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Das Einfache, das schwer zu machen ist

Der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr über den Ursprung der Menschenrechte und den Umgang mit ihnen


Wolf-Dieter Narr engagiert sich seit vielen Jahren im Bereich der Flüchtlingspolitik, der Gefangenenarbeit, der Antipsychiatrie und einer demokratisch begründeten, nicht restriktiven Praxis des Demonstrationsrechts. Von 1971 bis 2002 lehrte er als Professor für empirische Theorie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Mit dem Politikwissenschaftler sprachen für das neue deutschland (nd) Henrik Lebuhn und Niels Seibert.
Wolf-Dieter Narr, geboren 1937, war 1969 Mitgründer des Sozialistischen Büros, das nach der 68er Revolte die sozialistische Bewegung in der Bundesrepublik bündeln wollte. 1978 gehörte er dem deutschen Beirat des internationalen Russell-Tribunals zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland an. Daraus ging 1980 das Komitee für Grundrechte und Demokratie hervor, in dem der 74-Jährige bis heute aktiv ist.



nd: Am 10. Dezember 1948 verkündete die UN-Generalversammlung die Deklaration der Menschenrechte. Seitdem wird dieser Tag als Internationaler Tag der Menschenrechte begangen. Wie ist es heute um die Menschenrechte bestellt?

Narr: Wenn ich diese pauschale Frage pauschal beantworten soll, dann muss ich ehrlicherweise sagen: beschissen. Mit der Globalisierung hat sich die Konkurrenz zwischen den Staaten enorm intensiviert. Das hat dazu geführt, dass sich nicht nur die Ungleichheiten zwischen, sondern auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften weiter verschärften. Ein Blick auf die Bundesrepublik Deutschland genügt: Denken Sie nur daran, wie hier die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger behandelt werden. Oder betrachten Sie unser Bildungssystem, in dem von der Wiege bis zur Bahre ein Spießrutenlauf durch Noten und Prüfungen stattfindet. Eine menschenrechtlich fundierte Politik müsste darauf abstellen, dass jeder Mensch die Potenziale, die er oder sie in sich trägt, voll entwickeln kann. Sodass wir alle urteilsfähig werden und in der Lage sind, über unser Leben und unsere Zukunft eigenständig zu entscheiden. Aber heute ist von Menschenrechten nur dann die Rede, wenn man mit ihnen moralische und legitimatorische Eroberungen machen können.

In anderen Weltregionen sieht es derzeit viel dramatischer aus. Angesichts der sozialen und politischen Verhältnisse in Nordafrika versuchen Tausende von Menschen, nach Europa zu kommen. Für viele endet die Reise in den überfüllten Flüchtlingslagern Italiens oder Griechenlands. Von dort werden sie oft wieder in ihre Herkunftsländer abgeschoben, wo ihnen Bürgerkrieg, Armut und politische Verfolgung drohen. Welche Rolle spielt dabei Deutschland?

Soweit ich es überblicke, spielt Deutschland keine Rolle, die in irgendeiner Weise seiner eigenen Vergangenheit vor 1945 gerecht würde. Man hat hier immer noch nicht begriffen, was es heißt, Emigrant zu sein, und was es heißt, in dem Land, in dem man leben will, nicht bleiben zu können - sei es aus physischen, psychischen oder politischen Gründen. Deutschland hat mit dem sogenannten Asylkompromiss 1993 das Recht auf Asyl bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und beteiligt sich mittlerweile aktiv an der Abschottung der europäischen Außengrenzen. Zum Beispiel im Rahmen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln systematisch das internationale Refoulement-Verbot, also den Schutz vor Ausweisung, verletzt. Das ist eine einzige permanente Menschenrechtssauerei.

Spätestens seit der rot-grünen Bundesregierung und dem Kosovo-Krieg 1999 wird im Namen der Menschenrechte Krieg geführt. Das nennt sich dann »humanitäre Intervention«. Lassen sich Menschenrechtsverletzungen mit militärischen Mitteln verhindern?

Nein. Das geht allein deswegen nicht, weil das Menschenrecht, wenn es denn überhaupt einen Sinn haben soll, besagt, dass jeder Mensch zunächst einmal in seiner Integrität und seiner Lebensmöglichkeit radikal ernst genommen wird. Was aber mit dem Schlagwort »humanitäre Intervention« betrieben wird, ist nichts anderes als miese Interessenpolitik, geschminkt mit dem Süßglanz der Menschenrechte. Natürlich muss man jeden einzelnen Fall genau analysieren, aber meist wird man zeigen können, dass der Westen an der Situation in den betreffenden Ländern und der brutalen Form, wie diese Regime funktioniert haben, massiv beteiligt war. Saddam Hussein oder zuletzt Gaddafi sind Beispiele dafür.

Außerdem kann man kein einziges soziales oder politisches Problem mit Gewalt und von außen lösen. Gewaltsame Lösungen haben nicht nur zur Folge, dass Menschen zu Tode kommen, und zwar nicht zu gering. In der Regel werden auch keine Verhältnisse geschaffen, die in irgendeiner Weise akzeptabler wären als die zuvor. Denken Sie mal an das Fiasko in Afghanistan. Meist haben diese sogenannten humanitären Interventionen nur den einen Sinn, die Einflussgebiete der Westmächte zu erhalten und auszudehnen. Diese Form von Pervertierung der Menschenrechte kann man gar nicht scharf genug bekämpfen.

Es gab aber in den vergangenen Jahren auch menschenrechtspolitische Erfolge. Zum Beispiel hat der Europäische Gerichtshof die Bundesrepublik Deutschland mehrfach gemaßregelt, etwa im Fall der zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln oder auch im Bezug auf die Regelungen zur Sicherungsverwahrung. Sind Gerichte heute wirkmächtiger als Menschenrechtsaktivisten?

Es ist natürlich gut, dass die europäische Rechtsprechung ab und zu in die richtige Richtung geht und damit einzelstaatliche Entscheidungen korrigiert werden. Gleichzeitig ist es aber eine enorme Verengung, wenn man den Menschenrechtsbegriff gewissermaßen von den Menschen und ihren Aktivitäten trennt, und ihn zu einer rein gerichtlichen Angelegenheit macht. Es ist ein Missverständnis, Menschenrechte im rein juristischen Sinne als staatlich oder europäisch gesetztes Recht zu verstehen. Menschenrechte haben mit dem Rechtsbegriff des Staates zunächst einmal nichts zu tun. Denn hinter dem staatlichen Recht steht das Monopol legitimer und physischer Gewaltsamkeit. Und gerade das macht den Staat als Institution ja menschenrechtlich so problematisch: Staat bedeutet immer Herrschaft über Menschen.

Werfen wir einmal einen Blick zurück: Die Geschichte der Menschenrechte beginnt lange vor der UN-Menschenrechtscharta von 1948 ...

Menschenrechte waren ein Kampfbegriff des Bürgertums gegen die absolutistische Herrschaft. Sie bezogen sich aber zunächst primär auf das Recht, frei zu wirtschaften. Deswegen ihr individualistischer Charakter. In diesem Rechtsbegriff sind von vornherein kaum kollektive Elemente enthalten. In diesem Sinn sind auch die Menschenrechte historisch strikt bürgerliche Rechte, die sich um das Eigentum herum kristallisieren.

Wieso bürgerlich?

Die Charta von 1948 steht in der Tradition der liberalen Rechte, der sogenannten individuellen Abwehrrechte gegen den Staat. Schon mit dem Ausdruck »individuelles Abwehrrecht« wird die Begrenztheit dieser Rechte deutlich. Hier wird angenommen, dass Menschen von vorneherein bereits all das haben, was sie zum Leben brauchen. Sie werden potenziell nur noch durch den Staat gefährdet.

Historisch hat das für die Bürger gegolten. Diese Männer hatten Eigentum und wollten nur, dass der Staat nicht in ihre Geschäfte eingreift. Für alle anderen, vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen, wurde gerade das Recht auf eine materielle Versorgung, die man für ein gutes und sicheres Leben braucht, stets ausgeblendet. Deswegen sind alle traditionellen Menschenrechte gleichsam sozial fundamentlos. Sie sind Rechte des weißen, besitzenden Mannes. Das trifft auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 ebenso zu wie auf die französische Revolutionserklärung und die berühmte Charta von 1948.

Sie haben angedeutet, dass Sie ein anderes Verständnis von Menschenrechten haben. Wie können wir uns das vorstellen?

Menschenrechte müssen als etwas verstanden werden, was für die Menschen nötig ist. Etwas, was sie brauchen, damit sie menschlich leben können. Wenn Menschen diese Rechte - im Sinne von Möglichkeiten - nicht haben, dann werden sie ihrer Chancen beraubt, sich zu entwickeln. Dann vegetieren sie dahin und können ihr Leben im guten Sinne des Wortes nicht ausleben. Menschenrechte kann man von meiner Warte aus begründen, indem man geschichtlich beobachtet, worunter Menschen gelitten haben, wann es ihnen gut ging und wofür sie in den unterschiedlichen Emanzipationsbewegungen gekämpft haben - von Spartacus bis Solidarnosc. Wenn man das tut, dann kommt man zu einem Menschenrechtsbegriff, der auf zentralen Bedürfnissen von Menschen basiert. Dazu gehört die Integrität, dass man nicht einfach auf meinen Körper zugreifen kann. Dazu gehören die prinzipielle Gleichheit mit anderen Menschen, aber auch die materiellen und politischen Chancen, meine Wirklichkeit zusammen mit anderen selbst zu bestimmen.

Also ein weiter Menschenrechtsbegriff, der neben dem Sozialen auch das Politische umfasst?

Sobald ich Menschenrechte als irdische Rechte begreife, nicht als etwas, was irgendwelche Engel haben, und gleichzeitig weiß, dass Menschen soziale und materiell abhängige Wesen sind, kommt das politische und das mitbestimmende Element notwendig hinein. Denn letztendlich können Menschen ihre Selbstbestimmung nur politisch betreiben, also als Teil einer Gemeinschaft. Wie es um die Menschenrechte steht, zeigt sich letztlich daran, wie Sie sich oder ich mich verhalten. Ob wir uns dauernd bücken oder ob wir mitentscheiden, wie mit uns umgegangen wird, am Arbeitsplatz, in der Klinik etc. pp.

Wie muss eine Welt gestaltet sein, in der Menschenrechte verwirklicht werden können?

Wie hat es Bertolt Brecht so schön formuliert? Kommunismus sei das Einfache, das schwer zu machen ist. Mir scheinen auch die Menschenrechte ganz einfach zu sein. Aber ich weiß auch, dass es ungeheuer schwierig ist, sie praktisch umzusetzen. Wenn man die Chance hätte, eine substanziell menschenrechtlich stimmige Gesellschaft zu gestalten, bräuchten wir Konfliktlösungsmuster, die nicht diskriminatorisch sind, die ohne das staatliche Gewaltmonopol auskommen und stattdessen mit der Sprache und anderen Mitteln arbeiten.

Vor allem müsste man viel Zeit haben für eine solche Transformation. Jedenfalls so lange, wie ein Menschenleben dauert, weil wir ja alle so sozialisiert werden, dass wir den Habitus, den wir von der Gesellschaft in uns hinein nehmen, nicht ohne Weiteres auflösen können, selbst wenn wir wollten. Man müsste also immer wieder Experimentierphasen einlegen. Außerdem muss man es mit den Menschen zusammen machen. Man kann Menschenrechte nicht gleichsam verkünden oder anordnen. Das alles ist schwierig, weil wir ja das Neue inmitten einer mehr denn je durchherrschaftlichten Gesellschaft versuchen müssen. Und dabei dürfen wir nicht bitter werden. Da kriegt man Schläge ab und auch manche Sauerei passiert, aber das muss von unseren Schultern abfallen wie Tropfen auf den Boden.

* Aus: neues deutschland, 10. Dezember 2011


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