Woche, als es in Kunduz einen amerikanischen Einsatz gab, sind dem Parlament zu berichten. Wir sind froh, dass die Bundesregierung dies für morgen Vormittag angekündigt hat. Aber auch ohne heute die Details zu kennen, möchte ich sagen: Es kann nicht angehen, dass im deutschen Verantwortungsbereich zwei militärische Operationen parallel arbeiten und die deutsche Führung im Norden unter der ISAF nicht korrekt informiert und einbezogen wird. Das sagen wir auch den amerikanischen Partnern; das ist richtig und notwendig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollege Arnold, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Rainer Arnold (SPD):

Ich komme zum Ende.

Lassen Sie mich zum Schluss einen Satz anmerken. Manche meinen, Afghanistan sei der NATO unglaublich wichtig. Natürlich ist der Einsatz in Afghanistan im Augenblick die wichtigste Aufgabe der NATO. Wir sind aber nicht wegen der NATO und ihrer Erfolge in Afghanistan. Wir bleiben der Menschen wegen in Afghanistan, die auf eine gute Zukunft setzen. Immerhin 90 Prozent wollen eine Zukunft ohne Taliban. Wir bleiben auch in Afghanistan, weil es unseren Sicherheitsinteressen entspricht, keinen Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus zuzulassen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Afghanistan zerfallen würde -

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollege Arnold, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Rainer Arnold (SPD):

- und aus einem zerfallenen Afghanistan heraus versucht würde, Pakistan zu destabilisieren.

Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lamers für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre NATO, das heißt: 60 Jahre erfolgreiches Wirken und Handeln für Frieden und Sicherheit in der Welt. Dafür steht das Bündnis heute und in Zukunft. Ich danke unseren Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Geiste weltweit ihren Dienst leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Am 4. April 2009 feiert die NATO ihren 60. Geburtstag. Sie hat allen Grund, stolz darauf zu sein. Sechs Jahrzehnte sind ein erstaunliches Alter für ein Bündnis souveräner Nationalstaaten, erst recht für ein Bündnis souveräner Nationalstaaten von zwei Kontinenten. Als der Nordatlantikvertrag am 4. April 1949 unterzeichnet wurde, sagten nicht wenige der NATO nur eine kurze Lebensdauer voraus. Diese Skeptiker haben sich geirrt. Herr Lafontaine, die NATO lebt. Sie ist lebendiger denn je; und das ist wirklich gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die NATO ist heute das einzige funktionierende Sicherheitsbündnis weltweit. Sie war notwendig, als sie gegründet wurde, sie ist in den letzten sechs Jahrzehnten immer wichtiger geworden, und sie wird auch in Zukunft für die Sicherheit und den Frieden unentbehrlich sein.

Der anstehende Jubiläumsgipfel ist von besonderer Bedeutung. Zwei neue Mitgliedstaaten, Albanien und Kroatien, werden in das Bündnis aufgenommen. Nach 43 Jahren kehrt Frankreich in die integrierte Militärstruktur der NATO zurück - ein Gewinn für die Allianz, ein Gewinn für uns alle. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt am 20. Januar wird der neue amerikanische Präsident, Barack Obama, nach Europa reisen. Obama steht für Aufbruch, für Dialog, für Wandel und für die Erkenntnis, dass kein Land, nicht einmal die USA, die sicherheitspolitischen Herausforderungen alleine meistern kann. Der Jubiläumsgipfel ist daher ein guter Zeitpunkt, um den Blick nach vorne zu richten.

Wir stehen heute vor einer ganzen Reihe neuer Herausforderungen und Gefahren, Gefahren, die nicht an den Grenzen von Staaten haltmachen, sondern die ganze Welt bedrohen: internationaler Terrorismus, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Failed States - gescheiterte Staaten -, Cyberwar, Energieknappheit, Klimawandel und Trinkwasserknappheit. Diesen Herausforderungen muss sich die NATO stellen.

Entscheidend für die Stärke und Glaubwürdigkeit des Bündnisses ist der gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ausgangspunkt war der 11. September 2001, war Afghanistan. Dort wurden die Terroristen in Camps ausgebildet. Von Afghanistan darf nie wieder Terror ausgehen, der uns, unsere Städte und Gemeinden, erreicht. Deshalb ist ein Scheitern keine Option.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir müssen mehr tun, um diese Mission zum Erfolg zu führen. Wir brauchen einen vernetzten Sicherheitsansatz, militärische Macht kombiniert mit zivilem Wiederaufbau, was Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung immer wieder fordert und zu Recht anmahnt. Um wirklich erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Strategie optimieren. Wir müssen mehr mit den Stammesältesten vor Ort, mit den Verantwortlichen in den Provinzen reden. Wir müssen mit ihnen sprechen und ihr Vertrauen gewinnen. Sie müssen spüren, dass wir sie, die gemäßigten Kräfte, respektieren.

Worin liegen die Herausforderungen für die NATO? Was erwarte ich vom NATO-Gipfel?

Erstens erwarte ich eine Deklaration zur atlantischen Sicherheit.

Zweitens brauchen wir ein klares Mandat für ein neues strategisches Konzept. Es ist Zeit, das Bündnis an die neuen, globalen Veränderungen anzupassen. Die Beistandsverpflichtung aus Art. 5 muss weiterhin das Kernstück des Bündnisses sein: Jeder für den anderen. - Der vernetzte Sicherheitsbegriff muss von allen NATO-Staaten aufgenommen und umgesetzt werden.

Wir brauchen drittens die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nicht als Konkurrenz zur NATO, sondern als intelligente Form der Kooperation mit der NATO.

Viertens, zur NATO-Erweiterung: Die Tür muss offen bleiben. Klar muss aber auch sein, dass nur die Mitgliedstaaten der NATO entscheiden, wer neues Mitglied werden darf. Eine Mitsprache Dritter oder gar ein Vetorecht lehne ich kategorisch ab, Herr Putin.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir suchen eine verstärkte Zusammenarbeit mit Staaten, die unsere Werte teilen, zum Beispiel mit Australien, Neuseeland und Japan.

Ich denke insbesondere an das Thema Energiesicherheit. Wir müssen energiepolitisch unabhängig werden, damit kein Druck auf uns ausgeübt werden kann. Ganz aktuell: Putin schleudert gerade wieder seine Blitze gegen die Europäische Union, weil sie die Gaspipeline in der Ukraine modernisieren will. Meine Damen und Herren, mag er im fernen Kreml ruhig grummeln. Aber bedrohen und erpressen können soll er uns nicht. Davor müssen wir uns schützen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir brauchen eine gemeinsame Energiepolitik von EU und NATO.

Natürlich brauchen wir Russland, um Krisen und sicherheitspolitische Herausforderungen in der Welt bewältigen zu können. Aber bei aller Gesprächsbereitschaft müssen wir Russland immer die roten Linien aufzeigen, die es nicht ohne Konsequenzen überschreiten darf. Von dort muss Vertrauen aufgebaut werden.

Die NATO steht vor großen Herausforderungen. Ich bin davon überzeugt, dass wir sie gemeinsam meistern werden - ganz im Sinne von Immanuel Kant, der einmal gesagt hat: Friede muss gestiftet werden, er kommt nicht von allein.

Ich danke.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Rolf Mützenich (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende einer solchen Debatte sollten wir uns noch einmal vier Jahre zurückerinnern. Seinerzeit haben wir auch eine Debatte über die NATO in Deutschland geführt, nachdem der damalige Verteidigungsminister Struck im Auftrag des Bundeskanzlers eine Rede auf der Sicherheitskonferenz in München gehalten hatte. Damals hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder gefordert, die NATO wieder zu einem Ort der politischen Debatte zu machen. An dieser Stelle erinnere ich - Entschuldigung, Herr Kollege Schäuble - an ein Zitat von Ihnen:

Wir brauchen keine Debatte über die NATO. Das Bündnis ist intakt.

Es wäre gut gewesen, wenn wir uns damals die politische Debatte über die Zukunft der NATO geleistet hätten.

(Beifall bei der SPD)

Dann hätten wir nämlich in der nächsten Woche eine gute Voraussetzung für ?60 Jahre NATO?.

Es war gut, dass die Bundeskanzlerin am Ende ihrer heutigen Rede gesagt hat, dass wir keine globale NATO brauchen. Auch diese Debatte haben wir in Deutschland einmal anders geführt. Es ist richtig, dass wir uns auf die Kernelemente des Verteidigungsbündnisses beschränken. Dass die globale NATO nicht mehr zur Diskussion steht, begrüßt meine Fraktion. - So weit meine erste Bemerkung.

(Beifall bei der SPD)

Eine zweite Bemerkung richte ich an den Kollegen Lafontaine. Man kann das eine oder andere immer wieder infrage stellen und vernebeln und auch irgendeine historische Leistung für sich selbst reklamieren, ohne sie erbracht zu haben. Unabhängig davon glaube ich, dass es sinnvoll wäre, wenn auch Sie sich einer Debatte stellten, die in den Vereinten Nationen nach einer schwierigen Diskussion zu dem Abschluss gekommen ist, dass es auch die Völkergemeinschaft auf der Grundlage der Erfahrungen in Jugoslawien - vor allem im Kosovo - und insbesondere in Ruanda und anderswo, jetzt im Sudan, für legitim hält, im Rahmen solcher Völkerrechtsverletzungen zum Instrument der humanitären Intervention zu greifen. Das ist ganz ohne Frage keine Ultima Ratio. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie wenigstens zur Kenntnis nähmen, dass die Völkergemeinschaft dies diskutiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Drittens bedarf es vier Bedingungen, die für eine Zukunft der NATO beachtet werden sollten: erstens eine Konzentration und Beschränkung auf Dinge, die man auch schafft, und nicht auf alles, was man sich wünscht; zweitens keine Überforderung oder einen Sicherheitsverlust durch neue Mitglieder; drittens aus meiner Sicht insbesondere den Ausbau und die Vertiefung mit anderen Institutionen und eine tatsächliche Partnerschaft mit Russland. Deswegen begrüße ich, dass die Bundeskanzlerin hier angekündigt hat, mit Präsident Medwedew über seinen Vorschlag einer neuen Sicherheit insbesondere von Wladiwostok bis Vancouver zu sprechen. Dies hat natürlich seine unmittelbare Bedeutung für Europa. Es wäre ein großer Sicherheitsgewinn, wenn wir uns an dieser Debatte beteiligten. Wir vonseiten der Sozialdemokratie sind dazu bereit.

(Beifall bei der SPD)

Die vierte Bedingung für die Gestaltung der Zukunft der NATO ist die Frage von Abrüstung und Rüstungskontrolle. Hier gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Westerwelle. Dies ist aber nicht Ihre Erfindung. Vielmehr hat der Außenminister in den letzten vier Jahren alles dafür unternommen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder ein Thema der NATO werden. Das ist ein wichtiger Bestandteil. Man kann nicht davon ausgehen, dass wir die Verträge sozusagen von einer Woche auf die andere abschließen könnten. Es war aber auch in Teilen der anderen Fraktionen nicht unumstritten gewesen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in das Schlussdokument von Bukarest gekommen sind. Das war wichtig. Sie, Herr Außenminister, haben dies zusammen mit dem norwegischen Außenminister geschafft.

(Beifall bei der SPD)

In diesem Zusammenhang erinnere ich an die nukleare Abrüstung, die zuerst zwischen den USA und Russland erarbeitet oder gleichsam erkämpft werden muss. Den größten Applaus hat der damalige Präsidentschaftskandidat Obama hier in Berlin von den Deutschen bekommen, als er sich dazu bekannte, für eine nuklearwaffenfreie Welt einzutreten. Er weiß, dass das nicht von heute auf morgen gelingen wird. Aber das war genau der Satz, auf den Europa gewartet hat. Deswegen sollten wir, sollte die Bundesregierung ihn auf jeden Fall bei diesem Vorhaben unterstützen.

(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig sage ich: Wenn wir diese Debatte aufnehmen, müssen wir auch mit anderen Ländern, die über Kernwaffen verfügen, darüber sprechen. Eine ehrliche Debatte ist zum Beispiel mit Frankreich und Großbritannien erforderlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie stehen vor einer umfassenden Modernisierung ihres Atomwaffenarsenals. Es ist zwar nicht groß; aber dadurch sind sie in die nukleare Abschreckung eingebunden. Deswegen ist es an der Zeit, dass auch diese Regierungen ihr Vorgehen überdenken.

Es wäre gut, auch über die Frage des nuklearen Ersteinsatzes zu sprechen. Das hat in dieser Debatte noch keine Rolle gespielt. Aber wenn wir den Atomwaffensperrvertrag ernst nehmen, müssen wir in der NATO auch über die Frage des Ersteinsatzes diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Der vierte Punkt - hier stehen wir vor einer großen Herausforderung - betrifft die Frage, wie wir mit der Raketenabwehr umgehen. Ich will jetzt gar nicht auf die mögliche US-amerikanische Raketenabwehr in Polen und Tschechien eingehen. Wir haben in Bukarest verabredet, dass die NATO eine Raketenabwehr aufbauen soll; wir sind zumindest auf einem guten Weg dorthin. Ich glaube, es wäre klug, mit Russland über dieses Thema zu sprechen, weil Russland und die NATO gleiche Interessen haben, auf diese Herausforderungen zu reagieren.

Zum Schluss möchte ich Ihnen, Herr Außenminister, danken. Sie haben eine Initiative unternommen, den KSE-Vertrag zu retten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei diesen Bemühungen, insbesondere auf der Konferenz im Juni dieses Jahres. Wenn Sie es für notwendig halten, hier über den AKSE-Vertrag zu sprechen und dem Parlament diesen Vertrag möglicherweise noch zur Beschlussfassung zuzuleiten, dann sind wir von der SPD-Fraktion dazu bereit, dies mitzutragen.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))

Vizepräsidentin Petra Pau:

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12424. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel "Keine NATO-Erweiterung - Sicherheit und Stabilität mit und nicht gegen Russland". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11971, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11247 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12113 mit dem Titel "Überprüfung und Korrektur der Strategie beim Afghanistanengagement vor dem NATO-Gipfel in Kehl/Straßburg beginnen". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12322 mit dem Titel "NATO-Gipfel für eine strategische Neuausrichtung nutzen - Neue Schritte zur Abrüstung und für gemeinsame Sicherheit einleiten". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 3 e. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12433 mit dem Titel "60 Jahre NATO - Deutschland muss sich in Diskussion über die Zukunft der NATO konstruktiv einbringen".

Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt.

Quelle: V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG; Internet: www.bundestag.de


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