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Die NATO ist gefährlich - im besten Fall überflüssig

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag


7 Thesen zum NATO-Gipfel in Baden-Baden und Straßburg

Kassel/Hamburg, 26. März 2009 - Zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin anlässlich des bevorstehenden NATO-Jubiläumsgipfels und zu den Protesten dagegen erklären die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken und Peter Strutynski in einer am Donnerstag verbreiteten Stellungnahme:

Vier Jahrzehnte lang hat das westliche Verteidigungsbündnis NATO behauptet, sich gegen einen aggressiven und bis an die Zähne bewaffneten Feind aus dem Osten, den Warschauer Pakt, verteidigen zu müssen. Als 1991 die östliche Führungsmacht UdSSR und der Warschauer Pakt in einem Akt der Selbstauflösung von der historischen Bühne verschwanden, wäre die NATO konsequenterweise ebenfalls am Zug gewesen, sich aufzulösen. Dass sie es nicht tat, sondern in dieser Umbruchsituation nach neuen Begründungen für ihre Existenz suchte, zeigt, dass sie sich doch nicht ausschließlich als "Verteidigungsbündnis" verstanden hatte. Auch Frau Merkel ist es in ihrer Regierungserklärung nicht gelungen, den Sinn des Militärbündnisses nach dem Ende der Blockkonfrontation zu erklären.
Der Friedensratschlag stellt fest: Die Fortexistenz der NATO in einer Welt ohne militärischen Gegner stellt für die "Ausgeschlossenen" eine Bedrohung dar und wird über kurz oder lang neue Militärbündnisse auf den Plan rufen.

2) Mit der Gipfelerklärung von Rom im November 1991 leitete die NATO den entscheidenden Paradigmenwechsel ein: An die Stelle des Verteidigungsauftrags rückte seither der Kampf gegen alle möglichen neuen "Risiken": vom internationalen Terrorismus über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen über die zunehmende Armut und den Hunger in der Welt, die Umwelt- und Ressourcenkrise bis hin zu den schwachen und gescheiterten Staaten ("failed states") sowie der möglichen Unterbrechung des freien Welthandels und des Zugangs zu lebenswichtigen Rohstoffen.
Der Friedensratschlag wirft der NATO vor, mit der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs über das militärisch Notwendige hinaus potentiell alle möglichen zivilen Bereiche zu "versicherheitlichen", das heißt zu einer Angelegenheit der Militärs zu machen.

3) Mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 stellte die NATO unter Beweis, dass sie bereit und in der Lage ist, auch "out of area", also außerhalb des im NATO-Vertrag (Art. 6) von 1999 festgelegten Verteidigungsraums, und unter Bruch des Völkerrechts Kriege gegen Drittstaaten zu führen. Die damalige Begründung, in einer Art "Nothilfe" die serbische Provinz Kosovo vor einer "humanitären Katastrophe" zu bewahren, erwies sich als vorgeschoben. Flucht und Vertreibung begannen erst mit dem Auftauchen der NATO-Kampfflugzeuge und der Bombardierung serbischer Städte und Einrichtungen. Das hindert die Bundeskanzlerin nicht, den damaligen Krieg auch heute noch zu rechtfertigen. Das Führen und die Androhung von Angriffskriegen ist laut UN-Charta und laut Grundgesetz der BRD verboten. Die NATO-Kommandeure und die Politiker, die den Krieg anordneten, sind alle straffrei geblieben.
Der Friedensratschlag fordert endlich eine umfassende Untersuchung des "Kosovo-Kriegs" durch eine unabhängige UN-Kommission.

4) 1999 gab sich die NATO ein neues strategisches Konzept, das sowohl Out-of-Area-Einsätze als auch den atomaren Erstschlag gegen Staaten, die selbst nicht über Atomwaffen verfügen, vorsieht.
Der Friedensratschlag fordert die NATO auf, unverzüglich die Option des Ersteinsatzes von Atomwaffen aufzugeben und gemäß dem Atomwaffensperrvertrag die vollständige nukleare Abrüstung einzuleiten. Die Bundesregierung muss die "nukleare Teilhabe" aufgeben und von den USA den Abzug der auf deutschem Boden lagernden Atomwaffen verlangen.

5) Seit 2001 befindet sich die NATO in einem andauernden "Krieg gegen den Terror": Im Mittelmeer, am Horn von Afrika und in Afghanistan. Gleichzeitig kämpft die NATO in Afghanistan - und zunehmend auch auf pakistanischem Territorium - um die Stabilisierung des Regimes in Kabul und um die Kontrolle über das strategisch so wichtige zentralasiatische Land. Die Zukunft der NATO, so war auch im Bundestag heute zu hören, entscheide sich in Afghanistan. Befürchtungen, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sei, sondern ein Langzeit-Schlamassel mit zahlreichen Opfern auf allen Seiten, insbesondere der afghanischen Zivilbevölkerung, wird, werden von der Bundeskanzlerin beiseite geschoben. Die NATO hat ihre Soldatenzahl seit Beginn des Krieges verzwölffacht! Dies hat den Widerstand aber keineswegs geschwächt, sondern dramatisch gestärkt. Kanadas Regierung zieht ihre Truppen - immerhin das viertgrößte NATO-Kontingent - planmäßig 2011 ab. Der kanadische Ministerpräsident Harper begründete diesen Schritt wie folgt: "Ich glaube, dass wir diesen Aufstand niemals niederschlagen werden."
Der Friedensratschlag wiederholt seine Forderung nach einem Abzug der Truppen aus Afghanistan und verlangt statt dessen eine effektive zivile Hilfe dort, wo das gewünscht und möglich ist.

6) Gegen die Verabredungen zwischen Gorbatschow und Bush anlässlich des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland hat die NATO in den neunziger Jahren eine forcierte Politik der Osterweiterung und der Aufrüstung der "neuen Partner" betrieben, die zu einer fast totalen Einkreisung Russlands geführt hat. Auch wenn Verteidigungsminister Jung sich mittlerweile skeptisch gegenüber einer weiteren Expansion der NATO äußert und wenn die Bundeskanzlerin die "Globalisierung" der NATO ablehnt, bleibt die Tatsache, dass sich die NATO in Europa gegen Russland in Stellung gebracht hat und dass sie im asiatisch-pazifischen Raum in Australien, Japan, Neuseeland (diese drei Staaten sind in der Bundestagsdebatte von Karl A. Lamers, CDU/CSU, namentlich erwähnt worden), Singapur und Südkorea "Partner" gefunden hat, mit deren Hilfe künftig wohl China eingekreist werden soll.
Der Friedensratschlag weist darauf hin, dass diese Art der "Globalisierung" der NATO nicht nur gegen Art. 6 des NATO-Vertrags verstößt, sondern die weitere Aufrüstung und Militarisierung des Globus provoziert.

7) Die NATO hat sich seit Ende des Kalten Krieges zunehmend die Aufgabe zu Eigen gemacht, die Rohstoff- und Energiezufuhr militärisch abzusichern. Übungen ihrer bis zu 25.000 Soldaten starken Schnellen Eingreiftruppe (NRF), die binnen einer Woche jeden Ort auf der Erde erreichen kann, und die Piratenjagd mit NATO-Kriegsschiffen sind die bisher sichtbarsten Maßnahmen. Planungen der US-Regierung und der EU ihre Rohöl- und Erdgaseinfuhren in den nächsten Jahren drastisch zu erhöhen und die benötigte Infrastruktur auch militärisch abzusichern schafft neue gefährliche Konfrontationslinien. Die NATO, deren Mitgliedsstaaten für 70 Prozent der weltweiten Militärausgaben stehen, versucht mit militärischem Druck ihre Interessen durchzusetzen.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag fordert eine Energiewende hin zu erneuerbaren Energieformen und ein Ende der Rüstungspolitik, die auf Militärinterventionismus setzt.

Über die hier genannten Entwicklungen herrscht in der breiten Öffentlichkeit weitgehend Unkenntnis. Die Regierungserklärung der Kanzlerin hat wenig "erklärt", dafür aber umso mehr Legenden um die NATO verbreitet. Die Alphabetisierung der Politik und der Bevölkerung in Sachen NATO steht auf der Tagesordnung. Die Friedensbewegung begreift die Aktionen zum NATO-Gipfel als Gelegenheit, die Politik der NATO kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dies geschieht beispielsweise auf der Internationalen Konferenz der Friedensbewegung am 3. und 5. April in Straßburg. Da die Schulen in Baden-Baden am 3. April wegen des Gipfels geschlossen werden (die Schulen dienen als Quartiere für die zusammengezogenen Polizeikräfte, nicht für jugendliche Gipfelgegner!), lädt der Bundesausschuss Friedensratschlag alle Schülerinnen und Schüler ein, an den Diskussionen der Friedensbewegung teilzunehmen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg
Peter Strutynski, Kassel


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