Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Fragwürdige Übereinkunft

Geschichte. Selbstschutz oder Leichenfledderei? Am 17. September 1939 begann der Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen

Von Kurt Pätzold *

Am 22. September 1939 teilte der Bericht aus dem Oberkommando der Wehrmacht lakonisch mit: »Die Bewegungen der deutschen und russischen Truppen auf die vereinbarte Demarkationslinie vollziehen sich planmäßig und im besten Einvernehmen. Bei Lemberg wurden die dort kämpfenden deutschen Truppen durch russische Verbände abgelöst.« Die Nachricht besaß Neuwert, war aber im Stil so gehalten, als würde jeder, der sie zur Kenntnis nahm, über ein Vorwissen verfügen, das es ihm erlaubte, sie in einen größeren Zusammenhang einzuordnen: 1. Die Truppen der sowjetischen Armee hatten bereits begonnen, ein Gebiet Ostpolens zu besetzen. 2. Dies geschah aufgrund einer deutsch-sowjetischen Übereinkunft, die eine Demarkationslinie genannte Grenze bestimmt hatte, bis zu der die beiden Armeen jeweils vorrücken würden. 3. Die dazu notwendigen Truppenbewegungen liefen im gegenseitigen Kontakt ab. Die Vermutung lag nahe, daß das Geschehen auf Abmachungen zurückging, die schon vor Kriegsbeginn erfolgt waren, möglicherweise während des Besuchs von Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau im August 1939.

Tags darauf, am 23. September, wurde der »Zusammenfassende Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht über den Feldzug in Polen« veröffentlicht. Darin hieß es eingangs: »Nur Bruchteile einzelner (polnischer) Verbände konnten sich durch die Flucht in die Sumpfgebiete Ostpolens der sofortigen Vernichtung entziehen. Sie erliegen dort den sowjetrussischen Truppen.« Am folgenden Tag begann der Bericht so: »Die Bewegungen der deutschen Truppen auf der Demarkationslinie wurden auf der gesamten Ostfront planmäßig fortgesetzt.« Einen weiteren Tag später hieß es eingangs: »Im Osten vollzogen sich die Bewegungen der deutschen Truppen auf die Demarkationslinie am 24. September reibungslos und im Einvernehmen mit den russischen Verbänden.« Die Fortsetzung dieser »planmäßigen Bewegungen« wurde am 26. September an die Spitze des Berichts gestellt. Und am 27. September wurde mitgeteilt: »Im Osten nähern sich unsere Truppen der mit der Sowjetregierung vereinbarten Demarkationslinie.« Tags darauf begann der offizielle Text: »Im Osten haben unsere Truppen die Demarkationslinie planmäßig überschritten.« Weniger einsilbig wurde das Geschehen in der folgenden Verlautbarung dargestellt: »Im Verlauf der planmäßigen Bewegung über die Demarkationslinie wurde am 28. September Przemysl-Süd durch den deutschen Kommandanten in feierlicher Form an die russischen Truppen übergeben.«

Die Berichte der folgenden vier Tage ließen das Thema aus. Dann wurde am 4. Oktober vom Geschehen so berichtet: »Im Osten kam es bei der Säuberung des Gebietes zwischen der bisherigen Demarkationslinie und der neu festgesetzten deutsch-russischen Interessengrenze noch zu Kämpfen mit versprengten Teilen polnischer Truppen.« In immer wiederkehrenden Formulierungen gab das Oberkommando am 9., 10., 11., 12. und 13. Oktober 1939 deutsche Truppenbewegungen zur nun »Interessengrenze« geheißenen Linie bekannt, wobei offenblieb, ob die Wehrmachtseinheiten diese von Westen her erreichten oder sich von schon eroberten, weiter östlich gelegenen Gebieten auf sie zurückzogen. Am 14. Oktober verlautete, »die Besetzung der letzten Abschnitte am Bug« sei abgeschlossen. Zwei Tage später erklärte das Oberkommando, »nachdem die Truppenbewegung zur Besetzung des deutschen Interessengebietes beendet sind«, werde die Berichterstattung »über den Osten« nun eingestellt. Aus all diesen Informationen ließ sich nur eine ungefähre Vorstellung vom Verlauf der in Teilen noch einmal korrigierten Linie gewinnen, bis zu der die Truppen der beiden Staaten vorgerückt waren.

Interessensphären

Was sich in dem knappen Monat zwischen der September- und der Oktobermitte in Ostpolen ereignet hatte, war – wie vermutet – zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion durch deren Außenminister am 23. August 1939 vereinbart worden. Das darüber verfaßte diplomatische Papier hatte, da es gemeinsam mit dem Nichtangriffsvertrag unterzeichnet wurde, die nichtssagende Bezeichnung »Geheimes Zusatzprotokoll« erhalten. Die so entstandenen Dokumente verschwanden in Tresoren in Berlin und Moskau. Einleitend war darin festgestellt worden, daß die Übereinkunft nach »streng vertraulicher Aussprache« zustande gekommen sei. Und als ob dies nicht genügte, wiederholte der letzte, vierte Punkt des Textes: »Dieses Protokoll wird von beiden Seiten streng geheim behandelt werden.« Diese Versicherung war im Grunde überflüssig, denn keine der beiden Seiten konnte jetzt oder später ein Interesse haben, daß sein um jedes Völkerrecht unbekümmerter Inhalt bekannt wurde.

Im Text hatten Hitlerdeutschland und Sowjetunion ihre »beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa« voneinander abgegrenzt. Das geschah gleichsam über die Köpfe von sechs osteuropäischen Staaten hinweg die von dieser Abmachung auf unterschiedliche Weise betroffen sein würden: Polen, die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Finnland und Rumänien. Die »Abgrenzung« war nicht im Vorausblick auf sich eventuell ergebende künftige Situationen vorgenommen worden. Sie verband sich vielmehr mit zeitlich nahen Absichten und Plänen beider Vertragsseiten. Diese apostrophierten die Autoren so: Ausdrücklich benannten sie den »Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staat gehörenden Gebiete«. Der gemiedene Klartext würde besagt haben: »Wenn Deutschland demnächst Polen mit Krieg überzieht und erobert (…)«, worauf die Fortsetzung gelautet hätte; »dann wird es nicht ganz Polen okkupieren, sondern dessen Gebiet nur bis zu einer Grenzlinie«, die ungefähr entlang der »Linie der Flüsse Pissa, Narew, Weichsel und San« verläuft.

Im Vertragstext hieß es daran anschließend: »Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden.« Zu gegebener Zeit würden beide »Regierungen diese Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen«.

Die Machthaber der UdSSR ließen sich mit einem Aggressor, der sich auf dem Sprung befand, auf eine Vereinbarung ein, die keine andere Interpretation erlaubte, als daß in ihr das Todesurteil über den Staat gefällt wurde, dessen Bewohner Opfer der Eroberer werden würden. Denn daß den deutschen Machthabern ein Interesse an der Wiedererrichtung dieses Staates erwachsen werde, war auszuschließen. Und gleiches galt für die Regierenden im Kreml. Sie würden nicht bereit sein, das Territorium zur Neuschaffung eines polnischen Staates herzugeben, auf das sie nach ihrer militärischen Niederlage im Frieden von Riga 1920 hatten verzichten müssen.

Auch wenn eine deutsche Expansion in Richtung Baltikum nicht gleichermaßen bevorstand, verständigten sich beide Seiten auch über dieses Gebiet »für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung«. Litauen sollte den deutschen, Finnland, Lettland und Estland den sowjetischen Interessen anheimgegeben werden. Schließlich meldete der Kreml sein Interesse am rumänischen Bessarabien an, während das Deutsche Reich auch da sein Desinteresse zu den Akten gab. Dieses Protokoll atmete den giftigen Odem zweier Großmächte, die sich über die Existenz ihrer kleineren Nachbarn nach Art von Imperialisten rigoros hinwegsetzten.

Nun also gar Freundschaft?

Daß die deutschen Politiker, Ribbentrop und sein Stab, von Hitler zu schweigen, mit diesem Text keine Schwierigkeiten hatten, zumal sie ihre darin dem Partner gewährten Zugeständnisse nur als zeitweilige ansahen, kann bis heute nicht überraschen. Anders im Fall der Sowjetunion, die mit diesem Abkommen eine neue Seite ihrer Außenpolitik zunächst insgeheim schrieb und bald darauf öffentlich zu praktizieren begann. Und mit den Papieren des 23. August war erst der einleitende Schritt getan worden. Die Fortsetzung erfolgte am 28. September 1939, als Ribbentrop seinen zweiten Besuch in Moskau machte.

Diesmal geschah es zur Unterzeichnung eines Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags. Sein Text bezeichnete die militärische Zertrümmerung Polens und seine Aufteilung in besetzte Gebiete euphemistisch als »das Auseinanderfallen des bisherigen polnischen Staates«. Von einem künftigen polnischen war keine Rede mehr, wohl aber von einer »staatlichen Neuregelung«, die beide Staaten nach eigenen Entscheidungen vornehmen würden, was nichts anderes besagte als die dauerhafte Zementierung der Annexionen. Beide Staaten würden das Leben der in ihre Gewalt gefallenen Menschen bestimmen, eine Ankündigung, die mit einigen wohltätigen Phrasen verkleidet war. Einig erklärten sich die Unterzeichner auch in der Ablehnung jeder Einmischung dritter Staaten.

Die Interessengrenze, die im August bestimmt worden war, dann aber insofern korrigiert wurde, als Litauen der sowjetischen Einflußsphäre zugeteilt worden war, wurde als endgültig bezeichnet. Abschließend stellten die Unterzeichner fest, die von ihnen getroffenen Regelungen seien »ein sicheres Fundament für eine fortschreitende Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihren Völkern«. Auch dieses Abkommen erhielt ein Zusatzprotokoll, das nach weiteren Verhandlungen erst am 4. Oktober fertiggestellt war und vom deutschen Botschafter Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg und vom sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow unterzeichnet wurde. Auf mehreren Seiten legte es den veränderten Verlauf der nunmehrigen Staatsgrenze bis in die Details fest.

Hohle Friedensbeteuerungen

Weitreichender noch aber war eine Erklärung der deutschen und der sowjetischen Regierung, die gemeinsam mit der Vertragsunterzeichnung vereinbart und veröffentlicht worden war. In ihr beteuerten sie ihr Interesse, den Krieg zu beenden, wobei beide davon ausgingen, daß sich Großbritannien und Frankreich mit der Auslöschung des ihnen verbündeten Polen abfinden, also so etwas wie eine Totalkapitulation vollziehen würden. Berlin wie Moskau, wurde erklärt, würden ihre Bemühungen, womöglich mit weiteren Staaten, fortsetzen, das Ende des »Kriegszustandes« zu erreichen. Sollte ihnen das nicht gelingen, dann sei »die Tatsache festgestellt (…), daß England und Frankreich für die Fortsetzung des Krieges verantwortlich sind«. In diesem Fall würden sich die Regierung Deutschlands und der UdSSR »gegenseitig über die erforderlichen Maßnahmen konsultieren«. Diese Erklärung besaß den Charakter einer propagandistisch-demagogischen Dienstleistung der Kremlführung für ein Regime, das sie doch über Jahre rechtens als friedensgefährdend, aggressiv und expansionistisch beurteilt und bezeichnet hatte und gegen das die UdSSR, wenn auch vergeblich, versucht hatte, eine abschreckende internationale Staatenfront zu formieren.

In Wahrheit fehle den Führern im Kreml wie denen in der Reichskanzlei jedwedes Interesse an der Beendigung des Krieges, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Hitler und seine Clique, nachdem sie Polen leicht besiegt hatten, suchten ihren Rüstungsvorsprung und ihre neugewonnene Kriegserfahrung in einem siegreichen Feldzug im Westen einzusetzen. Der »Führer« drängte, ihn noch 1939 zu beginnen. Und Stalin wie sein Politbüro konnten darauf rechnen, wurde der Krieg in Westeuropa fortgesetzt, eine verlängerte Friedensperiode zu gewinnen, vor einem deutschen Angriff relativ sicher zu sein und ihre Neuordnung in Osteuropa ungestört vornehmen zu können. Namentlich Stalin überschätzte diese Sicherheit, was keine zwei Jahre später Millionen seiner Soldaten mit dem Leben bezahlten.

Langes Schweigen in Moskau

Keiner der auf sowjetischer Seite Hauptverantwortlichen für die Verträge, die im September und Oktober 1939 von der Sowjetunion mit dem faschistischen Deutschland geschlossen wurden – das waren Stalin und Molotow in Gemeinschaft mit den anderen Mitgliedern des engsten Führungszirkels –, hat sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg zu seiner Entscheidung geäußert. Niemand verspürte den Drang oder gar die Pflicht, sich den Millionen von Kommunisten in aller Welt zu erklären, die es für gänzlich ausgeschlossen gehalten hatten, daß das Sowjetland, das ihnen auch als ein von humanistischen Prinzipien geleitetes Gemeinwesen galt, sich zu einem freundschaftlichen Verhältnis mit jenem Deutschland erklärte, das ihnen zu recht als Staat der Konzentrationslager und der Fallbeile, als Mörder vieler ihrer Genossen galt.

Nach dem Sieg über das faschistische Deutschland und dessen Verbündete wurde in der sowjetischen Geschichtspropaganda das Nichtangriffsabkommen vom 23. August 1939 (von den anderen Abmachungen war kaum die Rede, und die Existenz von Zusatzabkommen wurde abgestritten) als weiser, wenn nicht genialer diplomatischer Schachzug gewertet. Die UdSSR habe mit der Vereinbarung Zeit für weitere Rüstungen und damit für die Vorbereitung auf ihre Gegenwehr 1941 gewonnen. Vorteil sei ihr auch aus der Vorverlegung ihrer Grenze nach Ostpolen zugewachsen, denn sie habe zusätzliche Räume zur Verteidigung gegen den faschistischen Angriff gewonnen.

Der Verlauf der ersten sechs Monate des deutsch-sowjetischen Krieges stützt diese Behauptungen nicht. Und selbst wenn er das täte, bleiben zwei Fragen: Was zwang die Sowjetunion, sich mit diesem Deutschland auf die Liquidierung des polnischen Staates zu verständigen? War das ein nicht zu verweigernder Preis? Und – zweitens – was zwang die Sowjetunion, Deutschlands Gegnern Frankreich und Großbritannien die Schuld an der Weiterführung des Krieges zuzuschreiben? War das auch ein zu entrichtender Preis für den erstrebten Zeit- und Friedensgewinn? Oder war das nicht eine Überzahlung? Oder eine Rückversicherung? Und wenn ja, wer hat sie geboten oder wer verlangt? Molotow hatte bis zu seinem Tode im Jahr 1986 41 Jahre Zeit, sich zu derlei Fragen zu äußern.

Mehr noch: Jahrzehnte lang wurde von sowjetischer Politik und Geschichtsschreibung die Existenz des »Zusatzprotokolls« geleugnet oder in den sowjetischen Akten als nicht auffindbar erklärt. Dabei war dessen Existenz indirekt längst dadurch erwiesen, daß das, was nach dem 17. September 1939 nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen geschah, nicht ohne Verständigung zwischen Berlin und Moskau denkbar war. Und seit 1945 war das Geheimnis gelüftet und sein vollständiger Text bekannt. Ein Exemplar des diplomatischen Papiers war in den Beständen des deutschen Auswärtigen Amtes US-amerikanischen Fahndern, die Beweisstücke für die Anklage der deutschen Kriegsverbrecher suchten, als Kriegsbeute in die Hände gefallen. Daß sich die Regierungen in Moskau, wie immer sie wechselten, erst ein halbes Jahrhundert danach zur Wahrheit bekannten, hatte sowjetische Historiker namentlich auf internationalen Konferenzen in groteske Lagen gebracht. Und mit ihnen jene Kollegen in den verbündeten osteuropäischen Staaten, die sich an diese sowjetische Vorgabe hielten.

Profiteure im Kalten Krieg

Es hat diese Verweigerung der einfachen Wahrheit vor allem jenen geholfen, die den August-Vertrag für ihre politischen und die Zwecke eigener Geschichtsfälschung benutzten. Das geschah auf zweierlei Weise. Zum einen wurde mit Verweis auf den Vertrag der UdSSR eine Mitverantwortung für die Entstehung des Zweiten Weltkrieges angelastet. Mit ihm hätte sie den deutschen Faschisten »grünes Licht« für deren Kriegseröffnung geliefert. Wie hingegen deutsche Dokumente belegen, war der Entschluß, Polen bald zu überfallen – ohne Rücksicht auf das mögliche Eingreifen der Westmächte – zu einem Zeitpunkt gefallen, als an den deutsch-sowjetischen Vertrag noch nicht zu denken war. Am 23. Mai 1939 hatte »der Führer« ihn einem ausgesuchten Kreis von Militärs eröffnet. Von der Rolle der Sowjetunion war in diesem Zusammenhang nicht einmal en passant die Rede gewesen.

In diesem Frühjahr 1939 jedoch schien es noch eine Alternative zum Weg in einen europäischen Krieg zu geben. Die knüpfte sich an die von der Sowjetunion in dem Moment ergriffene Initiative, als die deutschen Faschisten die Tschechoslowakei liquidierten und die Münchener Politik ein Scherbenhaufen war. Da unterbreiteten die sowjetischen Diplomatie und ihr damaliger Chef Maxim Litwinow den Vorschlag, es möchten sich die europäischen Großmächte der von dem Deutschen Reich ausgehenden Gefahr gemeinsam mit bedrohten kleineren Staaten entgegenstellen. Der Kreml unternahm den Versuch, die Politik der kollektiven Sicherheit zu reanimieren. Doch kam es nicht zu den nötigen Verhandlungen auf höchstem, also entscheidungsbefugtem politischen Niveau. Die Kontakte wurden einzig auf einer vorfühlenden niederen Ebene zwischen Militärdelegationen hergestellt, die nach Moskau entsandt wurden. Die Verhandlungen schleppten sich ergebnislos hin. Damals hätten die Westmächte jene Frontstellung haben können, die nahezu zwei Jahre später in Gestalt der Antihitlerkoalition entstand. Und das ging dann auf Entscheidungen zurück, die ihren Ursprung in Berlin hatten, das seinen Krieg auf die UdSSR ausweitete.

Kurzum: Die Chance zur Bildung einer den deutschen Aggressor abschreckenden Front war vertan worden. Die Sowjetunion sah sich damit dem Zwang ausgesetzt, ihre Außenpolitik allein auf sich selbst und ihre eigenen Entschlüsse zu stellen. Da sie in einer Staatengemeinschaft, die dafür notwendig gewesen wäre, den Krieg nicht zu verhindern vermocht hatte, lag die Alternative nahe, alles zu tun, aus ihm herauszubleiben. Untätigkeit, Abwarten und Stillhalten bildeten dafür keine geeignete Methode. So begann eine neue Etappe der sowjetischen Außenpolitik, die in den Vertrag vom 23. August mündete. Sie war nicht aus freien Stücken gewählt. Soweit dem eigenen Lande auf diese Weise Frieden gesichert wurde, wenn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit nur für eine kurze Zeit, brauchte und braucht diese Strategie keine Rechtfertigung.

Doch darin erschöpfte sie sich nicht. Sie verband sich mit völkerrechtswidrigen, eigene Expansionen vorsehenden Abmachungen. Das machte sie nicht nur kritikwürdig, sondern verwerflich. Indessen begründete sie unter keinem Gesichtspunkt einen sowjetischen Anteil an der Kriegsschuld. Das Bild vom grünen Licht für einen deutschen Kriegszug fällt, in der Sprache des Volksmundes und der Juristen, in die Kategorie der üblen Nachrede, in der von Historikern benutzten in die der Geschichtsfälschung.

Die zweite Methode propagandistischer Ausbeutung besteht in der These vom Bündnis zweier Diktatoren oder Diktaturen, das aufgrund ihrer vorgeblichen Wesensverwandtschaft zustande gekommen wäre. Damit seien die Bösewichte ermittelt, die als Kriegsschuldige zu gelten haben. Den Vertrag schwingen bis auf den heutigen Tag Antikommunisten aller Zungen als gebräuchlichsten ihrer Knüppel, dem sie die Aufschrift »Hitler-Stalin-Pakt« gegeben haben. Und so lernen Heranwachsende hierzulande aus Schulgeschichtsbüchern, daß Stalin mit dem Vertrag hoffte, Hitler in einen vernichtenden Krieg mit dem Westen zu treiben.

* Aus: junge Welt, Dienstag 16. September 2014

Lesen Sie auch:

Die letzte Alternative
Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag unterzeichnet. Von Kurt Pätzold (25. August 2014)




Zurück zur Kriegsgeschichte-Seite

Zur Kriegsgeschichte-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Polen-Seite

Zur Polen-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Russland- bzw. Sowjetunion-Seite

Zur Russland- bzw. Sowjetunion-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Deutschland-Seite

Zur Deutschland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage