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Gerhart Baum: "Auch in einer gefestigten Demokratie sind die Grundrechte nicht vor offener oder schleichender Aushöhlung sicher."

In Karlsruhe wurde der Grundrechte-Report 2010 vorgestellt. 53 Beiträge ziehen eine kritische Bilanz zum Zustand der Grund- und Menschenrechte in Deutschland


Grundrechte-Report 2010 erschienen *

Der Grundrechte-Report 2010 wurde heute (20. Mai) in Karlsruhe durch Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister, der Öffentlichkeit präsentiert. Dabei warnte er mit vielen Beispielen vor weiteren Schritten zum Überwachungsstaat.

"Auch in einer gefestigten Demokratie sind die Grundrechte nicht vor offener oder schleichender Aushöhlung sicher. Das zeigt der Report am Beispiel zahlreicher Einzelfälle und an einer Reihe von staatlichen Maßnahmen", bilanzierte Gerhart Baum den Zustand der Verfassungswirklichkeit in Deutschland. Dies sei im Grundrechte-Report anschaulich dokumentiert: "ELENA ist ein weiterer Schritt hin zum Überwachungsstaat, ebenso die Auslieferung der Kontodaten an die USA ohne wirksamen Datenschutz (SWIFT). Gefährdet ist das ohnehin verstümmelte Asylrecht und immer wieder das Demonstrationsrecht." Baum betonte in seinem Vortrag: "Der Kampf um die Grundrechte ist auch ein Kampf gegen die Gleichgültigkeit vieler Bürger. Die Freiheit schenkt sich nicht!".

Mit zahlreichen Beispielen belegt der Grundrechte-Report 2010, dass nach wie vor die meisten Eingriffe in die Grundrechte von Maßnahmen der Exekutive ausgehen: Polizeiliche Videoüberwachung, Vorkommnisse um den NATO-Gipfel in Straßburg und Kehl, Untergrabung der journalistischen Unabhängigkeit durch Absetzung des ZDF-Intendanten. Auch exterritoriale Grundrechtsverletzungen werden thematisiert - wie die Tötung von Zivilisten bei der Bombardierung der Tanklaster in Kunduz im Sommer 2009 sowie der Kampf gegen Piraterie vor Somalia.

Von Seiten der Herausgeber hob Marei Pelzer, PRO ASYL, als positive Entwicklung hervor, dass die im Grundrechte-Report geforderte Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention am 3. Mai 2010 von der Bundesregierung beschlossen worden sei. "Jetzt steht die Politik in der Pflicht, Flüchtlingskinder nicht länger wie Kinder zweiter Klasse zu behandeln. Sie gehören nicht in Abschiebeknäste." Der Report zeige anhand vieler Beispiele, dass Nichtdeutschen grundlegende Menschenrechte oftmals vorenthalten werden.

Herausgeber Till Müller-Heidelberg, ehemaliger Bundesvorsitzender der Humanistischen Union, kritisierte die ungebremste Datensammelwut staatlicher Behörden. Der geplanten Neuverhandlung des SWIFT-Abkommens - das nur durch das Europäische Parlament vorläufig verhindert worden sei - sei entschieden entgegenzutreten. "Die Arbeitnehmergroßdatenbank ELENA schafft den gläsernen Arbeitnehmer und ist mit dem Grundsatz der Datensparsamkeit schlicht unvereinbar."

Aus Sicht einer Betroffenen wurde ein Einzelfall staatlicher Kindesentziehung geschildert. Die Herausnahme eines Kindes aus einer Familie - aufgrund fragwürdiger Atteste - zeigt, wie schwerwiegend staatliche Stellen in die private Lebensführung eingreifen können und wie sehr eine rechtsstaatliche Kontrolle solcher Prozesse nötig, im vorliegenden Fall jedoch unterblieben ist.

Der jährliche Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland zieht auch in seinem 14. Erscheinungsjahr mit 53 Beiträgen kritisch Bilanz zum Zustand der Grundrechte. Der im Fischer Taschenbuch Verlag verlegte, 1997 erstmals erschienene Grundrechte-Report versteht sich als "alternativer Verfassungsschutzbericht". Neun Bürger- und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren darin jährlich den Umgang mit dem Grundgesetz.

Sven Lüders

Grundrechte-Report 2010 - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Herausgeber: T. Müller-Heidelberg, U. Finckh, E. Steven, K. Schubert, M. Pelzer, A. Würdinger, M. Kutscha, R. Gössner und U. Engelfried;
Fischer Taschenbuch Verlag; Mai 2010; 280 Seiten; ISBN 3-596-18678-5; Preis 9,95 €


* Aus: Humanistischer Pressedienst, 20. Mai 2010; http://hpd.de


10. Grundrechte-Report beleuchtet deutsche Verfassungswirklichkeit

»Kampf um die Grundrechte ist ein Kampf gegen die Gleichgültigkeit«

Von Ulrike Gramann, Karlsruhe **

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Diesen Termin nehmen neun Bürgerrechtsorganisationen jährlich zum Anlass ihres Grundrechte-Reports. Der auch als »alternativer Verfassungsschutzbericht« bekannte Report zeigt 2010 erneut, dass die in der Verfassung garantierten Grundrechte nicht in erster Linie von den Bürgern bedroht werden. Statt dessen sind es Behörden und immer wieder auch die Gesetzgeber, die Grund- und Bürgerrechte beschneiden.

In diesem Jahr wurde der Grundrechte-Report von dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum präsentiert. Baum legte seit 2004 mehrere Verfassungsbeschwerden gegen den »Großen Lauschangriff« und weitere Überwachungsmaßnahmen ein. »Auch in einer gefestigten Demokratie besteht die Gefahr, dass die Grundrechte ausgehöhlt werden«, sagte er in Karlsruhe, »besonders wenn das schöne Wetter sich verzieht«.

In der Europäischen Gemeinschaft bestehe derzeit ein großer Druck auf die Grundrechte, wie bei der Vorratsdatenspeicherung und beim SWIFT-Abkommen, aufgrund dessen Kontodaten von EU-Bürgern ohne wirksamen Datenschutz an die USA ausgeliefert werden. Auch bei der geplanten Speicherung von Fluggastdaten sei man darauf angewiesen, diese Probleme europäisch zu lösen. »Wir müssen Verbündete in den Zivilgesellschaften der europäischen Staaten finden.« Auch der sogenannte elektronische Einkommensnachweis ELENA sei eine Form von Vorratsspeicherung sensibler Daten - und zudem unnötig.

Forderte im letzten Jahr der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer eine Diskussion über Datenschutz und darüber, was Privatsphäre überhaupt bedeute, so ist diese Debatte nun da. Darauf bezog sich Baum und forderte einen Kampf gegen die Gleichgültigkeit, die sich in dem Satz »Ich habe nichts zu verbergen« ausdrücke. Es gehe jetzt um die Zukunft der informationellen Selbstbestimmung. Personenbezogene Angaben, die einmal mit modernen Kommunikationsverfahren, wie bei Google, gesammelt seien, blieben für immer gespeichert: »Es gibt keine Trennung mehr in öffentlichen und nichtöffentlichen Bereich. Das ist eine Zäsur, die die Grundrechte betrifft.« Schon jetzt gebe es Algorithmen, die automatisch Persönlichkeitsprofile erstellen könnten. Baum konstatierte erfreut, dass sich Widerstand gegen den Abbau des Datenschutzes formiere. Die Bürger müssten aber auch lernen, mit eigenen Daten vorsichtiger umzugehen.

Der Grundrechte-Report belegt erneut massive Eingriffe gegen die Grundrechte durch Behörden, wie bei der mittlerweile routinemäßigen Videoaufzeichnung von Demonstrationen, die das Versammlungsrecht untergräbt. Gravierende Mängel gibt es bei der Umsetzung des ohnehin auf Rudimente reduzierten Asylrechts. Marei Pelzer von Pro Asyl berichtet, dass noch immer Asylsuchende nach Griechenland abgeschoben werden, obwohl das Bundesverfassungsgericht Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt hat. Das dortige Asylsystem ist Pelzer zufolge »desaströs«. Beachtung finden auch Grundrechtsverletzungen, die nicht auf deutschem Boden stattfinden, wie die Tötung von Zivilpersonen bei der Bombardierung zweier Tanklaster in Kunduz im September 2009. Auch beim ohnehin fragwürdigen Einsatz der Bundesmarine gegen die Piraterie vor Somalia werden Grundrechte missachtet. Der Piraterie verdächtige Personen werden nicht den deutschen Strafverfolgungsbehörden überstellt, sondern nach Kenia ausgeliefert, wo weder ein rechtsstaatliches Verfahren noch erträgliche Haftbedingungen existieren.

Die kritische Bilanz zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland listet sowohl systematische Verletzungen von Grundrechten als auch Einzelfälle auf. Zu letzteren gehört der einer »staatlichen Kindesentziehung«, bei dem ein Kind aus Bamberg ohne ausreichende Prüfung aus seiner Familie herausgenommen und bisher nicht zurückgegeben wurde. Zum zweiten Mal berichtet der Report über eine Hausangestellte, die von einem kirchlichen Arbeitgeber entlassen wurde, weil sie ihren Glauben verlor. Das Arbeitsamt verhängte 2007 eine 12-wöchige Sperre - die Frau hätte angeblich wissen müssen, dass man sie nach ihrem Kirchenaustritt entlassen würde. In diesem Fall hat das Bundessozialgericht inzwischen die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses auch für Arbeitslose wiederhergestellt.

** Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2010


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