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Über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten

Von Jan van Aken *


Die Partei DIE LINKE will im Herbst 2011 ein Grundsatzprogramm beschließen, über dessen ersten Entwurf derzeit diskutiert wird. Am kommenden Sonntag, 7. November, findet ein bundesweiter Programmkonvent in Hannover statt. Anschließend soll eine Redaktionskommission einen überarbeiteten Entwurf vorlegen. ND begleitet die Debatte bis zu dem Konvent mit einer Artikelserie. Heute erscheint der letzte Beitrag in dieser Serie: Jan van Aken plädiert dafür, dass die LINKE an ihrer prinzipiellen Ablehnung von bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr nach Kapitel VII der UN-Charta festhält. Es dürfe nicht zwischen »guten« und »schlechten« Kampfeinsätzen unterschieden werden. Der Leiter des Arbeitskreises Internationale Politik und stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag hat von 2003 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen gearbeitet.


Die LINKE ist sich einig: Wir sind die Partei des Friedens. Wir lehnen Kampfeinsätze der Bundeswehr ab. Punkt. Dafür würden auf jeder Ortsversammlung und jedem Parteitag gefühlte 150 Prozent unserer Mitglieder stimmen. Und gerade das Friedensthema ist für sehr viele LINKE eine echte Herzensangelegenheit, bei der die Emotionen hochkochen und die Einsatzbereitschaft besonders groß ist. Beim Frieden kennen wir keine Kompromisse.

Das Problem ist nur, dass die Partei sich oft nicht einig ist, wenn es um die Details geht – wichtige Details, die im wirklichen Leben eine ganz reale und entscheidende Rolle spielen können. Sollen Bundeswehrsoldaten im Sudan stationiert werden, um dort den Nord-Süd-Friedensprozess abzusichern? Sollen die Vereinten Nationen eine Küstenwache am Horn von Afrika organisieren, um an Stelle der NATO und der EU dort den Schiffsverkehr zu sichern? Mit diesen Fragen sind wir als Bundestagsfraktion konfrontiert, und hier werden immer wieder Differenzen innerhalb von Fraktion und Partei offenbar.

Eines vorweg: Das hat nur manchmal etwas mit der Frage »Regieren oder Opponieren?« zu tun. Ich persönlich hätte zum Beispiel kein prinzipielles Problem mit einer Regierungsbeteiligung der LINKEN, würde aber sehr rigide und klar definierte Grenzen für Auslandseinsätze ziehen. Es ist also weniger eine taktische Diskussion als eine von Weltanschauung und unterschiedlichen politischen Linien geprägte.

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen oft die Kapitel VI und VII der Charta der Vereinten Nationen. Das Kapitel VI der UN-Charta trägt die Überschrift: »Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten« (vielleicht sollten wir der Satzung der LINKEN auch mal ein solches Kapitel anfügen?). Vereinfacht gesagt sind Einsätze nach Kapitel VI Blauhelm-Einsätze, bei denen die UN-Truppen nicht in einem Krieg oder Konflikt kämpfen, sondern – in der Regel nach einem Krieg – mit Zustimmung aller Beteiligten den Friedensprozess unterstützen [1]. Dazu gehört zum Beispiel die Überwachung eines Waffenstillstands, die Entwaffnung von ehemaligen Kriegsparteien mit deren Zustimmung oder die Kontrolle von entmilitarisierten Zonen. Gewalt darf dabei von UN-Kräften ausschließlich zur eigenen Selbstverteidigung angewandt werden. Auch die Blauhelme werden unterschiedlich gesehen in unserer Partei: Persönlich habe ich kein Problem mit solchen Blauhelm-Einsätzen (war ich doch früher bei den Vereinten Nationen selbst mal eine Blaumütze), aber es gibt auch Stimmen in der Partei, die grundsätzlich gegen jede Art von Auslandseinsätzen sind – auch gegen diese.

In Kapitel VII der UN-Charta geht es demgegenüber um den Einsatz bewaffneter Truppen zur »Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens«. Erlaubt ist dabei auch, so wörtlich in Artikel 46, die »Anwendung von Waffengewalt« – auch über die Selbstverteidigung hinaus.

DIE LINKE hat sich wiederholt gegen solche Einsätze ausgesprochen. Doch nicht immer so klar und eindeutig, wie manche glauben und wie es auch erforderlich wäre: Denn mal lehnen wir »Kampfeinsätze mit Berufung auf Kapitel VII« ab (Programmatische Eckpunkte), mal »Auslandskriegseinsätze« (Bundestagswahlprogramm), ohne dass diese Begriffe klar definiert sind.

Genau das hat auch zu dem unterschiedlichen Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktion in Sachen Sudan geführt. Im Juli dieses Jahres haben sich 25 Abgeordnete unserer Fraktion bei der Abstimmung zum Bundeswehreinsatz im Süd-Sudan enthalten, obwohl es sich um einen Einsatz der Bundeswehr nach Kapitel VII der UN-Charta handelt. Ein Argument war, dass die Bundeswehr dort nicht kämpft und es sich nicht um einen Kriegseinsatz handelt.

Ich halte das für einen großen Fehler. Der UNO-Einsatz im Süd-Sudan (UNMIS) erfolgt zumindest in Teilen nach Kapitel VII – so steht es wörtlich in der Resolution des UN-Sicherheitsrates und im Mandat des Bundestages. Dort wird der Einsatz von Gewalt über die Selbstverteidigung hinaus eindeutig genehmigt, unter anderem zum Schutz von Zivilpersonen. Letzteres mag naive Gemüter zu dem Glauben verführen, ein solches Mandat könne akzeptiert oder zumindest toleriert werden. Doch wenn wir erst einmal anfangen, zwischen »guten« und »schlechten« Kampfeinsätzen zu unterscheiden, werden wir es früher oder später nur den Grünen und der SPD nachmachen, die mit den hanebüchensten Begründungen noch jeden Kampfeinsatz rechtfertigen.

Zwar gleicht der Einsatz von einer Handvoll Bundeswehrsoldaten im Süd-Sudan momentan eher einem Blauhelm-Einsatz. Bislang waren die Soldaten dort auch nicht in Kämpfe verwickelt. Es ist jedoch völlig falsch, die Abstimmung über ihr Mandat davon abhängig zu machen, wie dieses Mandat derzeit umgesetzt wird. Entscheidend ist doch, was das Mandat zulässt – die Situation im Sudan kann in kürzester Zeit eskalieren und die UNMIS-Soldaten können schon bald aktiv in Kämpfe verwickelt sein.

Auch dass die UNO seit Jahren nur noch Blauhelm-Einsätze verabschiedet hat, die ganz oder teilweise auf Kapitel VII beruhen, darf kein Grund dafür sein, dem einen oder anderen Einsatz nach Kapitel VII zuzustimmen, weil er ja »irgendwie« ganz friedlich und »eigentlich« wie ein Kapitel VI-Einsatz verläuft. Wenn eine gewaltfreie Blauhelm-Mission sinnvoll ist, dann soll sie auch eindeutig nach Kapitel VI mandatiert werden und damit Kampf- oder Kriegseinsätze definitiv ausschließen.

Was lehrt uns das? Erstens müssen wir in der Debatte um Auslandseinsätze der Bundeswehr präziser werden. Begriffe wie »Kriegs«- oder »Kampfeinsätze« und unsere roten Linien müssen klarer definiert werden. Ich persönlich bin dafür, grundsätzlich jeden Einsatz nach Kapitel VII abzulehnen, ohne dass er noch diffus als »Kriegseinsatz«, »Kampfeinsatz« oder sonstwie qualifiziert werden muss.

Auf dieser Basis kann auch die Debatte um Auslandseinsätze von taktischen Überlegungen zur Frage der Regierungsbeteiligung freigehalten werden. Falls sich diese Frage 2013 oder 2017 tatsächlich stellen sollte, wird es konkret um die laufenden Auslandseinsätze der Bundeswehr gehen. Mit Ausnahme von UNMIS sind wir uns alle einig, dass es eine Regierungsbeteiligung nur geben kann, wenn diese Einsätze sofort beendet werden. Mit trennscharfen »roten Linien« zu Kapitel VI und VII gilt es, diesen Konsens auch hinsichtlich UNMIS (wieder) zu vervollständigen. Egal, worüber mit SPD und Grünen je verhandelt werden sollte: In der Friedensfrage darf und wird es keine faulen Kompromisse mit der LINKEN geben.

Eine andere Kontroverse in der Fraktion betrifft internationale Polizeieinsätze. In vielen Punkten sind wir uns einig: So finden wir die Ausbildung von Polizeikräften im Ausland prinzipiell in Ordnung – aber nur in engen Grenzen. Es muss ausgeschlossen sein, dass Polizisten in einem laufenden bewaffneten Konflikt bzw. Krieg ausgebildet werden. Das geschieht derzeit in Afghanistan, wo Afghanen zu Polizisten ausgebildet, aber faktisch wie Soldaten im Krieg eingesetzt werden – meist als schnell verheiztes Kanonenfutter. Ebenfalls muss ausgeschlossen sein, dass Deutschland Polizisten für undemokratische oder menschenrechtsverletzende Regimes ausbildet oder paramilitärische Polizeiapparate unterstützt.

Kontrovers diskutieren wir jedoch Auslandseinsätze deutscher Polizisten in »operativer« Mission, also in unmittelbarer Polizeifunktion. Ganz konkret wird die Frage bei der Piraten-Bekämpfung vor Somalia. Wir als LINKE sind geschlossen gegen den Bundeswehreinsatz dort (die Mission ATALANTA), haben aber in der Vergangenheit eine UN-Küstenwache vor dem Horn von Afrika für den Schutz der zivilen Schifffahrt vorgeschlagen. In Deutschland ist die Küstenwache Polizeiaufgabe, insofern wäre das ein operativer Polizeieinsatz.

Einerseits ist es richtig, dass das Piraterieproblem nicht polizeilich oder militärisch gelöst werden kann. Es gibt viele Ursachen für die Piraterie, nicht zuletzt der illegale Fischfang europäischer Flotten vor den Küsten Somalias. Insofern kann das Problem tatsächlich nur langfristig und politisch gelöst werden.

Andererseits ist es den gekidnappten Seeleuten wohl herzlich egal, wo die tieferen Ursachen des somalischen Konfliktes liegen. Ihnen muss hier und jetzt praktisch geholfen werden. Wir als Partei des Völkerrechts können dieses Problem nicht einfach aussitzen, Rechtsbrüche ignorieren und auf eine grundsätzliche Lösung in ferner Zukunft verweisen. Wir haben auch die Verpflichtung, dem Völkerrecht – hier: dem Piraterieverbot – Geltung zu verschaffen. Da ist der nicht-militärische Einsatz einer Küstenwache, unter Kontrolle der UNO und damit befreit von möglichen nationalstaatlichen Partikularinteressen, eine denkbare Lösung.

All diesen Fragen müssen wir uns als Fraktion und als Partei frei von taktischen Vorbehalten stellen, denn sie können im wahrsten Sinne des Wortes kriegsentscheidend sein: Es geht darum, ob wir jetzt Entscheidungen fällen, die eine schleichende Entwicklung hin zur Befürwortung von Kriegseinsätzen möglich machen oder nicht. Wenn wir nicht wie SPD und Grüne als Bettvorleger der Bundeswehr enden wollen, müssen wir unsere friedenspolitischen Grundsätze unmissverständlicher formulieren – in der tagespolitischen Arbeit ebenso wie in unserem Grundsatzprogramm.

[1] Wer es komplizierter (und präziser) möchte: Bisher gibt es keine Mandate, die sich formalrechtlich explizit auf Kapitel VI berufen. Neben den sog. »friedenserzwingenden« (peace enforcing) Einsätzen nach Kapitel VII gibt es »friedenserhaltende« (peace keeping) Einsätze, die außerhalb der Charta »zwischen« Kapitel VI und VII geschaffen wurden – sozusagen nach »Kapitel sechseinhalb« (Dag Hammarskjöld). Ihr Hauptmerkmal ist die einverständliche Regelung mit den Konfliktparteien ohne Zwangsmittel. Ein Beispiel ist die UNFICYP-Mission auf Zypern.

* Aus: Neues Deutschland, 1. November 2010


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