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Der Staat als Verfassungsfeind

Grundrechte-Report kritisiert Sicherheitsgesetze, G8-Einsatz und Asylpolitik

Von Ines Wallrodt *

Die Autoren des zwölften Grundrechte-Reports warnten am Donnerstag (8. Mai) in Karlsruhe vor zunehmender staatlicher Sicherheitshysterie. Die Verfassung werde immer offensichtlicher nicht nur durch Extremisten bedroht, sondern auch durch Behörden, Regierungen und Gesetzgeber in Bund und Ländern.

Ende April vertrat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf einem sicherheitspolitischen Kongress seiner Partei in Schleswig-Holstein die Position: »Wer behauptet, dass man die Freiheitsrechte gegen den Staat verteidigen muss, hat ein falsches Grundverständnis vom Verfassungsstaat.« Dass er mit dieser Aussage nicht die anderen, sondern vor allem sich selbst demaskiert, für diese Einsicht sorgt nicht zuletzt der Grundrechte-Report, der seit Jahren die Erinnerung an eine liberale Rechtskultur wachhält.

Bei der Vorstellung des diesjährigen Berichts rügte der frühere Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) ein Ausufern des staatlichen Sicherheitsdenkens auf Kosten der bürgerlichen Freiheiten. »Mit dem Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung, das die potenzielle Kontrolle eines jeden Bürgers erlaubt, ist die Grenze zum Überwachungsstaat überschritten«, erklärte Hirsch am Donnerstag in Karlsruhe.

Der FDP-Politiker kritisierte, dass Bund und Länder mit ihren Sicherheitsgesetzen andauernd die Grenzen der Verfassung auf die Probe stellten. Das Bundesverfassungsgericht habe deshalb in einer beispiellosen Serie von Urteilen etwa die Gesetze zur Online-Durchsuchung, zur Vorratsdatenspeicherung und zur automatischen Identifizierung von Kfz-Kennzeichen stoppen müssen.

Der von neun Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen erstellte Report versteht sich als Gegenstück zu den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder. Die Autoren beanstanden insbesondere die Sicherheitsgesetzgebung des Bundes und der Länder. An die Stelle nüchternen Abwägens von Risiken ist nach Ansicht der den Report mit herausgebenden Humanistischen Union eine »alarmistische Übertreibung« getreten. Verbunden sei dies mit »weltfremden Versprechungen fast totaler Sicherheit« durch zunehmende Kontrolle und Überwachung.

Hirsch spannt in seinem Vorwort einen Bogen von der innenpolitischen Aufrüstung Mitte der 1970er Jahre bis heute. Mit jeweils wechselnden Staatsfeinden sei die Ausdehnung staatlicher Macht legitimiert worden. Für den Liberalen ist das jedoch kein Anzeichen von Stärke, sondern von »Misstrauen und zunehmender innerer Schwäche«. Verdeutlicht wird diese Entwicklung an zahlreichen Einzelbeispielen, die den missachteten Grundgesetzartikeln gegenübergestellt werden.

Schwerpunkte in dem nun zum zwölften Mal erschienenen Report sind die Verschärfungen im deutschen Ausländerrecht sowie die Aufarbeitung der Vorgänge rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm, »der zu bislang ungekannten Eingriffen in die Versammlungsfreiheit instrumentalisiert wurde«, wie die alternativen Verfassungsschützer kritisieren.

Daneben beschäftigen sich die Autoren der rund 40 Beiträge mit dem Gefährdungspotenzial von Medienmonopolen für die Demokratie, der Überwachung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz oder auch dem Druck auf Arbeitnehmerrechte in Europa .

Grundrechte-Report 2008, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 256 S., 9,95 Euro

* Aus: Neues Deutschland, 9. Mai 2008


Inhaltsverzeichnis des Buches

Vorwort der Herausgeber
  • Burkhard Hirsch
    »Action!« – Das Ritual des machtvollen Leerlaufs
    Über staatliches Machtgehabe als Anzeichen innerer Schwäche
  • Ulrich Finckh
    Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind Menschenrechte
    Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 I)
  • Marei Pelzer
    »Prüfbericht Illegalität«: Weder Gnade noch Recht für Menschen ohne Papiere
    Bundesregierung verweigert Papierlosen elementare Rechte
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 I)
  • Fredrik Roggan
    Abgespeichert – sicherheitshalber
    Die Vorratsdatenspeicherung erklärt jedermann zum potentiellen Rechtsbrecher
  • Thilo Weichert
    Fluggastdaten-Vorratsspeicherung über Reisebewegungen
  • Heiner Busch
    Freier Binnenmarkt für Polizeidaten
    EU ermöglicht gemeinschaftsweiten Zugriff auf DNA-Informationen
  • Peer Stolle
    Wer sein Privatleben schützen will, ist verdächtig
    Zum § 129a-StGB-Verfahren gegen Andrej Holm und andere
  • Heiko Habbe
    Danaer-Urteil
    Ein Gericht schützt die informationelle Selbstbestimmung und beschädigt sie zugleich
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II)
  • Marei Pelzer
    Flucht ist kein Verbrechen
    Exzessive Inhaftierung von Asylbewerbern beschlossen
  • Ron Steinke
    Erniedrigende Haftbedingungen
    Scharfe Kritik vom europäischen Anti-Folter-Komitee
  • Hendrik Cremer
    Unzureichende Pläne zur Folterprävention bei Freiheitsentzug
  • Jutta Hermanns
    Wer einmal der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt
    Der Bruch von Verfassungsrecht in Auslieferungsverfahren
  • Rolf Gössner
    Feuertod im Polizeigewahrsam
    Zwei Polizeibeamte müssen sich für den Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh vor dem Landgericht Dessau verantworten
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 3 I–III)
  • Heike Kleffner
    Rassistische Übergriffe unter den Augen der Polizei
Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens ist unverletzlich (Art. 4 I)
  • Gerhard Czermak
    Ordenstracht ja, Kopftuch nein?
    Die Missachtung des Gebots der religiös-weltanschaulichen Neutralität wird fortgesetzt
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern (Art. 5 I–III)
  • Eckart Spoo
    Medienmonopole – eine Gefahr für die Demokratie
  • Eckart Spoo
    Cicero-Urteil: Durchsuchungen beeinträchtigen Pressefreiheit
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung (Art. 6 I–V)
  • Heiko Habbe
    Zwangstrennung ohne Perspektive
    Wie der Staat den Ehegattennachzug aus dem Ausland verhindert
  • Ulrich Engelfried
    Alte Zöpfe und juristische Sippenhaft
    Zur Reform des Unterhaltsrechts
Alle Deutschen haben das Recht, sich zu versammeln (Art. 8 I, II)
  • Heiner Busch
    Eine militante Kampagne gegen die Demonstrationsfreiheit
    Staatliche Aktivitäten im Vorfeld des G8-Gipfels
  • Elke Steven
    Die Wahrheit stirbt zuerst
    Zur Praxis des Polizeieinsatzes rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm
  • Karen Ullmann
    Erniedrigungen in Heiligendamm
    Die Behandlung von Menschen in Polizeigewahrsam
  • Moritz Assall
    Demokratie mit Preisschild
    Versammlungsauflagen in Theorie und Praxis
  • Wilhelm Achelpöhler
    Ausufernder Vorbeugegewahrsam
    Gießener Polizei verfolgt und inhaftiert nach Gutdünken
Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden (Art. 9, I–III)
  • Max Stadler/Sabine Gohlke
    Wie frei ist der geheimdienstlich beobachtete Abgeordnete?
    Überlegungen zur Eingrenzung der bisherigen Praxis
Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich (Art. 10 I, II)
  • Till Müller-Heidelberg
    Ein heißer Tag im Mai
    Postbeschlagnahme in Hamburg
  • Tobias Singelnstein
    Anwälte angezapft
  • Dieter Deiseroth
    Richter als Ausspähungsopfer des italienischen Geheimdienstes?
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen (Art. 12 I–III)
  • Sönke Hilbrans
    Im Zweifel gegen die Freiheit
    Warum der Verfassungsschutz nichts beweisen muss
  • Anna Lübbe
    »Nachgelagerte« Studiengebühren in Hessen
    Zur Herstellung von Solidarität mit sich selbst
  • Rolf Gössner
    Berufsverbot aufgehoben
    Realschullehrer darf nach über drei Jahren endlich unterrichten
Die Wohnung ist unverletzlich (Art. 13)
  • Martin Kutscha
    Trojanische Pferde im Heimcomputer
    Die »Online-Durchsuchung« kommt
Ein Gesetz muss allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten (Art. 19 I)
  • Helmut Pollähne
    Über parlamentarische Wegschließer und Menschheitsretter
    Maßnahmegesetzgebung zur Sicherungsverwahrung
Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen (Art. 19 IV)
  • Udo Geiger
    Begrenzung der Prozesskostenhilfe
Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 I)
  • Felix Stumpf
    Flexicurity oder Flexicarity
    Arbeitnehmerrechte in Europa unter Druck
Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 III)
  • Ulrich Finckh
    In Verruf geraten
  • Wolfgang Kaleck
    Leidvolle Konsequenzen einer verfehlten Strafvorschrift
    BGH setzt Anwendung des § 129 a StGB Grenzen
Die Bundesrepublik wirkt bei der Entwicklung der Europäischen Union mit (Art. 23 I)
  • Roland Bank
    Potenziale und Widerstände
    Umsetzung von Europäischem Flüchtlingsrecht
  • Tillmann Löhr
    FRONTEX – Europäischer Grenzschutz im rechtsfreien Raum?
Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes (Art. 25)
  • Ulrich Finckh
    Völkerrecht selbst gestrickt?
    Eine Kritik des Weißbuchs 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr
Streitkräfte dürfen nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es zulässt (Art. 87a II)
  • Johannes Plotzki
    Soldaten gegen Demonstrationen
    Zur militärischen Verteidigung des G8-Gipfels
Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden (Art 104 I, II)
  • Jochen Goerdeler
    Kleinstaaterei im Jugendstrafvollzug
Anhang
  • Chronologie 2007
  • Bürger- und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland (Auswahl)
  • Kurzportraits der herausgebenden Organisationen
  • Autorinnen, Autoren und Redaktion
  • Abkürzungen
  • Sachregister



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