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Ich liebe euch doch alle

Der fast schon vergessene Herr Mubarak und das Genre der Fernsehansprache

Von Hans-Dieter Schütt *

Die Ereignisse in Nordafrika gelten merkwürdigerweise als wahr, obwohl noch gar kein Dokudrama darüber gedreht wurde. Aber bald schon, so der arabische Regisseur Simon Ell Habre, werde es einen »spürbaren Aufschwung des endlich befreit fabulierenden maghrebinischen Films« geben. Diese frohe Prophezeiung unterschlägt, dass es doch just das alte Regime in Kairo war, das den Werkfundus eines sehr speziellen Genres, nämlich der Fernsehansprache, kürzlich um einen unverwechselbaren Beitrag bereicherte: Kaum nämlich war die Berlinale eröffnet, trat Herr Mubarak mit sicherem Gespür für filmbedeutsame Momente vor die Fernsehkameras. Was er dann in nicht mal einer halben Stunde gesagt hat, bleibt garantiert weniger vergessen als dreißig Jahre Diktatur. Denn mit seiner letzten Rede, die morgen ihr einwöchiges Jubiläum feiern darf, war dem Ägypter souverän und wahrlich »befreit fabulierend« Großes gelungen: eine Kraft des arabischen Films zu bestätigen, die Osama bin Laden in seinen lustigen, seltsam unscharfen und verrissenen Schwarz-Weiß-Videos mit englischen Untertiteln stets nur als scheue Ahnung vermitteln konnte.

Mubaraks Rede reiht sich würdig ein und setzt traditionsbewusst fort. Da war der letzte Generalsekretär der SED, der in einer Fernsehansprache zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 krampfhaft-eisern lächelnd geprobt hatte, was er dann im Oktober desselben Jahres, unmittelbar nach der Vertreibung Erich Honeckers aus dem gemeinsamen Dunstkreis, in die telegene Vollendung trieb: Flucht nach vorn, als sei man nie nach hinten gedrängt worden. Sich in der ersten Reihe der Erstarrung aufführen, als sei es die Spitze der Bewegung gegen jenen Stillstand, dessen Anführer man ist. Sich einigeln, indem man den flinken Hasen gibt. Zu anderen sprechend sich selber Märchen erzählen. Da war zum Beispiel auch Saddam Husseins Informationsminister, der vor laufender Kamera entschieden die Anwesenheit US-amerikanischer Panzer bestritt. Und der so urkomisch wirkte – wegen erfolgreicher Rückkehr in die Lehrstücke des Tierreichs: Wer sich totstellt, überlebt. Der Minister musste gleichsam von Mal zu Mal lauter sprechen, um von den Feindes-Panzern, die im Hintergrund dröhnend durchs Bild ratterten, nicht übertönt zu werden – und das größte Ereignis jedes neuerlichen Statements bestand gewissermaßen in seinem Glück, von den US-Maschinen nicht überfahren worden zu sein.

Das Talent fürs Paralleluniversum

So redete auch Mubarak. Mit opialer Selbstvergessenheit, die man nur in anderen Welten tankt. Mit dem Talent fürs Leben im Paralleluniversum, das man sehr allein genießt, sich aber von allen bezahlen lässt. Mit einer Gestrigkeit, die ob ihrer Scheuklappen fast schon wieder fasziniert. Als sei dies die Regel aller Politik: Bilde dir kein Urteil, bilde dir nur ein, was du selber als Urteil über die Welt sprichst. Immer wiederkehrender politischer Reflex: leeres Reden unterm Sternbild des so plebejisch durchschlagenden Philosophen Mielke, der den großen Welt- und Wahrheitsleugnungssatz sagte: »Ich liebe euch doch alle«. Der Täter als Liebhaber. Der Wolf als achtes Geislein. Der Jäger als armes Huhn. Der Unerbittliche als Bittsteller. Der Vertriebene als Paradieswächter.

Stets geht es bei abdankreifer Politik um die Hochform radikalsten Denkens: nicht zur Kenntnis zu nehmen, was ist, sondern aufzutrumpfen mit unerschrockener Blindheit. Die Fernsehansprache der jeweils letzten Marionetten als Zeugnis eines ewigen politischen Kreislaufes: Überzeugung, Verblendung, Ausblendung. Als der erwähnte Generalsekretär im Oktober 1989 seine TV-Antrittsrede hielt, schlugen selbst tapfere Gleichgesinnte die Hände vorm Kopf zusammen und fragten sich, wie es der CIA nur gelingen konnte, sich in den engsten Beraterkreis der »neuen« SED-Führung einzuschleichen. Denn: Abschließende Reden von rissigen Bankrottverwaltern werden immer vom Feind geschrieben oder von Komödianten – derart somnambul wirken sie: Da wandelt immer einer über die Dachgiebel, aber alle denken nur: Dachschaden. So werden wohl auch Mubaraks Leute vorm Fernseher gesessen haben, als der längst Erledigte zwischen Weinerlichkeit und Hinterlist phrasierte.

Mubarak ist jüngster Lehrfilm, der zum offenen Hohn einlädt und doch gleichzeitig Erschrecken auslöst: dass wir so gern dem eingebildeten Gesetz der Unwahrscheinlichkeit folgen. Wie schwer es doch ist, eines Tages neben der eigenen Selbstbehauptungskraft zu stehen und zu begreifen, dass da gar nichts mehr zu behaupten ist. Wissen wir immer, wann es Zeit ist, aufzuhören, abzutreten, endlich still zu sein? Haben wir ein Gefühl dafür, nicht mehr am Platze zu sein? Sind wir uns der bitteren Tatsache bewusst, dass niemand seinen Zenit freiwillig überschreitet? Sind wir sensibel genug, eines klaren Augenblicks endlich aufzuhören mit Belehrung, Besserwissen, Bevormunden? Erahnen wir den Moment, da eine Zeit nicht mehr unsere Zeit ist? Kurz vorm Trainerrauswurf der besonders innige Treueschwur. In Rainer Simons verbotenem DEFA-Film »Jaduo und Boel« stürzt ein altes Haus in dem Moment zusammen, da der Bürgermeister eine neue Kaufhalle einweiht wie die endlich gefertigte neue Welt – der Einbruch des Seins in den schönen Schein: Schockstarre und in allen Funktionärsgesichtern der Wunsch, den Menschen rundum den klaren Blick zu verbieten. Dort wankt eine Überzeugung endgültig, wo sie mit stärksten Brusttönen beschworen wird. Ich sehe die Griesgrame des Thomas Bernhard vor mir: die eigene Weltsicht wie ein Geschütz auffahren, Dogmatik als Vernunft feiern. Jedes falsche Komma in der abonnierten Zeitung leserbriefbrüllend anprangern. Das eigene blöde Verwittern mit Weltuntergang verwechseln.

Schröder verstand keinen Spaß

Mubarak war die Umkehrung dieser Bernhard'schen Bösartigkeit mit gleichem Ziel: das Säuseln, grob überspitzt, als Watte gegen das Geknall der unbeugsamen Selbstsucht. Das Pathos der Vaterlandsliebe als letztes Kostüm für nackte Machtinteressen. Die Welt wird solche Reden auch in Zukunft immer wieder hören, und wird also immer wieder erleben, dass Neues angekündigt wird, wo doch nur ein alter Verkäufer fleckige Ladenhüter zu verkaufen versucht. Und politische Kunstfertigkeit besteht dann – in der obligaten Fernsehansprache – ein letztes Mal darin, den Anschein zu erwecken, die Wahrheit auszusprechen, die man in Wahrheit verschweigt. Dichter Günter Kunert: »Gartenzwerge dies, die mit letztem dumpfem Laut noch mal ihre schiefe Art anpreisen, bevor sie zu Stein werden, überall im Wege stehend, auf dem es sich besser ginge, zerschlüge man zu Schotter, was so lange so ehrfürchtig umhegt wurde von den ehrsamen Furchthegern.«

Vor Anflügen schützt nicht mal die Demokratie: Als Gerhard Schröder 2005 gegen Merkel verlor, verwandelte er sich im Fernsehen minutenkurz in den realitätstauben Protz eines sektbeschädigten Pfaus. Deutschland lachte darüber und vermutete Frank Elstner, aber Schröder verstand überhaupt keinen Spaß.

Gelungener, bleibender Beitrag des alten Ägypten zur unverwüstlichen Kultur des »Dinner for One«: die gleiche Prozedur wie beim letzten Machtwechsel. Oder um bei der Berlinale zu bleiben: Was ist die Vergabe eines Bären gegen die unheilbare Sucht, Bevölkerungen per Fernsehansprache, gleichsam schon auf der Flucht, doch noch einen Bären aufbinden zu wollen.

Ein Mubarak ging, aber wie er ging – bleibt davon nicht ein Teil in jedem Menschen?

* Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2011


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