Hausaufgaben für den Innenminister
Grundrechte-Report 2011: Der deutsche Staat als Gesetzesbrecher
Von Regina Stötzel *
Ermittlung auf Vorrat, lückenlose Überwachung, harsche Ausländergesetze: Zum 15. Mal dokumentiert der Grundrechte-Report 2011 die Gesetzesbrüche der Staatsorgane.
Welche konkreten Straftaten die Antifa und andere Initiativen in Heidelberg planten, haben die Staatsorgane nach der Darstellung des Grundrechtereports 2011 bis heute nicht verraten. Nur bei konkreter Gefahr aber wäre der Einsatz des Polizeispitzels Simon Bromma gerechtfertigt gewesen. Martin Heiming, der Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, hält es für plausibler, dass der Einsatz »letztlich pauschal gegen die Antifa in Heidelberg gerichtet« gewesen sei. Dies aber bedeute »eine schwere Verletzung des aus den Erfahrungen der Nazizeit abgeleiteten Gebots der strikten Trennung von Polizei und Geheimdienst«.
Zum 15. Mal haben Bürger- und Menschenrechtsorganisationen den Grundrechte-Report vorgelegt. Dabei handele es sich um »ein notwendiges Gegengewicht« zu den jährlichen Verfassungsschutzberichten, schreiben die Herausgeber. Denn darin werden die Verstöße des Verfassungsschutzes und anderer Staatsorgane gegen geltendes Recht aufgelistet. Wie die frühere Richterin am Bundesverfassungsgericht und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Renate Jaeger, bei der Vorstellung in Karlsruhe sagte, seien die Grundrechte auch in gefestigten Demokratien wie Deutschland gefährdet.
So werde unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung die lückenlose Überwachung der Bevölkerung vorangetrieben. 17 neue Gesetze habe es gegeben, um so genannte Sicherheitslücken zu stopfen, schilderte Heiming und sprach von einer »Schieflage der Menschenrechte in Deutschland«.
Positiv sei zu vermelden, »dass der Schutz der Grundrechte heute vermehrt auch von europäischen und internationalen Normen und Gesetzen ausgeht«, schreiben die Humanistische Union, Pro Asyl und ihre Mitstreiter. Zum Beispiel habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den laxen Umgang Deutschlands mit dem absoluten Folterverbot gerügt, und die EU schütze das Recht auf Familie von Migranten.
Die deutschen Staatsorgane können aus dem neuen Report einiges lernen. Etwa das: »Der Verfassungsschutz hat die Verfassung zu schützen und nicht die Regierung vor unbequemen Abgeordneten und deren Wählern.« Zu diesem Schluss kommt Autor Burkhard Hirsch in dem Kapitel zur jahrzehntelangen Überwachung von Bodo Ramelow, dem Fraktionsvorsitzenden der Thüringer LINKEN. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts komme es nicht darauf an, was Ramelow selbst wolle oder denke, sondern sein politischer Einfluss und Umgang reichten schon aus, um ihn zu beobachten und Dossiers über ihn anzulegen.
»Der Grundrechte-Report offenbart das krasse Versagen der Bundesregierung beim Schutz der Bürgerrechte«, sagte Jan Korte vom Fraktionsvorstand der LINKEN im Bundestag. Er empfahl Innenminister Hans-Peter Friedrich, »den Bericht als To-Do-Liste für sinnvolle Tätigkeiten im Amt sehen«.
* Aus: Neues Deutschland, 24. Mai 2011
Präsentation des Grundrechte-Reports 2011
Bürgerrechtler warnen: Antiterrorkampf darf nicht zur Totalüberwachung führen
Pressemitteilung (vom 23.05.2011)
Am Verfassungstag (23.05.2011) wurde in Karlsruhe der aktuelle
Grundrechte-Report 2011 durch Renate Jaeger, ehemalige Richterin am
Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und Bundesverfassungsgericht, der
Öffentlichkeit vorgestellt. Dieser Report, der jährlich im Fischer
Taschenbuchverlag erscheint, dokumentiert mit vielen Beispielen, wie
deutsche Staatsorgane die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger immer
noch und jedes Jahr wieder verletzen.
„Der Grundrechte-Report informiert und bewegt. Er hält unser Gewissen
wach, damit wir uns angesichts der Gräuel in aller Welt nicht beruhigt
zurücklehnen, weil in Deutschland alles besser ist. Besser heißt noch
lange nicht gut“ – mit diesen Worten fasste Renate Jaeger die Bedeutung
und Wirkung des Grundrechte-Reports 2011 zusammen.
Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 und der daraufhin erfolgten
Antiterrorpolitik zeigen sich die Herausgeber des Grundrechte-Reports
besorgt darüber, dass auch im Jahr 2011 unter dem Vorwand der
Terrorismusbekämpfung die lückenlose Überwachung der Bevölkerung
vorangetrieben werde. Angesichts der Warnungen der „Dienste“ vor
Terroranschlägen müssten endlich alle „Sicherheitslücken“ geschlossen
werden – heißt es. Die Herausgeber des Grundrechte-Reports warnen davor,
dass sog. Sicherheitslücken mit überwachungsbedürftigen Lebensbereichen
gleichgesetzt würden. „Wer jede Kommunikation zwischen Menschen, jede
Lebensäußerung überwachen und registrieren will, um mögliche Straftaten
bereits weit im Vorfeld vereiteln zu können, greift den Kerngehalt der
Grundrechte an,“ sagte Martin Kutscha, Staatsrechtslehrer und
Mitherausgeber des Grundrechte-Reports.
Anlässlich der heutigen Präsentation berichtete eine betroffene
Studentin über einen Fall, in dem die Polizei einen verdeckten Ermittler
(im Klartext: Spitzel) in die linke Szene an der Universität Heidelberg
einschleuste, um sich ein Lagebild über Personen und Aktivitäten zu
verschaffen. Rechtsanwalt Martin Heiming, Vorsitzender des
Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV), Mitherausgeber
des Grundrechte-Reports: „Welcher Student, welche Studentin wird noch
Lust verspüren, sich politisch zu engagieren, wenn man damit rechnen
muss, dass immer einer dabei ist, der sozusagen eine Handy-Standleitung
zur Abteilung Staatsschutz der örtlichen Polizei betreibt?“
Positiv zu vermelden ist, dass der Schutz der Grundrechte heute vermehrt
auch von europäischen und internationalen Normen und Institutionen
ausgeht. So war es beispielsweise der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte, der im vergangenen Jahr (erneut) die Bundesrepublik
Deutschland wegen des laxen Umgangs mit dem absoluten Folterverbot rügte
– auch über diesen „Fall Daschner“ berichtet der neue Report. Außderdem:
Das Recht auf Familie für Migrantinnen und Migranten wird durch das
Recht der Europäischen Union geschützt, die UN-Kinderrechtskonvention
stärkt die Kinderrechte auch für Flüchtlingskinder in Deutschland.
Der Grundrechte-Report ist ein gemeinsames Projekt von acht
Bürgerrechtsorganisationen: Humanistische Union, Komitee für Grundrechte
und Demokratie, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, PRO ASYL,
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, Vereinigung
Demokratischer Juristinnen und Juristen, Internationale Liga für
Menschenrechte und Neue Richtervereinigung. Diese Arbeit wurde nun schon
zum 15. Mal geleistet. Die jährlichen Verfassungsschutzberichte, die aus
der entgegengesetzten Perspektive viele Bürgerinnen und Bürger als
sogenannte Verfassungsfeinde beargwöhnen und denunzieren, erhalten so
ein notwendiges Gegengewicht.
Grundrechtereport 2011 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Herausgeber: T. Müller-Heidelberg, U. Finckh, E. Steven, M. Pelzer, M. Heiming, M. Kutscha, R. Gössner, U. Engelfried und P. Hase. Fischer Taschenbuchverlag, Juni 2011. 250 Seiten; 9,99 €; ISBN
978-3-596-19171-0
Mehr Kritik!
Von Regina Stötzel **
Erstaunlich ist nicht, dass die Herausgeber des Grundrechte-Reports zum 15. Mal ein dickeres Taschenbuch mit erwähnenswerten Ereignissen des vergangenen Jahres zu füllen vermochten. Erstaunlich ist vielmehr, dass allzu Grundsätzliches in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt werden muss. So sprach die frühere Verfassungsrichterin Renate Jaeger zum einen von der stets präsenten Mahnung, dass »der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, beides verlieren wird«. Zum anderen halte der Grundrechte-Report »unser Gewissen wach, damit wir uns angesichts der Gräuel in aller Welt nicht beruhigt zurücklehnen, weil in Deutschland alles besser ist. Besser heißt noch lange nicht gut.«
Früher hieß es lapidar: »Geh' doch nach drüben!« Aber auch heute noch ist Kritik am Handeln des Staates und seiner Organe für viele kein selbstverständlicher Bestandteil der Demokratie, sondern ein Verhalten, das die Demokratie infrage stellt. Trotz aller Politikverdrossenheit scheint ein ausgeprägtes Vertrauen in »den Staat« zu existieren, als würde dieser von besseren Menschen gestaltet. Wer nichts ausgefressen hat, der hat auch nichts zu befürchten, lautet die logische Konsequenz aus dieser Vertrauensseligkeit. Das Gegenteil beweist der Grundrechte-Report.
** Aus: Neues Deutschland, 24. Mai 2011 (Kommentar)
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